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Anna Q und das Erbe der Elfe
Anna Q und das Erbe der Elfe
Anna Q und das Erbe der Elfe
eBook311 Seiten4 Stunden

Anna Q und das Erbe der Elfe

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Über dieses E-Book

Beryl erschrickt, als ihre Schüler nach draußen stürmen und im Schnee toben. Obwohl nur wenig Schnee auf dem Boden liegt, fliegen bereits die ersten Schneebälle. SCHNEE!
Seit Jahrzehnten hat es im Elfenwald nur eine Jahreszeit gegeben: Frühling!
Aber nicht nur in der Anderswelt scheint das Wetter verrücktzuspielen. Annas Vater Aedan hat vom Rückgang des Eises in den Polarregionen berichtet. Ist der heftige Wintereinbruch ein Beweis für den Klimawandel, aber anders als erwartet?

Anna bekommt zum 12. Geburtstag vom Vater eine Kette mit Anhänger geschenkt. Sie gehörte einst ihrer Mutter. Von den Abenteuern im Andersland berichtet sie ihm nicht. Sie befürchtet, er könne ihr die Reisen dorthin verbieten.
Obwohl dort gerade auf ein kleines Mädchen große Gefahren lauern, hätte er das nicht, sondern Anna von einer unbekannten Seite ihrer Mutter Lapis berichtet.

Hoch im Norden der Anderswelt wächst die Eis- und Schneedecke zu ungeahnten Dimensionen heran und breitet sich unaufhaltsam aus. Ainoa bitte Anna um Hilfe. Gemeinsam suchen sie nach der Ursache für die ständig zunehmende Ausdehnung des Eises. Dabei erfährt das Mädchen Erstaunliches.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum3. März 2020
ISBN9783750226401
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    Buchvorschau

    Anna Q und das Erbe der Elfe - Norbert Wibben

    Ein Portal

    Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an

    Ein breites Lächeln zieht über das Gesicht Siegfried Backs. Noch vor Tagen hatte er sich nichts mehr gewünscht, als wieder in die Welt zurückkehren zu können, in der er aufgewachsen ist. Er wollte erneut die Orte damaliger Triumphe, aber besonders die von Niederlagen aufsuchen, um sich an seinen vermeintlichen Peinigern zu rächen, bevor er mit Hilfe der Drachen die Herrschaft im Land übernehmen wollte. Die magischen Sprüche Iain Ravens, die er aus dessen Kladde abliest, werden ihm schließlich den Wechsel zurück ermöglichen, ist er überzeugt, trotz vieler Fehlversuche seit letztem Herbst. In der Anderswelt hat er den Ort auf einer der nördlichen Inseln besucht, der dort nur ein kleiner, verschlafener Fischerort ist. Sogar der große Kirchenbau fehlte, den er in seiner Welt als Kind schon aus weiter Ferne erblicken konnte. Er ist gespannt, ob ihn einige der Einwohner mit Informationen versorgen werden, wenn er sich nach den Jungen und Mädchen der Kindheit erkundigt. Die könnten bereits vor Jahren fortgezogen sein oder er scheitert an der Verschlossenheit der Insulaner, die Fremden gegenüber schon immer skeptisch begegneten.

    Ein frischer Wind bläst Siegfried Back ins Gesicht. Sein dunkler Umhang bauscht sich, zerrt heftig an der Gestalt des düster blickenden Mannes. Das Kleidungsstück kann ihn nicht gegen den kalten Regen schützen, das besorgt ein Zauberspruch. Ein weiterer verhindert, dass das Auftreffen des Wassers auf den Schutzschirm diesen andauernd zum Aufleuchten bringt. Lediglich ein guter Beobachter würde bemerken, dass weder die Haare des Mannes noch der Stoff seiner Kleidung nass werden. Das hätte zu Unverständnis und unzähligen Spekulationen geführt oder abergläubische Reaktionen hervorgerufen.

    Der Cythraul besucht zum wiederholten Mal den größeren der auf der Insel vorhandenen zwei Steinkreise. Gedankenverloren meint er, seine Mutter an der Seite zu haben. Siegfried horcht mit freudigem Lächeln auf, sollte das soeben ihre Stimme gewesen sein? Sein Kopf fährt hoch und die Augen suchen nach ihr. Dort, zwischen diesen zwei Steinplatten ist doch etwas! Stammt der Schatten von ihr, den er zu sehen glaubt? Siegfried hastet dorthin, wird jedoch vom Blöken eines Schafes empfangen. Er wischt sich über die Augen und versucht, vernünftig zu bleiben.

