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Ein Ort in Italien
Ein Ort in Italien
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eBook345 Seiten5 Stunden

Ein Ort in Italien

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Über dieses E-Book

Dieser leichte Urlaubsroman macht Lust auf die nächste Reise und das ganze Leben!
Zehn völlig verschiedene Menschen treffen zufällig an einem idyllisch abgelegenen Ort in Italien aufeinander und unvermutet auch auf sich selbst. Weit entfernt von ihren alltäglichen Verpflichtungen, Rollen und Lebensinhalten werden sie mit dem konfrontiert, was in ihrem Leben wirklich zählt: verdrängte Träume, vergessene Ziele, ausgeblendete Realitäten oder die nicht verwundene Vergangenheit. Während die sechs Frauen und vier Männer vordergründig damit beschäftigt sind, ihre Gesangs‐ und Gitarrenspielkünste zu verfeinern, bauen sich unausweichlich die bislang gemiedenen Krisenherde ihres Lebens vor ihnen auf und verlangen nach einer Erlösung. Mit Leidenschaft und Liebe, Wut und Verzweiflung, Angst und Hoffnung stellen sie sich ihrem Schicksal und riskieren, dass sich ihr Leben von Grund auf ändert!
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. Nov. 2015
ISBN9783738047585
Ein Ort in Italien

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    Buchvorschau

    Ein Ort in Italien - Emmi Ruprecht

    Personen

    Die Reisegruppe

    Elli (36) ist eine große, schlanke, attraktive, brünette Frau mit wenig Selbstbewusstsein. Schüchtern und zurückhaltend ist sie stets ängstlich bemüht, es allen recht zu machen.

    Matthias (33), schlaksig, blond, bebrillt, sieht völlig harmlos aus und ist ganz der Typ „großer Junge", der nicht so recht erwachsen werden will. Er braucht viel Aufmerksamkeit und sucht ständig nach einem geneigten Ohr für sein Leid.

    Monika (49), eine immer schicke Frau mit aschblondem Haar und strengen Gesichtszügen, ist verheiratet mit einem vielbeschäftigten Bankdirektor und hat zwei fast erwachsene Kinder. In ihrem Leben dreht sich alles nur um andere und ganz besonders um ihre narzisstisch veranlagte Mutter.

    Carola (37), bildschön mit langen blonden Haaren und makellosem Äußeren, hat zielstrebig Karriere an der Universität gemacht. Das missfällt ihrem Mann Maik.

    Maik (44), ein gut aussehender, durchtrainierter Mann mit braunem Haar und dunkelbraunen Augen, führt erfolgreich den elterlichen Dachdeckerbetrieb. Er fühlt sich von seiner Frau Carola vernachlässigt.

    Petra (52), klein, zierlich, mit kurzen, schwarz gefärbten Haaren, sieht ein bisschen aus wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Sie lebt nur für ihren Beruf und die Ansprüche ihrer Eltern. Verbissen kämpft sie um Anerkennung und erwartet von sich, jederzeit perfekt zu funktionieren.

    Sabrina (41), eine üppig gebaute Blondine mit bunt gefärbten Strähnen und kunstvoll lackierten Fingernägeln, führt als alleinerziehende Mutter einen Friseursalon. Sie ist eine in jeder Hinsicht auffällige Gestalt, die unbedingt und zu jeder Zeit im Mittelpunkt stehen muss.

    Paul (47) ist ziemlich groß, hat einen kleinen Bauchansatz und dichtes braunes Haar, das seinen Kopf wie einen Helm umgibt. Er lebt als Inhaber einer Versicherungsagentur mit seiner Familie im Dorf seiner Kindheit. Dort fühlt er sich zunehmend eingeengt.

    Julie (37) ist die einzige Schweizerin im Kurs. Sie fällt auf durch ihre prachtvollen kastanienfarbenen Locken und ihr breites Lächeln. Nach außen wirkt sie selbstbewusst und distanziert. Doch eigentlich ist das nur ein Schutz, damit niemand ihre finstere Vergangenheit entdeckt.

