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Das Spinnennetz des Schwarzen Schmetterlings
Das Spinnennetz des Schwarzen Schmetterlings
Das Spinnennetz des Schwarzen Schmetterlings
eBook355 Seiten4 Stunden

Das Spinnennetz des Schwarzen Schmetterlings

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Über dieses E-Book

Im Vertrauen darauf, dass sich die Menschheit aus ihrem selbst verschuldeten Unheil befreit, beobachten die weisen Vier das Weltgeschehen. Doch die Lage spitzt sich immer weiter zu. Hunger, Kriege, Sklaverei und nirgendwo auf ihrem alten Heimatplaneten auch nur ein einziger Hoffnungsträger. Die Zeit drängt und die weisen Vier geben Napoleon den Auftrag einen Erdenbürger zu finden, der der Menschheit ihre wahre Bestimmung offenbart.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Apr. 2017
ISBN9783742788535
Das Spinnennetz des Schwarzen Schmetterlings

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    Buchvorschau

    Das Spinnennetz des Schwarzen Schmetterlings - Charlie Hausmann

    Unheimliche Prophezeiungen

    Eine einzige Begegnung kann Deinen innigsten Wunsch erfüllen, Dich ins Zauberland der Magie entführen und die Grundfesten der Realität mit Poesie beflügeln.

    Für Philie Sommer reihten sich die Signaturen des Schicksals in jenen heißen Julitagen wie schwarzweiße Perlen aneinander. Ein Flugzeugabsturz hatte ihr das Liebste genommen. Nun waren die Krieger des Himmels ausgezogen, um das Brachland ihrer Trauer mit Glückseligkeit zu begrünen.

    Ihr letzter Schultag im Klosterinternat begann, als hätte das Leben seit Jahren auf diesen Augenblick gewartet. Wie an jedem Morgen hielt sie in der Fensternische im Flur, gegenüber ihrer Zimmertür unter dem Fresko des heiligen Christophorus, kurz inne. Sie sandte Grüße an ihren Vater und bat um Liebe, Glück und Frieden für die ganze Welt.

    Als sie aufsah, blickte sie in zwei meerblaue Augen. Der Mönch, der sie bis vor wenigen Wochen in Religion und Geschichte unterrichtet hatte, reichte ihr die Hand: „Meine Gratulation, Deine erste Prüfung hast Du mit Bravour bestanden."

    Ein wohligwarmes Gefühl füllte den Raum zwischen dem drahtigen Greis und der sportlichen jungen Frau, die sich artig bedankte.

    Pater Thaddäus zeichnete mit seiner Linken eine liegende Acht über ihren ineinander ruhenden Händen und bettete Philies Hand auf die seine. An ihrem rechten Ringfinger funkelten jetzt vier in Gold gefasste Smaragde.

    „Für mich?"

    „Wir, die Hüter der wertvollsten Kostbarkeit der menschlichen Evolution haben entschieden, Dich durch die Prüfungen Deiner Wanderjahre mit einem Geschenk zu begleiten, in dem die Essenz des Göttlichen vom Anbeginn der Zeit verewigt ist."

    Schüler strömten an ihnen vorbei, begrüßten einander ausgelassen, riefen sich ihre Pläne fürs Wochenende zu und eilten in ihre Klassenzimmer weiter. Doch die Stelle, an der sich die Wege der beiden kreuzten, umgab himmlische Ruhe.

    Durch sie hindurch flüsterte Pater Thaddäus: „Das ist noch nicht alles. Wenn Du willens bist, die unberührten Paradiese der menschlichen Natur als Erste zu entdecken, dann werde ich Dir die Bedeutung der Steine offenbaren."

    Philie nickte sehnsüchtig. Ihr schwebte eine Kajaktour durch die kanadische Wildnis vor, sie grillte an einem knisternden Lagerfeuer Steaks und amüsierte sich über das tollpatschige Junge einer Schwarzbärenmutter.