    »Mutter ist seit Jahren tot. Sie wurde in der Universitätsstadt begraben, da kann sie unmöglich hier herumlaufen.« Diese Gedanken sagt sich Siegfried immer wieder. Er schüttelt das Gefühl ab, ihr Geist könne ihm einen Streich spielen. »Das ist absolut unmöglich!«

    Er vermutete bisher, der Steinkreis sei ein besonderer Ort. Er meinte sogar, bei jedem neuen Besuch, starke Kraftlinien zu spüren. Sie müssen von magischen Kräften stammen, die ihm bei der Rückkehr in seine Welt helfen werden. Doch bisher waren alle Versuche vergeblich. Ob das doch an den fehlenden Haselbüschen liegt?

    Der Cythraul beschließt nach unzähligen vergeblichen Versuchen, auf dieser Insel einen Weg, eine Art Übergangsportal zwischen den Welten entstehen zu lassen. Dabei werden die Notizen Iain Ravens über die Schaffung des Zauberwaldes nützlich sein. Wenn dem Schulleiter eines Internats gelungen ist, etwas derart Verzwicktes zu verwirklichen, muss es ihm doch ebenso möglich sein. Dann müsste er zukünftig nicht erst nach Haselbüschen oder anderen magischen Orten suchen.

    Seid Greif hat auch schon genaue Vorstellungen davon, wie dieser erste Stein zur Erreichung der Herrschaft in zwei Welten aussehen soll. Es jedoch in der Nähe eines der Steinkreise zu errichten, wäre nicht klug. Sie gelten als mystische Stätten und werden sogar hier in der Anderswelt von Menschen und Elfen besucht. Sie könnten versucht sein, das Portal zu verändern oder es gar zu zerstören. Er weiß, dass gerade Menschen manchmal derartige Dinge tun, ohne einen Grund dafür zu haben. Das hat er selbst schon unzählige Mal getan! Nein, der Aufstellungsort muss für die Allgemeinheit unzugänglich sein!

    Sein Blick schweift suchend umher, als der Regen plötzlich aufhört. Die Sonne bricht durch die vorhin noch geschlossene Wolkendecke und erhellt einen Berg. Von einer Stelle in seiner zerklüfteten Flanke wird das Licht reflektiert und weckt das Interesse des Cythrauls. Er nutzt den magischen Sprung und betrachtet den Ort aus der Nähe. Was er sieht, gefällt ihm derart gut, dass er sich den Platz genauestens einprägt. Dadurch wird es ihm möglich, jederzeit und fast im Schlaf, die Stelle wiederzufinden. Das ist wichtig, denn hier will er das Übergangsportals errichten. Sofort macht er sich mit Hilfe der Kladde Iain Ravens ans Werk.

    Er murmelt Zaubersprüche, die die Luft knistern lassen. Blitze zucken über den grauen Himmel und Donner grollen. Doch all das stört den Zauberer nicht. Er fährt konzentriert mit den Beschwörungen fort. Wenn sein Werk geschafft und die gewünschte Funktion aktiviert ist, will er sofort zurück in seine Welt wechseln. Auf derselben Stelle der gleichen Insel wird er ein identisches Portal errichten, um den Weg auch in Gegenrichtung nutzen zu können. Siegfried arbeitet konzentriert, lässt sich weder vom wieder einsetzenden Regen noch von zunehmender Dunkelheit stören. Um Mitternacht unterbricht er die Arbeit, um einige Stunden auszuruhen.

    »Wenn mir ein Fehler unterläuft, bleibe ich womöglich zwischen den Welten hängen. Ich muss hellwach sein, wenn ich die nächsten Zauberformeln nutze!« Es widerstrebt ihm zwar, die Arbeit zu unterbrechen, aber sicher ist sicher! Um sich von dem großen Werk abzulenken, nimmt er Kontakt zu einem seiner Helfer auf.