    Josh (40), hochgewachsen, hager, mit hellblonden zerzausten Haaren und auffallend grünen Augen, kommt etwas abgerissen aus Neuseeland und ist ein überzeugter Einzelgänger. Er macht sich viele Gedanken um andere, meint aber selbst niemanden zu brauchen.

    Die Kursleiter

    Die rothaarige Gitarrenlehrerin Cosima (45) und der höchst attraktive Gesangslehrer Karl alias Don Carlos (44) verstehen es, musikalische Höchstleistungen bei ihren Schülern hervorzurufen.

    Die Gastgeber

    Stefan (47), genannt „Stefano" wegen seiner italienischen Wurzeln, und seine Frau Sandra (45) kümmern sich mit Leidenschaft um ihr Anwesen und darum, ihren Gästen einen unvergesslichen Urlaub zu bieten. Unterstützt werden sie von Edith (72), Sandras Mutter, die das Regiment in der Küche und an der abendlichen Tafel führt.

    Die Anreise

    Elli und Matthias

    Elli rast in ihrem alten japanischen Mittelklassewagen die A7 hinunter Richtung Süden. Vor ihr liegt ein Abenteuer und sie kann selbst jetzt noch nicht glauben, dass sie es wirklich in Angriff nimmt. Sie wird nach Italien fahren, zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie wird an einem Ort, von dem sie vorher noch nie gehört hat, gemeinsam mit Menschen, die sie nicht kennt, eine Woche lang Musik machen. Darüber hinaus hat sie keine Ahnung, was sie erwartet.

    Dabei ist Elli überhaupt nicht der Typ für Experimente. Normalerweise kann sie sich nur mit Mühe davon überzeugen, vertraute Bahnen zu verlassen und etwas Neues auszuprobieren. Abenteuerlust ist das Letzte, was sie mit sich in Verbindung bringt! Deshalb fragt sie sich wieder einmal, was sie nur geritten hat, sich auf dieses Wagnis einzulassen. Sie allein im Nirgendwo! Unter wildfremden Menschen und ohne auch nur ein Wort Italienisch zu sprechen! Wer weiß, was ihr allein auf der Fahrt dorthin alles passieren wird?

    Und eigentlich ist es sogar noch viel schlimmer. In der Nähe von Ulm wird jemand zusteigen. Ein wildfremder Mann, von dem sie bisher nicht mehr kennt als die E-Mail-Adresse und nicht mehr weiß, als dass er 33 Jahre alt ist, drei Jahre jünger als sie, und als Koch arbeitet.

    Das ist doch hirnverbrannt! Sie nimmt einen ihr völlig unbekannten Mann in ihrem Auto mit? Ja, ist sie denn bescheuert? Wenn ihre sterblichen Überreste in ein paar Tagen, Wochen oder Monaten irgendwo, vielleicht kurz hinter der italienischen Grenze, gemeuchelt in einer Schlucht gefunden werden, dann wird die Polizei und später die Presse nur den Kopf schütteln über so viel Naivität einer nicht mehr ganz jungen Frau, die wissen sollte, dass man nun mal keine fremden Männer in seinem Auto mitnimmt!

    Nervös steckt sie sich eine Zigarette an und nippt an ihrem Milchkaffee, den sie sich eben an der Raststätte geholt hat. Es ist noch sehr früh, erst kurz nach sechs an einem Samstagmorgen. Doch obwohl sie merkt, wie sehr sich die Aufregung auf ihren Brustkorb legt und sie Angst hat vor dem, was der Tag und vor allem die folgende Woche noch bringen wird, ist daneben auch eine Vorfreude spürbar. Es liegt etwas unendlich Verheißungsvolles über diesem frühen Sommermorgen, der wie aus dem Bilderbuch zu sein scheint. Die Landschaft zieht im intensiven Grün des beginnenden Sommers an ihr vorbei. Ab und zu flutet eine Woge von süßlich riechendem Raps ihr Auto und verdrängt den Nikotingeruch des Aschenbechers. Erinnerungen an frühere Urlaube als Kind, als Jugendliche, als junge Erwachsene, die auch mit einer Autofahrt in den Süden begannen, kommen und gehen und hinterlassen trotz all der Anspannung ein Wohlgefühl. Außerdem kann sie endlich draußen sein und den Sommer genießen, anstatt eine weitere Woche in miefigen, grauen Büroräumen zu verbringen!

