Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Tauben von Origo
Die Tauben von Origo
Die Tauben von Origo
eBook441 Seiten6 Stunden

Die Tauben von Origo

Von C. May

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Mit dem Einbruch des dunklen Zeitalters betrat ein Wesen den Erdboden, das kein Herz besaß. Tief unter der Erde führte es lange Zeit ein ausschweifendes und wahrlich böses Dasein. Eines Abends jedoch erblickte es zum ersten Mal sein Spiegelbild. Zutiefst erschrocken über das eigene Aussehen und traurig zugleich, sprach es einen Wunsch aus, der schon bald die ganze Welt verändern sollte. Um diesen Wunsch auch ganz sicher erfüllt zu bekommen, ließ es sich auf eine unglaublich grausame Wette ein. Es war die Wette gegen die irdischen Völker...

SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum13. März 2024
ISBN9783989835375
Die Tauben von Origo

Ähnlich wie Die Tauben von Origo

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Tauben von Origo

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Tauben von Origo - C. May

    Prolog

    Schauderhaft heulte der Wind durch die Nacht, als Wisgard, Tilrun und Godwin nach langer Suche endlich jenen Pfad entdeckten, der hinaufführte in das Alte Moosgebirge.

    Der Winter hatte seine Vorboten längst ausgesandt und es war gewiss, dass er schon bald das Land in seine kalten Arme schließen würde. Aber es war nicht der bevorstehende Winter, der die drei Elfen zur Eile antrieb. Da war noch etwas ganz anderes, das sie drängte – etwas, das noch viel schlimmer war, als klirrende Kälte, Eis und Schnee…

    »Hier entlang! Geschwind! Wir müssen die geheime Quelle finden, noch bevor das Dunkle Zeitalter über die Erde hereinbricht!«, krächzte die alte Wisgard und zeigte mit ihrem schnörkeligen Stock hinauf in die Dunkelheit. Irgendwo dort oben lag ihr Ziel und wenn sie sich beeilten, konnten sie es vielleicht noch rechtzeitig erreichen. Und so stiegen sie ohne zu zögern den geschlängelten Pfad entlang der ungeschützten Ostwand hinauf ins Gebirge. Der Wind peitschte unerbittlich von allen Seiten auf sie ein, und nur allzu oft waren sie gezwungen, sich die Kapuzen tief ins Gesicht zu ziehen und ihre Mäntel niederzudrücken, die sich aufbliesen wie Segel im Wind. Es war eine stürmische und finstere Nacht, und die drei konnten nur von Glück reden, dass sie Laternen bei sich trugen.   

    Unentwegt musste Godwin, der Erdelf, an das geheimnisvolle Goldene Siegelbuch denken, das Wisgard versteckt unter ihrem Umhang trug, und immer wieder musste er an die letzten warnenden Worte denken, die ihnen ihre Elfenkönigin Nekawa noch mit auf den Weg gegeben hatte: »Am Fuße des Alten Moosgebirges findet ihr jenen Pfad, der euch zur geheimen Quelle des Immerwährenden Baches führt. Wenn ihr an dieser Quelle angekommen seid, ruft Allrun, den Geist der Erde an und bittet ihn in meinem Namen, dieses Goldene Siegelbuch in seine Obhut zu nehmen, damit es das Dunkle Zeitalter unbeschadet übersteht. Doch bedenkt auf eurer Reise stets: Dieses Buch ist ein uraltes Vermächtnis! In seinem Umschlag befinden sich zehn goldene Siegelmünzen, die eines Tages darüber entscheiden werden, ob das Licht, oder die Dunkelheit die Herrschaft auf der Erde übernehmen wird. Weder dieses Buch, noch eine seiner Münzen dürfen je verloren gehen, oder gar in die Hände dunkler Mächte geraten! Das hätte verheerende Folgen für uns alle. In dunklen Zeiten wird die Erde von dunklen Mächten heimgesucht, die mit aller Kraft versuchen werden, jegliches Licht zunichte zu machen. So auch das Licht dieses kostbaren Vermächtnisses. Macht euch nun auf den Weg und achtet tunlichst darauf, dass euch niemand folgt. Sobald ihr eure Mission erfüllt habt, kehrt unverzüglich nach Hallgard zurück. Das Dunkle Zeitalter wirft bereits seine Schatten voraus. Wenn die Zeit gekommen ist und sich die Finsternis über die Welt legt, ziehen wir uns mit unserem Königreich wieder in die Tiefen der Erde zurück.«

    Drei Tage und drei Nächte waren seither vergangen und Godwin hätte viel darum gegeben, mehr über das bevorstehende Dunkle Zeitalter zu wissen und über das Geheimnis um das Goldene Siegelbuch.

    »Mir nach!«, rief Wisgard plötzlich über das Geheul des Windes hinweg und verschwand mit ihrer Laterne in einer kleinen Höhle, wo auch Tilrun und Godwin sich schon bald einfanden. Das gesamte Gestein war von dicken Moospolstern bewachsen, und obgleich diese Höhle im Grunde nur eine kleine Einbuchtung in der Felswand war, fanden die vom Wind zerzausten Elfen in ihr vorübergehend Schutz vor dem unwirtlichen Wetter.