    »Tan Heliwr. Ich werde endlich den Übergang in meine Heimat schaffen. Ein Wechsel zwischen den Welten ist vermutlich schon bald möglich. Dann werdet ihr mir bei der Realisierung eines neuen Plans helfen. Informiere alle Drachen, dass sie sich bereithalten herbeizueilen, sobald ich sie rufe!«

    »Seid Greif, mein Herr und Meister! Ich folge eurem Befehl! Ihr seid schon so gut wie sicher der Herrscher beider Bereiche.« Die Stimme des Feuerdrachen trieft vor Unterwürfigkeit. Davon lässt sich Siegfried nicht täuschen. Er weiß, was er an dem Verbündeten hat, aber auch, wie gefährlich ihm diese Kreatur werden kann, wenn er einen Moment nicht aufpasst.

    »Ganz so weit sind wir noch nicht, aber bald.«

    Schneeflocken und Hagelkörner erscheinen vor seinem geistigen Auge, wirbeln durcheinander und türmen sich zu immer höheren Gebilden auf.

    Wintereinbruch

    Eine Handvoll Elfenkinder tobt jauchzend aus dem Schulgebäude, das etwas abseits von den Wohnhäusern im Elfenwald steht. Die mahnenden, aber nur halbherzigen Rufe der Lehrerin werden in dem lauten und ausgelassenen Lachen von den Kindern nicht gehört oder einfach ignoriert. Obwohl nur wenig Schnee auf dem Boden liegt, fliegen bereits die ersten Schneebälle zwischen den sich schnell gebildeten zwei Gruppen hin und her. Die Augen der sich flink bewegenden Schüler glänzen. Sie können sich nicht erinnern, überhaupt schon einmal Schnee gesehen zu haben, trotzdem wissen sie dies überaus seltene Geschenk der Natur für sich zu nutzen.

    Beryl ist für die üblichen Verhältnisse der Elfen sehr jung, um die Aufgabe einer Ausbilderin und Lehrerin der Kinder zu übernehmen. Sie hat schwarze, lange Haare, die sie geflochten und um den Kopf gelegt trägt. Das Blau von Beryls Augen ist anders als bei den meisten ihrer Artgenossen nicht tief dunkel, sondern wasserhell. Sie ist eine von den Kindern geachtete Autorität. Der unerwartete Schnee hat nur kurzfristig, dafür umso heftiger, die sonst bei allen Elfen ausgeprägte Selbstbeherrschung außer Kraft gesetzt.

    Beryl ist selten unsicher, wie sie sich verhalten soll, sie urteilt und reagiert schnell. Sie lässt die Schüler sich austoben, dann steht die Lehrerin mit wenigen Schritten zwischen den Fronten der sich mit Schnee bekämpfenden Parteien und hebt energisch beide Arme. Sie fordert mit ruhiger Stimme von den Anführern der Gruppen, dass unter deren Aufsicht die Kinder in die Schulräume zurückkehren und sich dort aufwärmen sollen.

    »Ich will nur kurz zu unserer Königin. Ich muss ihr dringend eine Beobachtung mitteilen. Ich bin gleich zurück und verlasse mich auf euch, dass ihr bis dahin keinen Unsinn macht!« Einige Schüler ziehen maulige Schnuten, doch ohne laut zu protestieren. Wohingegen die Kleineren unter ihnen froh aufblicken. Deren Kleidung zeugt mit mehreren feuchten Stellen davon, dass sie von den Schneebällen der Gegner oft getroffen wurden. Obwohl es deren Trägern dementsprechend kalt sein muss, hätten sie noch nicht aufgegeben, um nicht als Weichlinge zu gelten. Die Hände aller sind mittlerweile blass-weiß und werden an einzelnen Stellen dunkelrot, somit ist das Aufwärmen in den Schulräumen inzwischen dringend angezeigt. Die Anführer geben kurze Befehle, dann setzen sich die zwei Gruppen in Bewegung. Beryl nickt zufrieden, doch die dunkle Wolke auf ihrer Stirn verschwindet dadurch nicht. Sie betrachtet verwundert die Schneedecke, die inzwischen eine handbreit hoch liegt. Die Luft flirrt bläulich, dann ist die Lehrerin verschwunden.