    Ein tiefer Seufzer des Entzückens löst sich, als sie unvermutet von einer Bergkuppe aus einen weiten Blick in die Landschaft erhält. Großartig! Was für ein Bild! Lange wird es nicht mehr dauern, dann werden die Alpen am Horizont auftauchen und sie wieder einmal mit ihrer gewaltigen Schönheit berauschen und in ihren Bann ziehen!

    Elli beschließt, sich auf den Urlaub zu freuen und alle Bedenken beiseite zu schieben. Ihr Urlaubsort ist, zumindest den Fotos im Internet nach, wunderschön: ein weitläufiges Anwesen aus mehreren uralten Gebäuden, deren landestypische Fassaden entweder aus groben grauen Steinen bestehen oder klassisch sandfarben verputzt sind. Drum herum gibt es nur grüne Hügel, Weiden, Wälder, Weinberge und sonst gar nichts. Ein Traum!

    Außerdem ist sie sehr stolz auf sich, weil sie sich dazu überwunden hat, diesen Urlaub zu buchen und somit die freie Woche nicht allein zu Hause auf ihrem Balkon zu verbringen. Sie wagt es sogar, an einen furchtbar abgelegenen Ort zu fahren, um dort mit Menschen zu musizieren, die sie nie vorher gesehen hat! Das findet sie ganz schön mutig. Beinahe verwegen! Ihre Freunde und Kollegen buchen bestenfalls eine All-inclusive-Reise in den Süden oder ein Ferienappartement an der Ostsee. Doch sie, Elli, fährt nach Italien! Allein! Zu einem Musik-Workshop! Das macht sonst keiner!

    Sie seufzt. Eigentlich braucht sie keine solchen Urlaubsabenteuer. Eigentlich hätte auch ihr ein kuscheliges Feriendomizil an der See gereicht. Doch wenn man Single ist und auch sonst niemanden hat, mit dem man den Urlaub verbringen kann, dann ist jeder Platz, und sei er noch so romantisch, einfach nur einsam.

    Wann wohl endlich ihr Traumprinz auftaucht?

    Resigniert zuckt sie mit den Schultern und verzieht das Gesicht. Sie ist sechsunddreißig, und obwohl sie sich viel jugendliche Frische bewahrt hat und schlank und attraktiv ist, so weiß sie doch, dass die Zeit nicht stehen bleibt und auch an ihr nicht spurlos vorbeigeht. Warum wohl für sie der passende Mann noch nicht aufgetaucht ist? Oder hat sie einfach falsche Vorstellungen von einer Beziehung? Vielleicht muss man irgendwann aufwachen und feststellen, dass es die ganz große Liebe eben doch nur im Märchen gibt – genau wie die Traumprinzen?

    Sie denkt an ihren letzten verflossenen Partner. Hätte sie Christian vielleicht doch nicht den Laufpass geben sollen? Er war doch eigentlich ganz vorzeigbar: Führungskraft, schickes Auto, benehmen konnte er sich auch …

    Um Himmel Willen – niemals!

    Ein kalter Schauer läuft ihr den Rücken hinunter und sie schüttelt sich unwillkürlich. Sie war ja nicht mal richtig verliebt! Und den Rest ihres Lebens an der Seite eines Mannes zu verbringen, dessen Anwesenheit ihr schnell zu viel wird, mag sie sich nicht einmal vorstellen. Dann doch lieber allein bleiben!

    Nach einer Weile trinkt sie den letzten Schluck Milchkaffee aus dem Pappbecher, der in dem Getränkehalter an ihrem Armaturenbrett hängt. Noch zehn Kilometer bis zum vereinbarten Treffpunkt. Dort wird der Dreiunddreißigjährige zusteigen, den sie nach Italien mitnehmen wird. Matthias heißt er. Ob das ein Traumprinz sein könnte? Ein bisschen jung ist er ja für sie. Aber vielleicht wirkt er reifer? Wenn er ansonsten ganz interessant ist, dann sind auch die drei Jahre kein Problem!