    »Einfach schrecklich, dieser Wechsel von einem Zeitalter ins andere.«, brummelte Wisgard und schob sich unwirsch eine weiße Haarsträhne aus dem Gesicht. Godwin und Tilrun schauten sich wachsam um. Wisgard lockerte vorsichtig ihren Umhang und nahm das Goldene Siegelbuch behutsam aus dem großen Lederbeutel, der an einer dicken Schnur um ihre Hüfte gebunden war. Sie wog das Buch in ihren Händen ab. Es war schwer. Zehn goldene Siegelmünzen waren auf der Oberseite des Buches tief in den Umschlag eingelassen und in Form einer Spirale angeordnet. Das Buch war dünn und die Anzahl seiner Seiten schwer zu schätzen. Die Elfen konnten es nicht öffnen, da es durch ein kleines Schloss verriegelt war, das kein Schlüsselloch besaß.

    »Seht nur, die Münzen besitzen eine besondere Prägung!«, sagte Godwin und fuhr sanft mit den Fingern über eine der Münzen.

    »Ja, Tauben«, flüsterte Tilrun mit großen Augen. »Was haben sie zu bedeuten?«

    Auf jeder der Goldmünzen, die nun verheißungsvoll funkelten, war die Prägung zweier Tauben zu sehen, deren Schnäbel sich im Aufwärtsflug trafen, wie zu einem Kuss.

    »Das sind die Tauben von Origo!«, hauchte Wisgard und fuhr ehrfürchtig mit der Hand über das Buch.

    »Origo?«, fragte Tilrun, während sie sich mit nachdenklicher Miene die Kapuze vom Kopf schob.

    Wisgard war wie gebannt. »Ja, Origo.«, sagte sie. »Eine Welt, die wir erst sehen werden, wenn die Zeit gekommen ist. In den alten Schriften, die bis heute geheim gehalten wurden, soll jene Prophezeiung geschrieben stehen, die besagt, dass die unsichtbare Welt namens Origo sich eines Tages mit unserer Welt verbinden wird, wodurch eine vollkommen neue Welt entsteht. Eine Welt, in der Frieden und Einigkeit herrschen werden unter allen Lebewesen. Eine Welt, in der alle Völker der Erde sich gegenseitig hoch wertschätzen, und Menschen, Tiere und Pflanzen sich ohne Worte untereinander verständigen werden – über alle Grenzen hinweg. Wenn diese Welt gekommen ist, wird Allrun, der mächtige Geist der Erde aus den Tiefen seiner Selbst heraussteigen und diesen Planeten zu einer neuen Heimat für alle irdischen Lebewesen machen. So lautet die Prophezeiung.«

    Die Münzen begannen plötzlich wundersam zu leuchten und im Nu war die kleine Höhle von zauberhaftem Licht erfüllt. Den Elfen war ganz eigenartig zumute. Sie spürten, dass dieses Licht in ihnen besondere Kräfte weckte. Es berührte ihre Herzen und verlieh ihnen ein Gefühl von unendlicher Verbundenheit, Stärke und Kraft.

    Wisgard dachte angestrengt nach und fragte sich: »Was hat Nekawa wohl damit gemeint, als sie sagte: ›Weder dieses Buch, noch eine seiner Münzen dürfen je verloren gehen, oder gar in die Hände dunkler Mächte geraten.‹?«

    Sie betrachtete nachdenklich ihre beiden Gefährten, die ahnungslos die Schultern zuckten, dann löste sie eine der Goldmünzen behutsam aus dem Buchumschlag. Das Funkeln und Leuchten aller zehn Münzen erlosch noch im selben Augenblick und die geheimnisvolle Kraft, die von ihrem Licht ausging, verflüchtigte sich schneller als ein Paukenschlag. Tilrun und Godwin schauten fasziniert zu, als Wisgard die Münze wieder fest in die freie kreisrunde Vertiefung des Buchumschlags drückte. Die Münzen funkelten und leuchteten erneut und verstärkten abermals und augenblicklich die guten Kräfte in den Herzen der Elfen.

    »Jetzt verstehe ich«, flüsterte Wisgard, »Sind alle zehn goldenen Siegelmünzen vereint, wenn man sie berührt, so beginnen sie zu leuchten. Dann geben sie ihre machtvolle Energie über ihr Licht an den Besitzer des Buches und seiner Verbündeten ab und aktivieren, oder verstärken deren bereits vorhandenen inneren Kräfte. Dieses Licht kennt dabei kein Gut und kein Böse. Würde es sich in den Händen dunkler Seelen aktivieren, so würden diese übermächtig werden – übermächtig böse.«

    Wisgard erschrak über ihre eigenen Worte. Schnell steckte sie das Buch zurück in den Beutel, zog ihren Umhang fest zu und lehnte sich gedankenversunken neben Tilrun an die Felswand.

    Godwin und Tilrun wussten nicht, zu welch körperlichen Verwandlungen Wisgard fähig sein konnte. Aber noch war es nicht an der Zeit, sich zu offenbaren. Noch durfte niemand erfahren, wer sie wirklich war. Nachdenklich betrachtete Wisgard ihre beiden Begleiter.