    Auf den kantigen Gesichtszügen von Pater Thaddäus, die von einer Kapuze beschattet waren, tanzten vier Bilder im Kreis und gruben Philie die Botschaften der Zukunft in die Seele: Sie schürfte in einem Bergwerk nach Gold, tanzte mit ihrem Vater auf ihrer Hochzeit, raste in einem offenen Vierspänner über den Himmel und kehrte verendete schwarze Schmetterlinge über eine Kliffkante ins Meer.

    Untermalt von der freundlichen Stimme des Paters, zogen die Bilder unermüdlich ihre Kreise:

    „Ein Stein für das Lauschen in die Zukunft,

    ein weiterer für den Glauben, dass Zeiten und Welten verschmelzen, der dritte für die Kräfte des Himmels und der vierte für den Sieg über die Tyrannen.

    Du siehst Bilder, hörtest ihren Sinn und trägst den Ring aus verlorenem Gold. All diese Dinge stehen für sich und sind doch eins, weil sie nur dem einen Ziel dienen: Den größten Schatz der Welt zu bergen."

    „Ein Rätsel?", fragte Philie beklommen.

    „Die Zukunft."

    „Nach diesem Tag wird nichts mehr so sein wie es war?"

    „So ist es, liebe Philie, doch egal was geschieht: Du bist immer beschützt", versprach Pater Thaddäus. Dann verabschiedete er sich.

    Philie blieb mit großen Augen zurück. Ihr war, als hätte ihr jemand sein schlagendes Herz in die Hand gelegt. Ein Leben, für das sie jetzt Verantwortung trug. Ein kraftvolles Pochen, das zum Aufbruch drängte und sie mit Wogen voller Zuversicht durchflutete.

    Sie strich versonnen über den Ring, dessen magisches Grün das altehrwürdige Gemäuer mit seinem paradiesischen Licht durchdrang, versuchte ihn zu drehen und vom Finger zu ziehen. Der Ring rührte sich nicht von der Stelle. Sie zerrte daran, benetzte ihre Haut mit Speichel, der Ring blieb haften.

    Obwohl sie außer einer schlichten Herrenuhr niemals Schmuck trug, sprach sie keine ihrer Freundinnen auf die auffällige Kostbarkeit an. Es schien, als sei der Ring und das dazu Gesagte nur für sie bestimmt. Und für all jene, denen er sich zeigte.

    Am Abend feierte Philie mit ihrer Klasse zum letzten Mal im urigsten Wirtshaus der Stadt.

    Sie sah andächtig durch die hohen Fenster der Gründerzeitvilla auf das barocke Eingangsportal der Klosterschule. Im gegenüberliegenden Internat hatte sie ihre letzten sieben Schuljahre verbracht. Seltsam, jahrelang habe ich diesen Moment herbeigesehnt und jetzt bin ich traurig, sinnierte sie.

    Der Rauch selbstgedrehter Zigaretten vernebelte die Wirtsstube.

    Benno, der als einziger das Abitur nicht bestanden hatte, stierte in einen halbleeren Bierkrug, den er mit beiden Händen festhielt.

    Die Hand von Freddy, dem Klassencasanova, lag auf dem Knie der blonden Jenny.

    Arnold graute es vor morgen, weil er zurück nach Hamburg zu seinen konservativen Eltern musste.

    Robert, Elvira und Luzie lagen sich singend in den Armen; sie fliegen morgen in aller Frühe für zwei Monate nach Australien.

    Max, der Klassensprecher, erhob sein Glas und rief: „Nie wieder Schule!"

    Gläser klirrten und Stimmengewirr erfüllte den Raum, als die Tür aufsprang und eine Windböe über die Köpfe hinwegheulte.

    Mit einem Schlag war es still. Alle starrten auf eine dunkel gewandete Alte. Ein Bierglas fiel um, rollte über die Tischkante und zersplitterte auf den Fliesen.