    Viel konnte sie in dem kurzen E-Mail-Wechsel, in dessen Verlauf sie sich über die Mitfahrmöglichkeit austauschten, nicht über ihn herausfinden. Nur, dass er Koch ist, schrieb er von sich. Und Single. Aber das war ihr eigentlich schon wieder ein bisschen zu viel Information. Natürlich ist es schön, wenn sich an diesem entlegenen Ort in Italien ein paar Männer im passenden Alter einfinden, die nicht gebunden sind. Noch besser, wenn diese Männer auch so sind, dass man sich in sie verlieben kann. Ein Flirt könnte ihre Begeisterung für den Urlaub ganz gewaltig steigern! Aber wenn so etwas unaufgefordert mitgeteilt wird, dann wirkt es schnell nach einem verkrampften Kontaktanbahnungsversuch. Sowas geht sowieso immer schief! Sie ist lange genug auf dem Markt, um sich mit den Feinheiten der Partnersuche auszukennen.

    Aber sie ist auch eine Romantikerin! Nur zu gerne stellt sie sich vor, dass in Italien das Glück ihres Lebens auf sie wartet: ein interessanter Mann, der sich unsterblich in sie verliebt! Vielleicht sogar ein Italiener, der dort bestens begütert auf einem umfangreichen Anwesen lebt? Sie würde unverzüglich ihre kärglichen Zelte in Deutschland abbrechen und auf ein romantisches italienisches Anwesen einheiraten. Es gäbe schlimmere Schicksale!

    Elli muss über sich selbst den Kopf schütteln. Natürlich wird das alles so nicht passieren. Aber träumen darf sie doch wohl, oder? Wenn das wirkliche Leben so wenig inspirierend ist – oder besser gesagt reichlich frustrierend im Gegensatz zu dem, was sie sich früher einmal vorgestellt hat – dann muss sie doch von Träumen leben. Weswegen soll sie denn sonst morgens aufstehen, wenn nicht in der Hoffnung, dass da draußen irgendwo das ganz große Glück auf sie wartet? Und warum sollte das Schicksal gerade ihr ein Happy End vorenthalten, wenn es doch so viele Frauen gibt, die jemanden gefunden haben, mit dem sie ihr Leben teilen?

    Ein Blick auf das Navi zeigt, dass es noch fünf Kilometer sind bis zum vereinbarten Treffpunkt. Die Aufregung steigt, denn je näher sie der Abfahrt kommt, desto stärker werden ihre Befürchtungen bezüglich ihres Beifahrers. Hoffentlich ist er nicht allzu unangenehm! Schließlich müssen sie neun, zehn oder sogar elf Stunden Fahrt miteinander aushalten!

    Kurze Zeit später blinkt sie und verlässt die Autobahn. An der Ampel am Ende der Ausfahrt kann sie nach links oder nach rechts abbiegen. Sie wirft einen schnellen Blick auf die Anfahrtsbeschreibung: Erst links und dann nach ein paar hundert Metern auf der rechten Seite soll der Pendlerparkplatz sein, wo Matthias auf sie wartet.

    Elli legt den Gang ein und biegt ab. Die Straße führt unter der Autobahn hindurch. Sie fährt langsam und konzentriert, um die Einfahrt nicht zu verpassen, doch eine langgezogene Kurve und der dichte Bewuchs am Straßenrand machen die Gegend nur schwer überschaubar. Wo soll hier ein Parkplatz sein? Da, endlich sieht sie tatsächlich ein blaues Hinweisschild mit einem weißen „P" darauf.

    Als sie auf den geschotterten Platz einbiegt, der zur Straße hin dicht von Büschen eingefasst ist, bemerkt sie mit einem leichten Unwohlsein, dass er fast leer ist. Kurz vor sieben an einem Samstagmorgen ist das vermutlich zu erwarten, denkt sie. Auf was hat sie sich da nur eingelassen? Und was soll sie tun, wenn der Mann, der bei ihr mitfahren will, nicht sympathisch aussieht? Ob sie einfach Gas gibt und weiterfährt? Aber wie soll sie das erklären, wenn Matthias dann doch irgendwann bei dem italienischen Gut auftaucht, wo sie beide ihren Urlaub gebucht haben?