    Godwin kniete nieder und überprüfte die Standfestigkeit der Kerzen in den Laternen. Plötzlich sah er zu den beiden auf.

    »Spürt Ihr es auch? Etwas Seltsames passiert, ich kann es fühlen.«, warnte er. Wisgard und Tilrun wussten, dass auf Godwin Verlass war, wenn er so etwas sagte, denn er besaß die Fähigkeit, Gefahr zu wittern, noch bevor sie ihn traf, da er durch feine, dehnbare und kaum sichtbare Wurzeln an den Fußsohlen direkt mit der Erde verbunden war.

    »Was spürst du, Godwin?«, fragte Tilrun im Flüsterton. Sie äugte aufmerksam umher und zog sich rasch die Kapuze wieder über den Kopf.

    Godwin klappte die Türen der Laternen zu und sprang mit einem Satz auf die Beine. »Finsternis. Das Dunkle Zeitalter…, es ist bald so weit. Wir sollten uns beeilen.«, drängte er. Ein Schatten von Besorgnis streifte sein Gesicht.

    »Dann nichts wie los.«, sagte Wisgard entschlossen. Sie schnappte sich Stock und Laterne und ohne noch ein weiteres Wort darüber zu verlieren, zogen die drei wieder in die Dunkelheit hinaus, zurück auf den Pfad, wo der Wind ihnen abermals heulend um die Ohren pfiff. Beschwerlich war ihr Weg. Sie sprachen nicht darüber, aber in ihrem tiefsten Inneren wünschten sich alle drei nichts sehnlicher, als so schnell wie möglich wieder nach Hallgard zurückzukehren. Noch aber hatten sie ihre Mission nicht erfüllt, geschweige denn jenen Ort erreicht, den es für sie in dieser Nacht erst noch zu finden galt.

    Als sie ein gutes Stück vorangekommen waren, wurde der Pfad schmäler und somit auch gefährlicher. Während sich zu ihrer Rechten im Licht der Laternen eine majestätische Felswand zeigte, klaffte zu ihrer Linken gähnende Dunkelheit auf. Eine tiefe Schlucht, die jedes auch noch so kleine Geräusch über das Geheul des Windes hinweg lange widerhallen ließ und die das Licht ihrer Laternen ganz und gar verschluckte. Sie mussten gut aufpassen, wo sie hintraten und sich immer wieder an der taufeuchten, moosbewachsenen Felswand festkrallen, um nicht unversehens den Halt zu verlieren und abzurutschen. Nach einer Weile drehte sich Wisgard um, hielt sich den Arm schützend vors Gesicht und rief: »Es gibt viele Pfade, die hinauf ins Gebirge führen. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser hier der richtige ist und ob er uns zu der geheimen Quelle führen wird. Ich befürchte, nur ein Wunder kann uns jetzt noch helfen!«, dann ging sie weiter und stützte sich bei jedem Schritt auf ihren Stab, als läge das Gewicht der ganzen Welt auf ihrem Rücken. Tilrun und Godwin hielten sich knapp hinter ihr und tasteten sich vorsichtig an der Felswand entlang, stets im Kampf gegen den Wind, der sie einfach nicht aus seinen Fängen lassen wollte.

    Sie hatten wieder eine beträchtliche Wegstrecke zurückgelegt, als es auf einmal windstill um sie herum wurde und sie das Rauschen eines Wildbachs hörten. Das ließ sie zuversichtlicher werden. Mit unerschütterlicher Beharrlichkeit stiegen sie weiter bergan. Aber es dauerte nicht lange, da plagte Tilrun und Godwin auf einmal das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Die beiden blieben stehen und leuchteten mit ihren Laternen aufmerksam umher, um sicherzugehen, dass ihnen auch wirklich niemand folgte, während Wisgard sich langsam aber stetig immer weiter von ihnen entfernte – nichts Böses ahnend. Tilrun und Godwin hoben ihre Laternen und spähten in die Dunkelheit, konnten jedoch niemanden sehen. Gerade da aber, als sie sich entschieden hatten, wieder weiterzugehen, zuckten sie jäh zusammen und erstarrten noch an Ort und Stelle, als plötzlich helle Stimmen aus allen Richtungen riefen:

    »Drei Elfen wandern durch die Nacht

    und haben etwas mitgebracht.

    Was sie dort gut vor uns versteckt,

    das haben wir schon längst entdeckt!«

    Jetzt blieb auch Wisgard wie angewurzelt stehen. Sie lauschte und glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können. Tilrun und Godwin suchten abermals die Dunkelheit mit ihren Laternen ab, doch vergeblich. Wieder war niemand war zu sehen. Dann schallte es mit einem Mal so laut durch die Nacht, dass die ganze Welt es hätte hören können:

    »In einem alten Ledertuch

    trägt sie das Gold‘ne Siegelbuch

    und edle Münzen aus Metall,

    die funkeln wie ein Stern im All.

    Zehn Münzen im Gold‘nen Siegelbuch,

    gewickelt in ein Ledertuch.