    Zur gleichen Zeit im Internat Cinnt caisteal, das von den Schülern CC abgekürzt wird. Seit zwei Wochen türmen sich ungewöhnlich große Schneemassen in dieser Region des Landes. Das drei Tage dauernde Schneetreiben führte zu Schneeverwehungen auf allen Straßen, somit auch auf der vom nächsten Ort zur Schule. Die Verbindung dorthin konnte erst vor zwei Tagen wiederhergestellt werden. Im Park sind die Wege schneller geräumt worden. Der stets grummelige Hausmeister hätte das nicht allein schaffen können, weshalb ihm in den ersten Tagen nach dem Schneefall während der Sportstunden Schüler der oberen Jahrgänge mitgeholfen haben.

    Anna schaut aus ihrem Fenster auf das verzauberte Parkgelände. Dicke Schneemützen bedecken die meisten Bäume, aber ebenso Säulen, Pfosten und sogar die Spitzen der Stäbe im Eisengitter, das das Schulgelände umschließt. In der Schneedecke sind Spuren unterschiedlicher Tiere zu erkennen. Sie stammen vornehmlich von kleineren Vögeln, aber auch von Mäusen, die sich auf der Suche nach Nahrung der Gefahr aussetzen, von Greifvögeln geschnappt zu werden. Annas Blick sucht den Haselbusch, unter dem sie im Sommer erstmalig mit Ainoa ins Andersland gereist ist. Dort laufen sternförmig viele Spuren zusammen.

    »Es ist kaum zu glauben, aber das war bereits im letzten Jahr!« Sie erinnert sich noch gut an die aufregenden Ereignisse, als sie dort zusammen nach der Tochter der Elfenkönigin suchten und sie schließlich aus dem Nebelwald befreien konnten. Sofort denkt sie auch an das zweite Mal, als sie im Herbst in diesem verzauberten Wald nach Iain Raven, den Schulleiter, suchten. Sie verpassten ihn und wären beinahe von einem Bergtroll gefressen oder von Wölfen geschnappt worden. »Ich bin sicher, die grauen Raubtiere wurden von Siegfried Back geschickt, um Elfen zu fangen, die in den Nebelwald verschlagen werden.« Zu diesem Schluss sind nicht nur Anna und Ainoa gekommen, sondern ebenfalls der Schulleiter, Morwenna Mulham und die Elfenkönigin Katherin. »Zum Glück sind wir entkommen, bevor Seid Greif, wie sich Siegfried Back dort nennt, uns erwischen konnte.« Das Mädchen schüttelt sich. Ein eisiger Schauer rieselt ihr den Rücken hinunter. Allein der Gedanke an den Cythraul führt dazu, dass sich ihre Nackenhaare aufstellen. Sie schüttelt sich noch einmal und versucht energisch, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.

    Als sie an den Besuch ihres Vaters denkt, ändert sich ihr Gesichtsausdruck. Die düsteren Wolken werden von hellen Sonnenstrahlen vertrieben. Aedan Qwentiz war zu Weihnachten überraschend im Internat aufgetaucht. Er hatte bis zum Jahresanfang Urlaub und sich in einem Gasthof im nahen Ort eingemietet. Die gemeinsame Woche verging wie im Flug. Der Vater zeigte viele Bilder vom Nordlicht, die atemberaubend schön und mystisch wirkten. Er berichtete aber auch vom Schmelzen des polaren Eises und dem Rückgang vieler Gletscher.

    »Wenn sich der Umgang des Menschen mit Natur und Umwelt nicht ändert, wird es nur noch wenige Jahrzehnte dauern, bis Grönland eisfrei sein wird. Am Südpol gibt es ebenso Hinweise auf den Rückgang des Eises. Das globale Wetter wird sich gravierend ändern, stärker als bisher schon. Abgesehen vom Steigen des Meeresspiegels mit seinen Folgen für alle Küstenregionen, wird die Änderung des Klimas die schlimmsten Auswirkungen haben. Beides wird zu Hungersnöten und Massenfluchten, mit daraus resultierenden Kämpfen um die zur Verfügung stehenden Ressourcen führen.« Trotz dieser verheerenden Prognose reiste Aedan mit Zuversicht zu den Forschungen zurück. Er ist davon überzeugt, nicht nur die eigene Regierung, sondern die Herrscher aller Länder mit seinen Ergebnissen von der Notwendigkeit überzeugen zu können, endlich gemeinsam wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Anna lächelt ob dieses kindlichen Vertrauens, das ihr Vater in den logischen Menschenverstand aller Staatenlenker setzt. Sie hofft, nicht zuletzt für sich, dass er recht behält.