    „Keine gute Idee, denkt Elli. Sie schluckt. „Dann muss ich da jetzt wohl durch.

    Ganz hinten, am anderen Ende des Platzes, rührt sich etwas. Ihre Ankunft scheint bemerkt worden zu sein. Aus einem kleinen roten Auto krabbelt jemand mit langen, dünnen Gliedern aus der weit aufgerissenen Tür der Beifahrerseite. Kurze Zeit später steht ein großer, dünner, blonder Mann mit hängenden Schultern und dicker Hornbrille neben dem Gefährt und öffnet die Tür zur hinteren Sitzbank. Von dort zieht er einen großen Seesack heraus und stellt ihn neben sich auf den Boden. Dann taucht er noch einmal tief ins Innere des Wagens ein und befördert einen schwarzen Gitarrenkoffer mit vielen Aufklebern darauf heraus. Er schlägt die Tür zu, klopft zum Abschied aufs Dach, ergreift seine Utensilien und läuft auf Ellis Auto zu, das sie ein paar Meter vor ihm zum Stehen bringt und den Motor abschaltet.

    Elli entspannt sich, denn ein Blick auf ihren Mitfahrer wirkt sofort beruhigend. Attraktiv ist er mitnichten und Elli ist auch sofort klar, dass Matthias nicht der Typ ist, der in ihr Beuteschema passt. Sein rundliches Gesicht schaut zutraulich und freundlich und ist damit meilenweit entfernt von den markanten Gesichtszügen und dem geheimnisvollen, tiefen Blick, der Elli irritieren würde. Doch gleichzeitig kann sie mit diesem Mann, der aussieht wie ein gutmütiger, zu groß geratener Junge, der nur zu gerne Omas über die Straße hilft, auf gar keinen Fall einen gestörten Triebtäter oder brutalen Gewaltmenschen verbinden. Zumindest ihre Instinkte können das nicht. Und so ist sie zwar ein wenig enttäuscht, dass dieser Beifahrer bestimmt nicht ihr Urlaubsflirt werden wird, aber es beruhigt sie auch, dass ihre Mitfahrgelegenheit harmlos und sympathisch wirkt. Erleichtert steigt sie aus ihrem Wagen, um Matthias zu begrüßen.

    Matthias ist überrascht: So hat er sich Elli nicht vorgestellt! In seiner Fantasie musste eine Frau, die alleine nach Italien in ein Musik-Camp fährt, etwas „Alternatives" an sich haben: lange, ungepflegte Haare, nachlässig gekleidet mit Textilien in Knitter- oder Ausbeul-Optik, mindestens ein bisschen mollig und vor allem mit bequemen Sandalen oder Gesundheitsschuhen an den Füßen. Diese Frau, die aus dem alten japanischen Wagen steigt, ist das genaue Gegenteil: Groß, schlank, mit einer gut geschnittenen dunkelbraunen Pagenfrisur zu blauen Augen und sinnlich geschwungenen Lippen. Ihre langen Beine stecken in engen schwarzen Jeans und an ihren Füßen hat sie schmale schwarze Stiefel. Sie trägt eine kurzärmelige hellrote Bluse, die ihr sehr gut steht. Nein, bei dieser Erscheinung hätte er als Urlaubsziel vielleicht Rom, Florenz oder Mailand erwartet, aber nicht die Hügel der italienischen Pampa vermutet.

    Lächelnd kommt die hübsche Frau auf ihn zu.

    „Hi, ich bin Elli!"

    „Tach, Matthias", antwortet er.

    „Kriegst du deine Sachen hier unter?"

    Einladend öffnet sie die Tür hinter dem Beifahrersitz.