    Zehn Münzen…«

    »Scht. Ruhe!«, unterbrach Godwin das schrille Geplapper und schaute sich grimmig um.

    Wisgard eilte aufgebracht herbei.

    »Ihr denkt wohl alles zu wissen, hm? Offenbar aber wisst ihr nicht, wie man mit einem Geheimnis umgeht!«, schimpfte sie mürrisch blickend vor sich hin und leuchtete dabei mit ihrer Laterne aufgeregt umher. Aber nur Tilrun und Godwin waren zu sehen, sonst niemand.

    »Wir befinden uns in einer äußerst wichtigen und streng geheimen Mission. Niemand darf je davon erfahren.« Sie vergewisserte sich mit einem kurzen Blick unter ihren Umhang, ob das Buch noch da war und äugte dann wieder vergrämt umher. »Und ihr posaunt es einfach so mir nichts, dir nichts in die weite Welt hinaus! Im schlimmsten Fall könntet ihr uns soeben verraten haben! Was denkt ihr euch nur dabei?« Sie hielt für eine Weile inne, dann flüsterte sie, »Wir tragen ein uraltes Vermächtnis mit uns, das eines Tages für das Leben auf der Erde von großer Bedeutung sein wird. Auch für eures! Schickt euch also lieber an, uns bei der Suche nach der geheimen Quelle zu helfen! Es eilt!« Sie tippte ungeduldig mit dem Stock auf den Boden und wartete auf eine Reaktion.

    »Ein Vermächtnis – uralt soll es sein.«

    »Eine Mission – äußerst wichtig und streng geheim.«

    »Niemand darf je davon erfahren, sagen sie.«

    »Niemand! Niemand – niemals und nie!«, flüsterten die Stimmen.

    Tilrun räusperte sich verlegen hinter vorgehaltener Hand, während Wisgard nur die Schultern zuckte und empört den Kopf schüttelte. Godwin legte seine Spitzohren drohend nach hinten und blickte verärgert zu Boden.

    »Helfen wir den Elfen?«

    »Aber ja, wir werden ihnen helfen.«

    »Guckt nur, wie die drei jetzt grimmig schauen.«

    »Es scheint, als ob sie uns überhaupt nicht vertrauen.«

    »Sie sind in Eile! Ja, in großer Eile sind sie.«

    »Aber alleine finden sie die geheime Quelle nie.«

    »Sie brauchen unsere Hilfe – dringend und schnell.«

    »Nichts leichter als das. Ihr Wunsch sei uns Befehl.«, wisperten die fröhlichen Stimmen, und da flatterten noch im selben Augenblick unzählige kleine, hell leuchtende Feen von allen Seiten heran. Als die Elfen die vielen winzigen Lichter in der Dunkelheit tanzen sahen, legte sich ein zaghaftes Lächeln über ihre angespannten Gesichter und sie atmeten zum ersten Mal seit Anbeginn ihrer Reise erleichtert auf.

    »So ist’s recht.«, lobte Wisgard die hilfsbereiten Feen, die jetzt vor und über ihnen schwirrten und den gefährlich schmalen Pfad hell beleuchteten, wodurch sie nun schneller und sicherer vorankamen. Und so begab es sich, dass die drei Elfen in Begleitung der Feen schon bald einen kleinen Tannenhain erreichten.

    Wisgard blieb stehen, machte große Augen und sagte: »Hört ihr, was meine Ohren hören? Gluckern von Wasser. Gleich hier in der Nähe muss die Quelle sein.«

    »Ja, wie es scheint, haben wir es geschafft.« Godwin lächelte.

    »Ihr seid uns eine große Hilfe gewesen. Dafür danken wir euch!«, sagte Tilrun und zollte den Feen ihren höchsten Respekt mit einer tiefen Verneigung.

    »Dort ist die Quelle! Dort drüben, gleich hinter den Tannen!«

    Ein paar der Feen zeigten gleichzeitig mit einem ihrer Flügel in die Richtung des Hains.

    Die Elfen verneigten sich dankbar vor ihnen.

    »Es war uns ein Vergnügen … ein Vergnügen.«

    »Wir werden jetzt gehen. Auf Wiedersehen.«

    »Auf Wiedersehen!«

    »Wach auf, Allrun, wach a-haauf! Du hast Be-su-huuch!«, frohlockten die Feen.

    »Scht« machte Godwin, aus Angst, sie könnten vielleicht doch noch von etwaigen unliebsamen Geschöpfen entdeckt werden.

    »Schon gut. Nur ihr könnt uns hören. Nur ihr Elfen.«, beruhigten ihn die Feen, dann schwirrten sie in alle Richtungen auf und davon, wie ein Riesenschwarm von Glühwürmchen.

    Zur selben Zeit dämmerte das Morgenlicht herauf und spätestens jetzt wäre es für die Elfen an der Zeit gewesen, ihre Rückreise nach Hallgard anzutreten, denn in welche Richtung sie auch blickten, überall in der Ferne fuhren Blitze vom Himmel zu Boden. Es waren gewaltige Blitze. Die Vorboten des Dunklen Zeitalters.