    Die hellwachen Augen der Alten wanderten suchend durch den Raum. Als sie Philie entdeckte, ging ein Lächeln über ihr von der Sonne gegerbtes Gesicht. Sie raffte ihren wallenden Rock zusammen und stützte sich auf ihren Stock. Wie auf ein stummes Kommando sprangen sechs Schüler auf, rückten geschwind Stühle zur Seite und bildeten eine Gasse, durch die die Alte majestätisch an Philies Tisch schritt.

    Max, der links neben Philie saß, wurde blass. Seine Hände zitterten.

    Die Alte schien die Welt um sich zu vergessen. Sie kniff ihre Augenbrauen zusammen, konzentrierte sich auf Philie und sagte mit glasklarer Stimme: „Tausend Grüße von jemandem, der in der Welt hinter den Sternen auf Dich wartet."

    Philies Augen füllten sich mit Tränen. Eine Boeing taumelte vom Himmel, schlug auf dem Wasser auf und ihr Lebensglück versank im Meer. Sie suchte nach der Hand von Max und flüsterte: „Daddy?"

    Philies Vater war vor einem Jahr mit seinem Flugzeug über dem Atlantik abgestürzt. Noch immer hoffte sie auf ein Zeichen oder ein Wunder. Und jetzt kam diese Frau und bestellte ihr Grüße aus einer Welt, in der ihr Dad nicht sein durfte. Aber wer Grüße bestellt, muss leben, auch wenn alles dagegen spricht.

    „Ich bin immer bei Dir. Wenn ich eines Tages nicht mehr zu Dir zurückkomme, bin ich in die Welt hinter den Sternen geflogen", hatte er sie jedes Mal getröstet, wenn sie nicht zulassen wollte, dass er sich wieder einmal von ihr verabschiedete.

    „Das waren die letzten Worte meines Daddys, bevor er, Philie schluchzte, „zum Flughafen gefahren ist.

    Die Alte berührte Philies nackten Unterarm. Philie zuckte unwillkürlich zurück. Am knochigen Ringfinger der Alten glitzerte das Ebenbild ihres Rings.

    Hauchzarte Bänder stummen Verstehens webten eine smaragdfarbene Brücke von der einen Seele zur andern.

    Philie atmete ruhiger. Die Alte öffnete Philies Hand und zeichnete mit ihrem Zeigefinger deren Schicksalslinie nach.

    Gregor, der väterliche Wirt, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete hinter der Theke mit zunehmendem Unmut den Auftritt der Alten.

    Er lief auf die beiden zu und rief: „Jetzt reicht es! Dann packte er die Alte am Arm und befahl: „Du verlässt sofort mein Lokal!

    „Ich bin nicht wegen Dir gekommen", wies ihn die Alte ab.

    Sie nahm Philies Hand, legte sie auf ihr Herz und sagte: „Gib auf Dich acht. Das wird der gefährlichste Sommer Deines Lebens."

    „Ich fahre nach Hause", antwortete Philie.

    Verunsichert ließ Gregor die Alte los. Er zog sich zwei Schritte zurück und lehnte sich an die Theke.

    „Du musst Deinen Träumen vertrauen", flüsterte die Alte.

    „Ich muss meinen Träumen vertrauen", murmelte Philie.

    Die Alte senkte ihre Lider und sagte mit geisterhafter Stimme: „Unter dem Dach einer dunklen Villa, am Ende der Treppe wartet das grauenvolle Geheimnis des schwarzen Zeichens auf Dich. Von dort führt ein Weg zum Zuhause Deines Vaters."

    Philie lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Die Alte drehte sich um. Philie sprang auf. Es gibt außer mir noch jemanden, der das schwarze Zeichen kennt.

    Das schwarze Zeichen ist ein Gebilde in Form eines Schmetterlings. Bisher war es zwei Mal in Philies Leben erschienen. Ihr Vater hatte es kurz vor seinem Tod erwähnt und es gab jemanden, von dem Philie wusste, dass er das schwarze Zeichen trug.