    Annas Gedanken wandern zu Robin. Sie weiß noch genau, mit welch sorgenvoller Miene er sich für die Weihnachtsferien von ihr verabschiedete.

    »Nutze die Ferien nicht wie im Herbst, um mit Ainoa Abenteuer zu bestehen. Halt, das ist Quatsch. Ich wollte sagen: Gerate nicht wieder in Gefahren. Wenn es doch dazu kommen sollte, überwindest du sie hoffentlich. – Irgendwie ist das völlig verdreht. – Ich mache mir einfach Sorgen! Pass gut auf dich auf.« Den folgenden Satz: »Und halte dich von der Elfe fern!«, hat sie fast überhört, da er nur geflüstert worden war. Sofort protestierte sie:

    »Ainoa ist meine beste Freundin! Sie würde mich nie bewusst in Gefahr bringen.« Sie wollte sich bereits empört abwenden, als Robin sie verlegen lächelnd festhielt.

    »Entschuldige, das wollte ich damit nicht sagen. Ich glaube, wenn du in Ruhe nachdenkst, weißt du, was ich meine. – Auch wenn du während der Feiertage fast allein hier sein wirst, wünsche ich dir schöne Weihnachtstage.« Dann umarmte der Junge das Mädchen. Obwohl das nur wenige Augenblicke dauerte, und der einfahrende Zug viele Blicke auf sich zog, war es in der Menschenmenge am Bahnhof für alle sichtbar. Eine verräterische Röte stieg an Robins Hals hoch. Anna bewunderte ihn in diesem Augenblick für den Mut, das in der Öffentlichkeit zu tun. Versöhnt und ein wenig verschämt lächelte sie zurück.

    »Ich wünsche dir auch schöne Weihnachten!« Dann stieg der Junge in den Wagen. Das Mädchen winkte kurz darauf dem fortfahrenden Zug hinterher.

    Fast das erste, nach dem sich Robin nach seiner Rückkehr aus den Ferien erkundigte, war, welche neuen Abenteuer Anna und Ainoa bestanden hätten. Obwohl die Frage flapsig klingen sollte, konnte das Mädchen die Angst erkennen, die ganz hinten, tief in den Augen des Jungen lauerte.

    »Er macht sich wirklich Sorgen um mich!«, schoss es Anna durch den Kopf, als sie schon auffahren wollte. Ihre Antwort fiel wegen dieser Erkenntnis anders als ursprünglich beabsichtigt aus.

    »Ich freue mich auch, dich gesund vor mir zu sehen!« Sie lacht über sein verdutztes Gesicht kurz auf. »Mein Vater hat mich besucht. Da hatte ich keine Zeit für Abenteuer! Und auch danach bin ich brav gewesen. Ainoa hat mich nicht verführt.« Es dauerte etwas, bis Robin sich entspannte und erleichtert aufatmete. Sie verabredeten sich zum Schachspiel um drei.

    Ende Januar begann dann dieser ungewöhnlich heftige Schneefall mit anhaltendem Frost, wodurch die weiße Pracht den Kindern über viele Tage erhalten blieb. Die Schüler verhielten sich die ersten Tage anders als sonst. Sie verbrachten möglichst viel Zeit draußen, um Schneeballschlachten auszuführen, auf entsprechend hergerichteten Plätzen Schlittschuh zu laufen oder Iglus zu bauen. Auf der großen Rasenfläche direkt im Anschluss vom Internatsgebäude zum Park hin, entstand dadurch eine kleine Eskimosiedlung. Die unterschiedlich großen Schneemänner, die dazwischen aufgestellt worden sind, scheinen fehl am Platz zu sein. Sie wirken mit den dunklen Augen und den riesigen Mündern aus Kohlestücken und den krummen, roten Möhrennasen fast wie Bergtrolle, schießt es Anna durch den Kopf, als ihr Blick zum ersten Mal auf die modellierten Gestalten fällt. Im Dunkeln wirken sie aber auf viele Schüler bedrohlich, obwohl sie nie einem Troll begegnet sind. Besonders Wagemutige aus Robins Klasse brüsteten sich an einem Abend in der Öffentlichkeit des Speisesaals damit, eine Nacht in den Iglus verbringen zu wollen. Von den ursprünglich fünf Jungen blieben schließlich drei übrig, die das Vorhaben ausführten. Von da an waren sie für eine Woche der Schwarm vieler Mädchen der unteren Jahrgänge.