    Hinter dem kleinen Tannenhain versperrten Riesenfarnblätter den Zugang zur Quelle. Wisgard berührte sie sanft mit ihrem Stöcklein, woraufhin die Blätter augenblicklich zur Seite wichen und den Weg freimachten. Wisgard verlor keine Zeit mehr und lief dicht gefolgt von Tilrun und Godwin mit wallendem Haar voraus über das weiche Moos. Und sowie sie die Quelle erreicht hatten, versiegte deren sprudelndes Wasser und ein mannshohes altes Steingesicht mit gelocktem, moosbedecktem Haupt und großen hellgrauen Augen stieg mit dumpfem Grollen aus dem Boden und mit den Worten: »O, seid gegrüßt, liebe Elfen. Godwin – Sohn der Erde. Was verschafft mir denn die Ehre so früh am Morgen?«

    Wahrhaftig, das war Allrun – der Geist der Erde. Er gähnte einmal herzhaft und in seinem langen moosigen Bart glitzerten dabei unzählige Tautropfen wie winzig kleine Sterne. Die Elfen verneigten sich ehrfürchtig vor ihm. Wisgard legte schnell ihren Stock beiseite und stellte die Laterne ab, als da plötzlich etwas hinter ihr im Gebüsch raschelte.

    »Kommt ruhig näher.«, sagte sie, ohne auch nur einmal ihren Blick von Allrun zu wenden.

    Ein Reh mit ihrem Kitz und ein Rehbock traten zaghaft aus dem Gebüsch. Eine kleine Eidechsenschar lugte aus ihrem steinernen Versteck heraus, ein Hasenpaar hoppelte neugierig heran und ein Schwarm von Vögeln piepste vergnügt im Geäst der Tanne, die unweit der Quelle zum Himmel ragte. Sie alle waren gekommen, um zu sehen, was denn da schon am frühen Morgen so Geheimnisvolles vor sich ging.

    Jetzt trat Godwin vor, verneigte sich abermals und sagte: »Allrun, mächtiger Geist der Erde. Wir kommen mit einer Bitte zu Euch. Unsere Königin Nekawa schickt uns.« 

    Wisgard öffnete ihren Umhang und nahm das Goldene Siegelbuch aus ihrem Lederbeutel.

    »So? Elfenkönigin Nekawa schickt euch zu mir? Was gibt es denn so Wichtiges?«, fragte Allrun mit geneigtem Kopf und hochgezogenen Augenbrauen. Sein sanftmütiger Blick wanderte langsam abwärts und als er sah, was Wisgard dort fest in ihren Händen hielt, legte sich ein freundliches Lächeln über sein uraltes faltiges Steingesicht. »Das Vermächtnis von Origo?«, fragte er neugierig und blickte der alten Elfe tief in die Augen. Die goldenen Münzen funkelten für einen Augenblick verheißungsvoll auf.

    »Ja. Godwin, Tilrun und ich – Wisgard –«, sie zeigte dabei auf ihre beiden Begleiter und sich selbst und verneigte sich noch einmal vor ihm, »wurden von unserer Königin ausgesandt, um Euch zu bitten, das Goldene Siegelbuch durch das Dunkle Zeitalter hindurch für uns aufzubewahren.«

    Allrun lächelte wieder. Dann öffnete sich lautlos und langsam ein Spalt in seiner Stirn, aus dem wundersam blauviolettes Licht strahlte. »Aber natürlich. Legt das kostbare Buch hier hinein. Es ist gut aufgehoben bei mir.« Seine Augen rollten sich dabei wegweisend nach oben.

    Wisgard trat zu ihm hin und steckte das Goldene Siegelbuch vorsichtig in seine Stirnöffnung, worin das Licht der Münzen sich augenblicklich mit dem blauvioletten Licht vermengte. Dann trat Wisgard wieder zurück in die Reihe ihrer Begleiter. Und da standen die drei Elfen nun und schauten einander zufrieden an, und all die Strapazen der langen Reise fielen noch im selben Augenblick wie schwere Steine von ihren Schultern. Ihre Mühen und Anstrengungen hatten sich gelohnt. Das Goldene Siegelbuch war von nun an in Sicherheit und somit war ihre Mission erfüllt.

    Gespannt auf das, was nun weiter geschehen würde, betrachteten sie erwartungsvoll das Buch in Allruns Stirn. Godwin bemerkte, dass sich all die Tiere plötzlich zurückzogen und schaute auf einmal wie ein Gejagter zum Himmel hinauf. Er packte Tilrun, die unmittelbar neben ihm stand, am Arm, zog sie zu Boden und schrie Wisgard und Allrun zu: »Geht in Deckung! Uns droht Gefahr von oben!«

    Alle – alle, nur Allrun nicht – duckten sich und warfen schützend die Arme über ihre Köpfe, als da auch schon ein gigantischer Blitz vom Himmel herabfuhr, der sich mit einem gewaltigen Einschlag unmittelbar hinter Allrun entlud. Wisgard konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen.