    Vor ihr, auf dem gekrümmten Rücken der Alten, erschien Philie ein Gesicht. Sie blickte in zwei düstere Augen, neben dem rechten zeichnete sich auf bleicher Haut ein dunkles Mal ab.

    Doch anstatt nach dem Aussehen des Mals zu fragen oder gar den Namen der Person die es trägt zu nennen, flüsterte sie: „Wohnt er in meiner Nähe?"

    „Du wirst eine Nachricht erhalten", antwortete die Alte und strebte zur Tür.

    Philie, die endlich die Wahrheit über ihren Dad und das ominöse Zeichen erfahren wollte, lief ihr hinterher und rief: „Halt! Sie dürfen nicht gehen."

    Die Alte hauchte ihren warmen Atem auf Philies Stirn. Und Philie, deren Wissen über das schwarze Zeichen in Windeseile verflog, trat entrückt zur Seite.

    „Morgen, in der Nähe der Villa, wirst Du Dich wieder erinnern", versprach die Alte und verließ, auf ihren knorrigen Stock gestützt, das Lokal.

    „Endlich ist sie weg, sagte Gregor erleichtert und fragte Philie, noch immer verunsichert: „Kennst Du sie?

    Ihre Klassenkameraden und Gregor blickten schweigend auf Philie, die der Alten abwesend hinterher sah.

    „Kenne ich sie?, fragte sich Philie und fügte nach einer Weile hinzu: „Sie heißt Amira.

    Max legte seinen Arm um Philies Schultern und sagte: „Hokuspokus. Die spinnt doch. Lass´ Dir keine Angst einjagen."

    Philie sah ihren Vater in seiner Kapitänsuniform hinter den Scheiben eines Taxi winken und erwiderte: „Vielleicht hat sie ja recht."

    Max bemerkte Philies feuchtglänzende Augen und erinnerte sich an die endlosen Stunden, gefüllt mit zermürbenden Fragen zum Tod ihres Vaters. Warum er? Warum so früh? Warum habe ich ihn nicht aufgehalten? Vielleicht ist das alles nur ein böser Traum und wenn ich heimkomme, wartet er auf der Bank vor unserem Haus auf mich? Wie soll es nur ohne ihn weitergehen?

    Es erging Philie wie allen andern auch, denen der Tod eine brennende Schneise ins Leben geschlagen hatte. Es gibt keinen Ausweg aus diesem trostlosen Labyrinth, außer Wochen und Jahre, die gnädige Schleier der Betäubung über schmerzliche Verluste wehen. Die Zeit schenkt Linderung, aber niemals Vergessen.

    Nichts anderes als fetzige Rockmusik kann ihren Kummer jetzt vertreiben, sagte sich Max und rief: „Gregor, spiel uns unsere Lieblingslieder.

    Alle klatschten und Max flüsterte Philie ins Ohr: „Denk’ nicht mehr an sie. Das war nur ein dummer Zufall."

    Max erzählte Witze, über die Philie lachte. Elvira fegte mit Luzie durch die Wirtsstube, Robert sang die Texte laut mit und Benno trank mehr, als ihm gut tat.

    Um vier Uhr in der Früh fiel Philie todmüde ins Bett und als sich am darauffolgenden Nachmittag alle lautstark voneinander verabschiedeten, war die unheimliche Alte vergessen.

    Nur der Ring erinnerte Philie an die merkwürdigen Ereignisse des vergangenen Tages. Ereignisse, die für sich betrachtet, keinerlei Sinn ergaben. Die zusammengefügt aber das Bild einer trauernden Tochter zeigten, die am Unfalltod ihres Vaters zweifelt. Ein Pater streift ihr einen grün leuchteten Ring über den Finger und ein ergrauter Engel weist ihr den Weg.

    Max stand noch mit Philie zusammen und fragte: „Weiß Deine Mutter inzwischen, dass Du nicht studieren willst?"