    Sie scheint ganz freundlich zu sein, denkt er und ist erleichtert. Zwar musste er in seiner beruflichen Laufbahn schon mit den unterschiedlichsten Menschen an den unterschiedlichsten Orten klarkommen. Auch hat er besonders gegenüber dem weiblichen Geschlecht selten Probleme, sich unbefangen zu geben. Aber eine lange Fahrt an der Seite von jemandem, den man absolut nicht riechen kann, kann sich dennoch hinziehen.

    Er wirft seine Sachen auf die Rückbank und steigt ein. Den Beifahrersitz schiebt er bis zum Anschlag nach hinten, um seine langen Beine unter dem Handschuhfach unterzubringen, dem sie dabei gefährlich nahe kommen.

    „Ich hoffe, der Platz reicht aus?", fragt Elli besorgt, als sie ihn beobachtet.

    „Na klar doch!", antwortet er und grinst sie zuversichtlich an.

    „Na dann …", sagt Elli und lässt den Motor an. Kurze Zeit später sind sie wieder auf der Autobahn.

    Die beiden Italien-Reisenden finden schnell Gesprächsstoff. Sobald Elli sich in den Autobahnverkehr eingeordnet hat, kommen sie ins Plaudern und haben sich in kürzester Zeit darüber verständigt, dass sie beide noch nicht an diesem Ort in Italien gewesen sind, wo sie weitab von der nächsten größeren Stadt eine Woche lang Gitarre spielen und singen werden. Sie erzählen sich gegenseitig von ihren Erwartungen und malen sich den Ort das eine Mal in den schönsten Farben als Kleinod italienischer Lebensart aus, das andere Mal befürchten sie eine deprimierend heruntergekommene, baufällige Ruine am Hintern der Welt, mit feuchten Wänden und pappigen Spaghetti zum Abendessen. Schnell geraten sie ins Schwärmen, dann wieder schütteln sie sich angewidert – je nachdem, in welche Richtung ihre Fantasie sie treibt. Und als nach einiger Zeit, die wie im Fluge zu vergehen scheint, am Horizont die Alpen auftauchen, ist bei beiden die Vorfreude auf den Urlaub schon erheblich gewachsen und die Anspannung gewichen.

    Matthias beginnt aus seinem Leben zu erzählen. Ein bisschen möchte er Elli auch damit beeindrucken, dass sein Job als Koch ihn in der Vergangenheit quer durch Deutschland in die verschiedensten Restaurants geführt hat und er zum Schluss sogar auf einem Kreuzfahrtschiff angeheuert hat. Leider, so berichtet er, ist dabei sein Gitarrenspiel reichlich zu kurz gekommen. Nun wolle er sich eine Woche lang den Luxus gönnen, intensiv wieder einzusteigen ins Sliden, Tappen und Picken, und ein paar neue Powerchords möchte er auch gerne lernen.

    „Außerdem brauche ich wohl einfach eine Auszeit", ergänzt Matthias und seine Stimme nimmt einen resignierten Klang an.

    Elli schaut zu ihm hinüber. Das hört sich traurig an. Vielleicht Probleme im Job? Oder eine enttäuschte Liebe? Soll sie nachfragen, weshalb Matthias eine Auszeit nehmen will? Erwartet er das vielleicht? Oder ärgert er sich womöglich schon darüber, zu viel gesagt zu haben?

    Doch bevor Elli sich noch darüber klar werden kann, ob ein Nachfragen unangemessen vertraulich erscheinen würde, senkt Matthias den Kopf und lässt seine Schultern noch weiter hängen, als sie es ohnehin schon tun.

    „Ja, das war nicht leicht für mich, das letzte Jahr, seufzt er und schaut aus dem Beifahrerfenster, wie um seine Emotionen zu verbergen. Nach einer kleinen Pause fährt er fort: „Fast wäre ich Papa geworden. Aber meine Freundin hat das Kind nicht bekommen wollen.

    Dann sagt er eine Weile lang nichts. Elli schweigt betroffen. Das hört sich furchtbar tragisch an!

    „Ich wäre gerne Papa geworden", ergänzt der junge Mann nach einem weiteren Moment der Stille traurig.