    »O je!«, rief Allrun (nur um ein Haar vom Blitz verschont geblieben), als ihn das darauffolgende Donnergrollen heftig erzittern ließ. Er drehte die Augen besorgt nach oben. Die drei Elfen suchten Halt auf dem bebenden Boden und krallten ihre Finger tief ins Moos. Das Buch in Allruns Stirn wackelte bedenklich und drohte, jeden Moment aus dem noch weit geöffneten Spalt herauszufallen.

    Allrun, dessen Hände tief unter der Erde steckten, versuchte, das drohende Unheil noch abzuwenden, indem er seinen Kopf auf dem Hals kreisen ließ. Dabei rief er ein paarmal: »Hoppla di hopp!« Da kippte das Buch schließlich um und blieb liegen in seiner Stirn. Und gerade da, als das Donnergrollen versiegt war und Allrun schon vor Erleichterung aufatmete, glaubten die Elfen ihren Augen nicht trauen zu können, als sie sahen, dass eine der Siegelmünzen sich aus dem Buchumschlag gelöst hatte und nun munter aus der Stirn des Erdgeistes hüpfte.

    Allrun bemerkte es mit Schrecken – jedoch zu spät.

    »Schnell! Haltet sie auf!«, rief er mit weit geöffneten Augen.

    Wisgard versuchte die Münze noch zu erwischen, doch sie entglitt ihr und rollte – ihre zauberhafte Leuchtkraft allmählich verlierend – leise klimpernd den Berg hinab. Das Leuchten der übrigen neun Münzen erlosch in Allruns Stirn.

    »O Nein!«, rief Wisgard und hielt sich verzweifelt die Hände vors Gesicht.

    Godwin und Tilrun jagten der Münze noch hinterher, doch vergebens. Der Untergrund war feucht vom Tau und trügerisch, an manchen Stellen viel zu brüchig. Jeder weitere Schritt hätte sie ihr Leben kosten können. Und so mussten sie alle tatenlos dabei zusehen, wie die Münze langsam über einen kleinen Felsvorsprung kullerte, in die Tiefe fiel und schließlich in den rauschenden Wildbach plumpste, der sich weit unten reißend einen Weg durchs Gestein bahnte.

    Allrun drehte die Augen nach oben und schloss langsam seine Stirn.

    »Es ist vorbei. Diese Münze ist wohl für immer verloren. Ohne sie ist unsere Mission wertlos.«, sagte Godwin und starrte bestürzt den Abgrund hinunter. Tilrun und Wisgard schüttelten entsetzt die Köpfe.

    »Zu spät, meine Elfen! Zu spät! Das Dunkle Zeitalter bricht herein! Lauft so schnell ihr nur könnt zurück nach Hallgard! Lauft, lauft!«, riet ihnen Allrun noch. Dann schloss er die Augen, setzte sich in Bewegung und versank in Begleitung dumpf grollender Geräusche mitsamt dem Goldenen Siegelbuch und den nunmehr neun Münzen in der Erde.

    Tilrun sah ihn noch langsam in der Öffnung der Quelle versinken und runzelte nachdenklich die Stirn, und als Godwin und Wisgard ihre Köpfe in seine Richtung drehten, war Allrun bereits verschwunden und kristallklares Wasser sprudelte wieder aus der Quelle.

    Hell war es mittlerweile geworden und das Alte Moosgebirge zeigte sich nun ein letztes Mal in seiner ganzen grünen Pracht. Es war über und über mit einem dicken Moosteppich bedeckt, der dem gigantischen Gestein außergewöhnlich weiche Konturen verlieh.

    Die drei Elfen blickten traurig in die weite Ferne jener Richtung, in der ihr Zuhause lag, bis sich immer dichter werdende Nebelschwaden dazwischenschoben.

    »Wir können hier nichts mehr tun. Schnell zurück nach Hallgard.«, sagte Wisgard enttäuscht. Und als sie bemerkte, dass all die Tiere, die eben noch einmal so neugierig aus ihren Verstecken gelugt hatten, nun ganz verschwunden waren, sagte sie: »Seht nur, sie haben sich schon in Sicherheit gebracht. Sie sind schlauer als wir.«

    Völlig entkräftet griff sie nach ihrer Laterne, deren Licht längst erloschen war. Und just in dem Moment, als die drei gedachten, ihren Rückweg anzutreten, senkte sich ein dunkler Schleier vom Himmel auf die Erde herab und ein ohrenbetäubendes Heulen kündigte Unheil an.

    »Wenn wir uns beeilen, erreichen wir Hallgard, noch bevor die Erde dort ihre Pforte für immer schließen wird.«, rief Wisgard.

    Und die drei Gestalten verschwammen nach und nach und verschwanden schließlich ganz in den weißgrauen Nebelschwaden, die überall wie Gespenster aus dem Boden pufften. Schon bald darauf fegte ein fürchterlicher Schneesturm über alle Teile der Erde hinweg und weit entfernt vom Alten Moosgebirge setzte sich Hallgard, das Königreich der Elfen, in Bewegung und verschwand langsam unter der Erde. Das Einzige, was dort von dem kleinen Elfenreich auf der Erdoberfläche übrigblieb, war das Ringgebirge, von dem es die ganze Zeit über schützend umgeben gewesen war.