    Nach zwei Wochen mit Schnee und Eis kommt allen der dicke Überzug schon fast normal vor. Bei den beständig eisigen Temperaturen haben die Aktivitäten draußen nachgelassen. Inzwischen brüten die Schüler lieber im Warmen über Aufsätzen, Referaten und Ausarbeitungen. Viele nutzen die Bibliothek, um notwendige Informationen in den Büchern zu recherchieren.

    Anna dreht sich vom Fenster weg und betrachtet ein Bild ihres Vaters, das über ihrem Schreibtisch an der Wand hängt.

    »Du hast recht mit der Wetteränderung. Ich kann mich an keinen Winter erinnern, in dem bei uns so hoher Schnee für eine derart lange Zeit gelegen hätte. Ist das ein Signal, das uns zum letzten Mal mahnen will?« Anna weiß, darauf wird sie keine Antwort erhalten. Sie seufzt tief. »Pass auf dich auf, Dad!« Dann dreht sie sich um und verlässt ihr Zimmer. Auf dem Weg zum Treffen des Schachteams begegnen ihr Schüler. Sie tauschen manchmal nur einen schnellen Blick, nicken sich zu oder wechseln ein paar kurze Worte, doch Anna hört kaum richtig hin. Sie ist mit den Gedanken bei etwas anderem.

    Anfang Dezember schickte Innocent Green eine Nachricht an Morwenna Mulham. Sie ist nicht nur Bibliothekarin und Lehrerin für Logik und Strategie, sondern gleichzeitig die Gründerin des Schachclubs am CC. Innocent ist die Professorin eines Internats einer berühmten Universitätsstadt und wie Morwenna Leiterin eines Schachclubs. Anna sieht die Frau mit der leicht rundlichen Gestalt vor sich, wie sie der schlanken und sich geradehaltenden Morwenna den Pokal übergibt, den sie mit dem Unentschieden im Vergleichswettkampf beider Teams gewonnen hatten. Die Nachricht Innocents sorgte für Enttäuschung unter den Schachspielern. Sie hatte beim Wettkampf versprochen, sich für die nachträgliche Zulassung des Schachteams vom CC für die nationalen Meisterschaften zum Ende des Jahres einzusetzen, obwohl die Bewerbungsfristen dafür bereits abgelaufen waren. Der Antrag war genau wie der telefonische Versuch abgewiesen worden.

    Innocent hatte als Alternative einen erneuten Vergleich beider Teams vorgeschlagen und als möglichen Termin Anfang des neuen Jahres genannt. Auf den Wettkampf bereitet sich das Team intensiv vor. Sie wissen, Innocent wird dieses Mal ihre besten Spieler antreten lassen, die nicht unbedingt die vom ersten Vergleich sind. Deshalb trainieren Morwenna und die Teammitglieder härter als je zuvor. Statt körperlicher Aktivitäten im Schnee haben sie sich zu ihren üblichen Übungsstunden im abgetrennten Bereich des Lesesaals getroffen. Durch den Erfolg beim ersten Wettkampf angeregt, haben sich weitere Schüler zum Team gemeldet. Ein Mehrfachantreten eines Spielers ist somit nicht mehr erforderlich. Anna findet das schade. Sie hat in den drei Partien, die sie bestreiten durfte, wichtige Erfahrungen gesammelt.

    Vor der Tür zur Bibliothek atmet sie einmal tief durch, dann drückt sie die große Messingklinke hinunter und öffnet die alte Eichentür.

    Unerwartetes Treffen

    Anna durchquert mit schnellen Schritten den Lesesaal. Sie lächelt zu Robin hinüber, der bereits ihren üblichen Tisch für sie reserviert hat. Bevor sie bei ihm ist, erhebt er sich.