    „Ich sage es ihr schon noch und überhaupt, auf dem Hof wird jede Hand gebraucht."

    „Sie wird sich fürchterlich aufregen."

    Sie schlenderten zu Philies Wagen und Philie sagte: „Ich muss los, komm’ uns bald besuchen."

    Dann schwang sie sich hinters Lenkrad und kurbelte das Autofenster herunter.

    „Sag’ es ihr bald", drängte Max, der nicht wollte, dass seine Freundin Ärger mit ihrer Mutter bekam.

    „Du bist immer so vernünftig."

    Philie fuhr hupend und winkend vom Hof. Sie lenkte ihren Wagen durch den zähfließenden Wochenendverkehr aus der Stadt zur Autobahn. In zwei Stunden bin ich auf Grandmas Bauernhof und dann bringt mich so schnell nichts mehr von dort weg.

    Nach einer Stunde Fahrt entdeckte sie am Himmel die Kondensstreifen eines Flugzeugs. Tausend Grüße von jemandem, der in der Welt hinter den Sternen auf dich wartet,

    kam ihr in den Sinn.

    „Tausend Grüße zurück", sagte sie sehnsuchtsvoll vor sich hin.

    Gestern, unmittelbar nach Amiras Erscheinen, war ihre Trauer der Gewissheit gewichen, dass es einen Weg zurück zu ihrem Dad geben musste. Und es schien ihr, als würde sie seit jenem Augenblick geradewegs in seine weit ausgebreiteten Arme laufen.

    Sie drehte ihren Lieblingssender bis zum Anschlag auf und flüsterte: „Der gefährlichste Sommer meines Lebens. So ein Unsinn."

    Der Fahrtwind zerrte an Philies blonden Struwwelhaaren und wehte ihr die viel zu langen Ponyfransen aus der Stirn. Sie zweigte von der Bundesstraße in ein weit geöffnetes Tal ab, das die Zacken eines Bergmassivs wie eine Krone umrahmten und machte inwendig Luftsprünge: Nur noch ein Katzensprung bis zu Mum und Grandma.

    Hinter der ersten Kurve thronten auf einer Anhöhe die imposanten Gebäude eines ehemaligen Herrensitzes. Nach dem plötzlichen Tod des alten Hausherrn hatten sie über zehn Jahre auf ihren neuen Besitzer gewartet.

    Erst im Frühjahr vor zwei Jahren ist dann Professor Doktor Heinrich Castori mit seinem Sanatorium in die hochherrschaftlichen Räume gezogen.

    „Eine Irrenanstalt für die bessere Gesellschaft", munkelte man in den umliegenden Wirtshäusern im Tal.

    Philie dachte an die düsteren Augen von Castori, dem Leiter des Sanatoriums und mit einem Mal fiel ihr Amira wieder ein: „... am Ende der Treppe wartet das grauenvolle Geheimnis des schwarzen Zeichens auf Dich. Von dort..."

    Sie bremste, stieg aus und betrachtete die Mauern, vor denen das Unglück die Hand nach ihr ausstreckte. Und die zugleich das Versprechen auf ein Wiedersehen mit ihrem Dad symbolisierten.

    Seltsam. Amira und ich tragen den gleichen Ring. Sie muss auf Castori angespielt haben. Wenn ich nur wüsste, welche Treppe sie meint.

    Amiras Prophezeiungen ängstigten sie nicht. Es war viel mehr so, dass sie am liebsten sofort in das Anwesen des Bösen gestürmt wäre, um Castori und seinen schwarzen Kameraden den hinterhältigen Anschlag auf ihren Dad vorzuwerfen.

    Sie stieg wieder ein, legte die Arme um das abgegriffene Lenkrad und spazierte in Gedanken durch das schneeweiße Hauptgebäude des Sanatoriums.