    Und so war geschehen, was geschehen musste. Das Dunkle Zeitalter war angebrochen – ein Zeitalter des Schreckens und der Angst, und es machte seinem Namen schon bald alle Ehre, denn es brachte ein Wesen mit in die Welt, das kein Herz besaß.

    Einige hunderttausend Jahre später…

    Der Herrscher des dunklen Zeitalters

    »Sieh an, ein feiner Leckerbissen!«, sagte er und bückte sich rasch nach dem Regenwurm, der gerade noch versuchte zu entkommen. Er packte ihn schnell am hinteren Ende, zog ihn aus dem Rinnsal und betrachtete ihn genüsslich von allen Seiten.

    Der arme Regenwurm zappelte um sein Leben und wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass der Himmel eine Pforte öffnen möge, in die er blitzschnell hineinverschwinden konnte. Er schaute ängstlich nach unten und erblickte im Rinnsal, aus dem er gekommen war, sechs kleine Augen, die nach ihm Ausschau hielten. Dann blickte er Hilfe suchend nach oben – hoffend auf himmlische Rettung. Aber dort oben war nichts weiter zu sehen, als nur ein grauer Wolkenschleier, und es geschah auch sonst nichts, was ihn jetzt noch hätte retten können.

    Er, der ihn in seinen Fängen hielt, starrte ihn aus kalten Augen an und öffnete langsam sein riesiges Maul – bereit, ihn jeden Moment zu verschlingen. Als der Wurm den finsteren Schlund sah, wusste er, dass dies wohl nun sein Ende war. Und da musste er noch einmal an seine drei kleinen Kinder denken, die er hinterlassen würde, und an Irmhild, seine Frau, die im vergangenen Herbst versehentlich unter die Räder einer Kutsche geraten war und diesen Unfall nicht überlebt hatte. Kopfüber baumelnd glitt er langsam hinein in den dunklen Schlund. Sein Herz pochte so laut, dass er es sogar selbst deutlich hören konnte. Und als er an den ungewöhnlich großen Zähnen vorbeibaumelte und geradewegs in Richtung Rachen wanderte, wo ihm ein unangenehmer Geruch entgegenströmte, fügte er sich seinem Schicksal und schloss die Augen.

    Umso mehr aber war er überrascht, als er genau in diesem Moment ein lautes ›Halt!‹ von draußen hörte und er schneller wieder aus dem dunklen Schlund herauskam, als er hineingekommen war. Er schaute sich staunend um. Der mit den kalten Augen starrte ihn fassungslos an. Der Wurm räusperte sich verlegen und wusste auch nicht so recht, was er jetzt sagen sollte, denn es war nicht er gewesen, der ›Halt!‹ gerufen hatte. Da fasste der Wurm all seinen Mut zusammen, blickte dem gefräßigen Menschen in die Augen und sagte selbst laut und deutlich: »Halt!« Wenn er es sich nämlich so recht überlegte, wollte er überhaupt nicht sterben. Jedenfalls nicht jetzt und schon gar nicht in solch einem muffigen Schlund. Er hing noch immer kopfüber baumelnd in der Luft, aber er war am Leben und nur das zählte jetzt. Dann drehte er sein Köpfchen und schnüffelte neugierig herum. Irgendetwas roch hier plötzlich streng.

    Der mit den kalten Augen machte ein zorniges Gesicht, hielt ihn in die Höhe und brummte: »Was heißt denn da ›Halt!‹? Sei gefälligst ruhig, du nichtsnutziger Wurm und zapple nicht so herum! Du verdirbst mir damit noch den ganzen Appetit!«

    »Aber…, ich…, ich schmecke ekelhaft! Ehrlich.«, erklärte der Wurm geschwind und streckte dem Hungrigen tapfer sein anderes Ende hin. »Hier bitte, riech selbst.«

    Der fürchterliche Gestank aus der Umgebung erreichte pünktlich die Nase des Hungrigen, dem auf der Stelle die Essenslust verging. Er rümpfte die Nase, zog eine Grimasse und hielt den Wurm weit weg von sich. Unter diesen Umständen verzichtete er gerne auf eine Zwischenmahlzeit und einmal ganz abgesehen von dem üblen Geruch, konnte dieser mickrige Wurm seinen Hunger ohnehin nicht stillen, und so ließ er ihn kurzerhand wieder zurück ins Rinnsal fallen. Dann zog er mit großen Schritten ab und rieb sich wütend die Hände an seinem Mantel sauber.

    »Ein stinkender Regenwurm! Wo in aller Welt hat man denn so etwas schon gesehen!«, meckerte er.

    Acht Augen lugten aus dem Rinnsal und verfolgten ihn wachsam, bis er um die nächste Ecke gebogen war. Es waren die Augen des Regenwurms und seiner drei kleinen Kinder.