    »Hey Anna. Was meinst du, wie lange hält diese Eiszeit wohl noch an? Ende kommender Woche müssen wir mit dem Zug fahren, um zum Wettkampf zu gelangen. Hoffentlich kommen wir durch, sonst sieht es womöglich aus, als ob wir kneifen wollten.« Bevor Anna etwas erwidern kann, verschafft sich Morwenna Mulham Gehör. Die leisen Gespräche verstummen schlagartig.

    »Hört mir bitte zu. Wir haben nur noch wenige Tage, dann geht es zum Vergleich mit Innocents Team. Ich gehe davon aus, dass die Züge trotz des Schnees pünktlich sein werden. Uns bleiben acht Tage. Morgen in einer Woche fahren wir. Ich möchte, dass wir bis dahin intensiv trainieren, möglichst mit wechselnden Gegnern.« Ihr Blick wandert zu Anna und Robin, aber ebenso zu Alexander und Caitlin, die wie üblich gegeneinander antreten wollen. »Ihr wisst, wie wichtig es ist, mit neuen Situationen konfrontiert zu werden, um unvorhersehbare Schwierigkeiten meistern zu können.« Ihr Blick ruht auf Finn, dessen Gesicht mit den vielen Sommersprossen sich zu einem Grinsen verzieht. Er hatte im Herbst völlig unerwartet den Schulchampion Alexander besiegt. »Setzt euch also in neuen Paarungen zusammen!« Als ob sie nur auf diese Gelegenheit gewartet hätte, ruft ein Mädchen:

    »Ich fordere Robin. Er soll mein Gegner sein.« Von den Lesepulten erklingt ein vielstimmiges »Psst«. Alle Schachspieler drehen sich in Richtung der Stimme und sehen das entschlossene Gesicht von Roya Robson. Die Schülerin wirft ihre langen, rotblonden, glatten Haaren theatralisch mit beiden Händen nach hinten und bahnt sich den Weg zum Tisch, an dem Robin neben Anna steht. Die Dreizehnjährige ist seit dem erfolgreichen Vergleichswettkampf ebenfalls Mitglied im Schachclub. Sie besucht den gleichen Jahrgang wie der Junge und strahlt ihn an. Mit einer Bewegung des Kopfes zur Seite wendet sie sich kurz und herablassend an Anna. »Du hast doch nichts dagegen, oder?« Gleichzeitig setzt sie sich auf einen der Stühle und sieht danach Robin auffordernd an, es ihr gleichzutun. Der schnappt verblüfft einmal nach Luft, blickt beide Mädchen abwechselnd an und zuckt mit den Schultern. Er fühlt sich offensichtlich von der forschen Art der Klassenkameradin überfordert. Zum Glück hilft Anna ihm aus der Patsche.

    »Wir spielen später gegeneinander, einverstanden?« Seine Augen ruhen groß und fragend auf ihr. Doch das Mädchen lächelt ihn abwartend mit neutralem Gesichtsausdruck an. Der Junge fühlt sich erleichtert und nickt zur Bestätigung.

    Während Robin sich an den Tisch setzt, dreht sich Anna schnell um. Sie verkneift sich mit Mühe einen bissigen Kommentar zu Royas Benehmen und hält nach einem Gegner Ausschau. Sie merkt nicht, wie Ihre geballten Fäuste verkrampfen. Die Glühbirne einer Deckenleuchte über ihr flackert mehrfach, um dann mit lautem Knall zu zerplatzen. Sie fährt erschrocken zusammen und presst die Lippen aufeinander, um das reflexartige Aufrufen einer Schutzglocke zu verhindern. Wenn die anderen Schüler mitbekommen würden, wie sie etwas murmelt und anschließend von einem goldenen Flirren umgeben ist, wird sie sofort zum Sonderling. Ihre ersten Wochen im Internat sind schwierig gewesen. Sie war als Einzelkind in der Obhut von Vater und Großmutter aufgewachsen und den Umgang mit Gleichaltrigen außerhalb schulischer Aktivitäten nicht gewohnt. Sie fühlte sich einige Zeit ausgegrenzt, bis sie Anschluss im Schachteam fand. Dessen Gründung durch die Bibliothekarin hat ihr den Weg in die Schülergemeinschaft geebnet. Da sie durch die Besuche in der Anderswelt inzwischen über erhebliche Zauberkräfte verfügt, muss sie aufpassen,

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