    Nach einer halben Stunde flüsterte sie beim Anfahren: „Die Villa der dunklen Gedanken. Dort wohnt der Räuber meiner Lebensfreude. Wenn ich ihn Hals über Kopf zur Rede stelle, ist er gewarnt und ich erfahre nie die Wahrheit. Also, reiß dich zusammen und verhalte dich so, als hättest Du keine Ahnung. Das ist am klügsten."

    Die felsigen Gipfel mit ihren sattgrünen Hängen rückten auseinander und ein weiter Talgrund tat sich auf. Philie bog auf eine private Zufahrtsstraße ab, die sich in engen Serpentinen den Berg hinaufschlängelte.

    Als ihr nach zehn Minuten von einem honiggelben Kiefernbalkon rote, üppig wuchernde Geranien entgegenleuchteten, seufzte sie: „Endlich."

    Sie brauste mit quietschenden Reifen auf Großmutter Irmis Hof und jubelte: „Daheim, daheim, endlich wieder daheim!"

    Dann rannte sie ums Haus und rief: „Muum, Grandmaaa!"

    „Keiner da", murmelte sie enttäuscht, obwohl klar war, dass an einem heißen Sommertag wie heute beide beim Heu machen waren.

    Als sie das bunte „Herzlich willkommen" Schild über der Haustür entdeckte, lächelte sie gerührt. Sie schlenderte zu ihrem hellgrünen Polo zurück und schleppte einen Rucksack und zwei prall gefüllte Reisetaschen vors Haus.

    Froh und von der kurzen Nacht noch müde, lehnte sie sich an die sonnenwarme Hauswand und genoss die Aussicht ins Tal. Links vor ihr lag das rechteckige Gebäude des Sanatoriums, das in seinen Hochglanzkatalogen um wohlhabende und gestresste Kundschaft warb. Eine weiße Mauer begrenzte das weitläufige Anwesen. Das aus dieser Perspektive wie eine Insel inmitten grüner Wellenberge wirkte.

    Philie sah sich wachsam um und flüsterte: „Ich hab´s immer gewusst: Castori ist gefährlich, aber er kennt den Weg zum Haus meines Dads."

    Die Villa der dunklen Gedanken

    Doktor David Specht kletterte umständlich aus dem Fond der dunklen Limousine, die jeden Gast vom Bahnhof zum Sanatorium brachte. Er richtete sich auf, überragte die Limousine ein gutes Stück, rückte seine dezent gemusterte Krawatte zurecht und sank wieder in sich zusammen.

    Der elegante Chauffeur, der Specht die Wagentür aufhielt, sagte: „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Ihr Gepäck wird sofort auf Ihr Zimmer gebracht. Sie wohnen in der Fünfundzwanzig, genauso wie im vergangenen Jahr."

    Ihm war nicht verborgen geblieben, was all den Bedrückten, die Professor Castori aufsuchten, wichtig war: Sie bestanden darauf, immer alles wie gewohnt vorzufinden. Selbst auf kleinste Veränderungen reagierten sie mit Unruhe und Ängstlichkeit.

    „Alles muss seine Ordnung haben", diese Überzeugung teilte Professor Castori mit jedem, der ihm seinen verwirrten Geist anvertraute.

    In der prachtvollen sommerlichen Bergwelt wirkte der kraftlose Specht wie ein Fremdkörper und der Chauffeur erinnerte sich ungläubig daran, was ihm Professor Castori vor seiner ersten Fahrt zum Bahnhof eingeschärft hatte: „Das Wort Patient streichen Sie bitte aus Ihrem Vokabular. In unserem Haus logieren ausschließlich Gäste."

    Specht bestätigte den Eindruck des Chauffeurs mit einem müden: „Ich danke Ihnen, Sie dürfen mich jetzt alleine lassen."

    Dann erklomm er wie ein altersschwacher Greis die vier Stufen bis zum Eingang.