    Elli schluckt. Sie weiß nicht, wie sie auf seine Worte reagieren soll. Das Gespräch ist jetzt sehr plötzlich sehr ernst geworden und ihr fällt keine angemessene Erwiderung ein. Was sagt man jemandem in so einer Situation? Es scheint Matthias sehr mitgenommen zu haben, dass seine Freundin ihr gemeinsames Kind abgetrieben hat. Aber „Herzliches Beileid" ist vermutlich nicht passend?

    „Das tut mir leid", entscheidet sie sich nach einer Weile für eine neutrale Formulierung. Unsicher schaut sie zu ihm hinüber.

    Oh je! Sie ist jetzt gar nicht darauf vorbereitet, mit irgendwelchen Schicksalsschlägen anderer Menschen umzugehen. Matthias tut ihr leid, wie er so traurig aus dem Fenster starrt. Doch was soll sie jetzt machen? Was kann man jemandem Tröstliches in so einer Situation sagen? Oder soll sie einfach nur schweigen?

    Matthias nimmt ihr glücklicherweise die Entscheidung darüber ab, wie das Gespräch weitergehen soll. Er wirkt ganz dankbar dafür, jemanden zum Reden gefunden zu haben und sein Herz ausschütten zu können. Ellis Schweigen scheint er als Einladung dafür zu verstehen.

    „Weißt du – ich bin ohne Vater groß geworden. Meine Mutter musste richtig hart arbeiten, um genug Geld für uns beide zu verdienen. Eigentlich bin ich mehr bei meiner Oma als bei meiner Mutter aufgewachsen. Sowas wie ein Familienleben kenne ich gar nicht."

    Er schüttelt den Kopf, als wolle er die traurigen Erinnerungen an die entbehrungsreichen Zeiten seiner Kindheit vertreiben, die vor seinem inneren Auge auftauchen.

    „Mein Erzeuger hat sich kurz nach meiner Geburt aus dem Staub gemacht. Doch nun hätte ich selbst ein Vater sein können."

    Noch einmal seufzt er schwer und scheint den Tränen nahe zu sein.

    Elli hält den Atem an. Ein ungutes Gefühl macht sich in ihr breit – wie so oft, wenn sie unvermittelt zur Rettungsstation für jemanden wird, der sie ungefragt dazu auserkoren hat. Sie traut sich kaum sich zu rühren oder etwas zu sagen aus Angst, es könnte das Falsche sein. Fieberhaft überlegt sie, was sie tun soll. Einerseits fühlt sie sich dazu verpflichtet, ihren Mitfahrer zu trösten, doch andererseits fühlt sie sich auch ziemlich überfahren von der Situation. Um Himmels Willen – hoffentlich muss sie jetzt nicht den ganzen Urlaub lang Händchen halten und sich seine traurige Lebensgeschichte anhören! Sie kann sich doch so schlecht abgrenzen!

    Schließlich gelingt es ihr, ihren Verstand einzuschalten.

    „Alles Quatsch", denkt sie resolut und versucht sich zu entspannen. „Ich bin doch nicht für ihn verantwortlich. Ich kenne ihn erst seit einer Stunde! Außerdem würde ich niemals auf die Idee kommen, jemand Wildfremdem eine so persönliche Geschichte wie die einer Abtreibung zu erzählen, um dann auch noch umfangreiche Lebenshilfe zu erwarten!"

    Dieser Gedanke erleichtert sie zunächst. Doch gleich darauf droht wieder ihr schlechtes Gewissen die Oberhand zu gewinnen. Wie kann sie nur so herzlos sein? Das ist doch schlimm, was der arme Junge durchmacht! Da muss sie doch Mitleid haben!

    Matthias scheint unterdessen von Ellis Unbehagen überhaupt nichts mitzubekommen und redet einfach weiter.

    „Aber ich will das Geschehene auch gar nicht nur meiner Exfreundin anlasten, unterbricht er Ellis inneres Zwiegespräch. „Wir waren beide vermutlich zu jung. Ich habe auch Fehler gemacht. Es ist blöd gelaufen.

    Er macht eine wegwerfende Handbewegung, wie um zu zeigen, dass es sich nicht lohnt, weiter über die Geschichte zu reden. Trotzdem scheint er sehr betroffen zu sein.