    »Wie habt ihr denn das nur wieder angestellt?«, fragte Vater Wurm seine Kleinen. Sie lachten, dann antwortete der älteste von ihnen: »Als wir sahen, dass er dich verschlingen will, hatten wir plötzlich große Angst, dich zu verlieren und da haben wir alle zusammen so laut wir nur konnten ›Halt!‹ gerufen, um ihn abzulenken. Wir haben dich doch so lieb Papa und wir brauchen dich noch!« Sie schmiegten sich ganz fest an ihren Vater. Dann ließen sie plötzlich von ihm ab und holten ein kleines Glasröhrchen mit abgebrochenem Hals herbei, das beinahe so groß war, wie sie selbst. Sie kicherten und erzählten ihrem Vater aufgeregt, was es mit diesem Röhrchen so auf sich hatte.

    »Ein Parfum?«, fragte Vater Regenwurm mit gerümpfter Nase.

    »Ja! So nennen es die Menschen!«, riefen die Kleinen im Chor. Ihr Vater schüttelte lachend den Kopf und meinte: »›Stinkbombe‹ wäre wohl der geeignetere Ausdruck dafür. Findet ihr nicht?«

    »Stinkbombe? Ja! O ja, das ist ein tolles Wort!«, kreischten sie aufgeregt durcheinander.

    War dieser Tag etwa jener Tag, an dem tatsächlich die Stinkbombe erfunden wurde? Niemand weiß das so genau.

    »Wisst ihr was? Ihr seid ein Geschenk des Himmels!«, sagte Vater Regenwurm und drückte seine Kleinen liebevoll an sich.

    »Du Papa.«, meldete sich da der Kleinste plötzlich.

    »Ja.«, sagte Vater Regenwurm ruhig und schaute zu ihm hinab.

    »Das war kein Mensch. Das war ein Scheusal. Das haben wir ganz genau gesehen. Es hatte so hässliche Hände und so böse Augen.«

    Seine beiden Geschwister bestätigten dies mit einem stummen Nicken.

    Vater Regenwurm betrachtete seine Kinder noch lange nachdenklich.

    Der Hungrige war indes weit vorangekommen. In den engen Gassen der alten Stadt, durch die es ihn nun trieb, ragten zu beiden Seiten farbenfrohe Häuser mit wunderschönen Erkern hoch auf. An einigen Fenstern hingen noch die Strohsterne der vergangenen Weihnacht, die erst ein paar Wochen zurücklag. Vor jedem Haus standen große weiße Laternen mit brennenden Kerzen darin, und über so manchem Türbogen wucherte Immergrün in dicken Strängen bis zum Boden herab.

    Aber diese Schönheit um ihn herum, welche die Liebe der Menschen zum Leben widerspiegelte, war ihm zuwider. Er verabscheute grundsätzlich alles Schöne und je mehr er davon sah und spürte, desto unwohler fühlte er sich.

    »Pfft! Hat das Menschenpack hier nichts Besseres zu tun, als sich nur mit solch dämlichem Schnickschnack zu beschäftigen?«, murrte er am Vorübergehen. »Ich werde mir schon etwas einfallen lassen, um ihnen ihr schönes Leben noch zur Hölle zu machen –«

    Wieder und wieder roch er an seinen Händen und schrie: »Pfui Teufel!« Er schüttelte sie und polierte sie unzählige Male am Stoff seines Mantels, um dann doch nur immer wieder feststellen zu müssen, dass der üble Geruch trotz all seiner Bemühungen an ihm haften blieb. Und als er bemerkte, dass seine Hände plötzlich keine Hände mehr waren, sondern schuppengepanzerte Pranken, sah er sich verstohlen um und versteckte sie geschwind in den Tiefen seiner Manteltaschen.

    »Schnell weg hier.«, knurrte er. Er zog sich die Kapuze tief ins Gesicht und hetzte durch die allmählich im Nebel versinkende Stadt. Er wollte schnell nach Hause, wo er etwas Vernünftiges zu essen bekam und wo er sich (wenn es sich nicht doch noch irgendwie umgehen ließ…) seine Pranken waschen konnte.

    Ab und an begegneten ihm auf seinem Weg durch die Stadt ein paar Menschen. Urplötzlich tauchten sie aus dem Nebel auf, lachten fröhlich, unterhielten sich angeregt und eilten schnell an ihm vorüber. So manch einer von ihnen drehte sich noch kurz einmal um und rief ihm zu: »Seife und Wasser wirken manchmal wahre Wunder!«, oder, »Puh! Da sträuben sich einem ja die Nasenhaare!«, und verschwand im nächsten Moment wieder im Dickicht des Nebels.

    Er zischte jedes Mal böse zurück und suchte schnell das Weite. Immer wieder musste er an den Wurm denken, der ihm dieses Schlamassel eingebrockt hatte. Andererseits aber lachte er sich auch wieder ganz verschlagen ins Fäustchen, denn er wusste, dass all diese ›dämlichen Menschen‹ – wie er sie gerne nannte – nicht sehen konnten, wer er wirklich war und was sich hinter seiner Maskerade tatsächlich verbarg. Für sie war er nichts weiter, als ein gewöhnlicher Mensch, wie jeder andere auch – Geruch hin oder her.

    Schnell war er am Rande der Stadt angekommen, wo ihm kaum noch jemand begegnete,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1