    Der Chauffeur betrachtete, den Wagenschlag noch in der Hand, Spechts geduckte Gestalt, deren magere Arme einen schwarzen Aktenkoffer an einen ebenso mageren Brustkorb pressten.

    Specht drückte die Türklinke nach unten und flüsterte: „In sechs Wochen geht es mir wieder gut. Er wird mir helfen, meine Ängste zu besiegen. Außerdem hat er mir neue, noch wirksamere Medikamente versprochen."

    Wenn Specht er sagte, dann meinte er Professor Castori.

    Die schwere Eichentür fiel ins Schloss. Spechts dunkelbraune Augen huschten unter einer fliehenden Stirn ängstlich durch die unbehaglich kühle Eingangshalle.

    Von Professor Castori aus dem Halbdunkeln der zweiten Etage heimlich beobachtet, stellte er seine Aktentasche auf die beigen Marmorfliesen und tupfte mit einem weißen Stofftaschentuch den Straßenstaub von seinen schwarzen Halbschuhen. Das verschmutzte Taschentuch legte er sorgfältig wieder zusammen und verwahrte es in einer durchsichtigen Plastiktüte, von denen er stets zwei Stück in seiner linken Anzugtasche bei sich trug.

    Castori rieb sich die Hände: Meine Maßnahmen waren erfolgreich. Sein Zustand hat sich, wie geplant, verschlechtert. Er öffnete lautlos die Tür zu seinem Büro, wartete ein paar Sekunden. Und knallte sie wieder zu.

    Specht drückte seine Arme verschreckt an seinen Brustkorb und duckte sich.

    Castori lächelte zufrieden und dachte selbstgefällig an die Gesetze, die er für seine Gäste erlassen hatte: „ Seine Reflexe diktiert ihm Paragraf eins: Warten erhöht die Anspannung."

    Das war die Fanfare des Wiedersehens, sagte sich Specht erregt, während er erwartungsvoll das Kirschbaumgeländer im zweiten Stock fixierte.

    Castori beugte sich über die Brüstung und winkte Specht zu, der beschämt die Augen niederschlug.

    Ich glaube, ich habe alles richtig gemacht, hoffte Specht und umklammerte in seiner rechten Jackentasche ein schwarzes Notizbuch, in dem er die Zauberformeln für Castoris Zuneigung zusammengetragen hatte: Gesten und Worte, die seinen hochverehrten Lehrmeister erfreuten oder ihm die Laune verdarben.

    Von diesem Schatz durfte Castori nie etwas erfahren. Denn er pflegte zu schimpfen: „Intelligente Menschen brauchen keine Notizen. Notizen sind Hilfsmittel für Dumme."

    Castori wusste von diesem Buch und er wusste auch, dass jeder Gast solch ein Buch wie seinen Augapfel hütete. In seinem Räderwerk der Unterdrückung waren die geheimen Bücher seiner Gäste unverzichtbare Machtinstrumente.

    Paragraf 2 überhäufte Castoris Gäste mit Vorschriften und zwang sie, um im Paragrafengewirr nicht die Orientierung zu verlieren, eifrig mitzuschreiben. „Ein ausuferndes Regelwerk für einfache Abläufe schafft Abhängigkeit von schriftlichen Protokollen, die einem davor bewahren, sich durch Fehler dem Gespött auszuliefern."

    Specht flüsterte ehrfürchtig: „In wenigen Sekunden darf ich ihm wieder meine Hochachtung erweisen."

    Unter der Überschrift „Anreise hatte er sich nach seinem ersten Besuch bei Professor Castori notiert: „Während Ihres Aufenthalts in meinem Haus bin ich jederzeit für Sie da, Sie sind mein Gast. Ich selbst hole Sie in der Halle ab und begleite Sie auf Ihr Zimmer.

    Mein Zimmer, nicht irgendein Zimmer. Ich bin so dankbar für Professor Castoris Fürsorge und dem Behütetsein eines randvoll gefüllten Terminkalenders, der mich vor Überraschungen verschont, die mich nur verunsichern würden. Jede von Professor Castori verplante Minute gibt mir Sicherheit und nimmt meinem Leben den Schrecken der Unkalkulierbarkeit. Ich darf mich glücklich schätzen, von einer Kapazität wie Professor Castori ernst genommen zu werden. Er spricht mich von der Schande einer Krankheit frei, über die meine Nachbarn nur hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln wagen: „Mein verehrter Doktor Specht. Sie sind nicht krank, Sie haben sich in einem Labyrinth aus Problemen verirrt, die wir gemeinsam lösen werden."

    Ich will nicht krank sein und vor Problemen sind selbst Helden nicht gefeit.

    Specht ahnte nichts von Paragraf drei, der aus der Scham aller, die ähnliches wie er durchmachten, entstanden war: „Psychische Krankheiten sind hässlich und abstoßend. Die Menschen decken sie mit eisernem Schweigen zu. Niemand will sich das Etikett eines Schwächlings an die Brust heften, um am Rand der Gesellschaft ein Schattendasein zu fristen und zu hoffen, irgendwann einmal ein Quäntchen Glück von den Tischen der Privilegierten zu erhaschen. Probleme sind etwas Alltägliches – für sie braucht sich niemand zu schämen."

    Paragraf drei garantierte Castori, an allen Tagen des Jahres, ein ausgebuchtes Haus.

    Der vornehm hagere Castori schritt die Treppe herunter und Specht flüsterte beeindruckt: „Diesen Moment habe ich herbei gesehnt."

    Castori, der dunkle Kleidung bevorzugte, weil alles Grelle den Massengeschmack bedient, trug einen schwarzen Maßanzug und lächelte wohlwollend. Specht errötete und dachte: Er lächelt mich an.

    Castori, der Spechts Verlegenheit bemerkte, war überzeugt: Bald schlägt er mir selbst die absurdeste Bitte nicht ab.

    Gleich gibt er mir die Hand, durchfuhr es Specht, während er der persönlichen Begegnung mit seinem Retter entgegenfieberte.

    Castori breitete auf der untersten Treppenstufe die Arme aus: „Mein lieber Doktor Specht, schön Sie wieder hier zu haben."

    Mein Lieber, er hat mein Lieber gesagt, freute sich Specht aufgewühlt. Ihm zitterten die Knie, als Castori auf ihn zukam. Er drückte seinen Oberarm noch enger an seinen Brustkorb und hielt Castori steif die Hand hin.

    Castori griff beherzt zu: „Sie zittern ja."

    Und während er Spechts Hand beinahe väterlich mit seinen Händen umhüllte, versprach er gespielt warmherzig: „Die neuen Medikamente bewirken Wunder."

    „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für all das, was Sie für mich tun, danken soll."

    „Mein lieber Doktor Specht, eines Tages werde ich Ihre Hilfe ebenso dringend benötigen wie Sie heute die meinige."

    Specht nickte ergeben und Castori dachte: Ich kann den Tag, an dem er bereit ist für mich ins Gefängnis zu gehen, kaum erwarten.

    Castori gab Spechts Hand wieder frei und sagte: „Es ist an der Zeit, gehen wir nach oben."

    Die kargen Schlafkammern in der ersten Etage hatte Castori zu eleganten Gästezimmern mit luxuriösen Marmorbädern umbauen lassen.

    Castori sagte zu Specht gewandt: „Folgen Sie mir bitte und lassen Sie Ihren Koffer stehen. Der Chauffeur wird ihn nachher auf Ihr Zimmer bringen."

    „Meinen Koffer gebe ich nicht aus der Hand."

    „Wie Sie wünschen."

    Castori ging voraus. Für ihn war es ein Kinderspiel, Spechts Reaktionen einzuschätzen. Er kannte ihn einfach zu gut und vermochte ihn geschickt zu lenken.

    Specht bückte sich nach seinem Aktenkoffer

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