    Unwillkürlich denkt Elli, dass es sicher viele Menschen gibt, die sich in weitaus jüngeren Jahren als in Matthias‘ Fall mit einer möglichen Elternschaft auseinandersetzen müssen. Aber vermutlich ist das eine sehr individuelle Sache, ob man sich zu jung fühlt oder nicht? Außerdem hat sie selbst keine Kinder, kann also auch nicht mitreden. Trotzdem fühlt sie sich verpflichtet zu sagen: „Nein, nein, mach‘ dir bloß keine Vorwürfe."

    Unsicher schaut sie zu ihrem Begleiter hinüber. Hat sie jetzt das Richtige gesagt? Oder wird er diese Bemerkung unangemessen finden?

    Doch Matthias sieht sie dankbar an: „Danke. Du bist echt klasse! Entschuldige, dass ich dich so mit meinem Schicksal überfallen habe. Es kam gerade über mich. Manchmal erwischt mich die Geschichte voll", meint er mit einem tapferen Lächeln.

    „Na klar, kein Problem", murmelt Elli erleichtert.

    Zumindest scheint ihr Mitfahrer jetzt nicht von ihr zu erwarten, dass sie seine Probleme löst. Trotzdem überlegt sie fieberhaft, wie sie die bedrückende Stimmung wieder entspannen kann, die so plötzlich die Urlaubsfreude vom Anfang vertrieben hat. Außerdem – und bei dem Gedanken kommt sie sich richtig herzlos vor – beginnt gleich der Teil der Reise, auf den sie sich ganz besonders gefreut hat: die Fahrt durch die Alpen! Diesen Reiseabschnitt möchte sie genießen! Das fällt allerdings schwer, wenn neben ihr jemand vor sich hin leidet. Also wäre es gut, die Stimmung zu verbessern. Nur wie?

    Nach kurzer Zeit taucht am Straßenrand ein Schild mit einem Hinweis auf eine Raststätte auf, die auch Vignetten für Österreich verkauft.

    „Ich denke, die Gelegenheit sollten wir nutzen, sagt Elli erleichtert in der Hoffnung, damit das Thema wechseln zu können. Sie weist auf das Schild. „Vielleicht holen wir uns auch gleich noch einen Kaffee?

    +

    Monika

    Monika steht in ihrem großzügigen Bad vor dem modernen Waschtisch aus dunklem Holz mit dem weißen Keramikbecken darauf. Sie schaut in den riesigen, mit Mosaiksteinen eingefassten Spiegel dahinter. Gerade eben noch war sie dabei, die letzten Utensilien, die sie für die Reise braucht, in ihr edles Beautycase aus dunkelbraunem Leder zu versenken. Doch dann fiel ihr Blick zufällig in den Spiegel, und nun kann sie sich nicht losreißen von dem Bild, was sich ihr bietet: Eine Frau von fast 50 Jahren mit ausgeprägten Gesichtszügen – „herb" wie ihre Mutter dazu auf ihre charmant uncharmante Art sagt – schaut ihr entgegen. Ihre aschblonden, von einigen wenigen grauen Strähnen durchzogenen Haare hat sie streng zu einem praktischen Zopf zurückgebunden. Der Ärger der letzten Monate, den sie fast immer fleißig hinuntergeschluckt hat, zeigt sich in ihrem Gesicht und lässt ihre markanten Gesichtszüge maskenhaft versteinert wirken.

    Sie schaut sich an und ist erschrocken über das, was sie sieht. Ist sie das wirklich? Diese verhärmt aussehende Frau mit der steilen Stirnfalte und den missbilligend zusammengezogenen Lippen? Wo sind die Leichtigkeit und die Lebensfreude geblieben, die doch auch einmal da waren? Sie waren doch einmal da? Oder täuscht sie ihre Erinnerung an frühere Jahre? Malt sie die Vergangenheit in zu fröhlichen Farben?

    Ein bisschen vielleicht schon, muss Monika sich eingestehen, denn wirklich einfach war ihr Leben nie. Jedenfalls erinnert sie sich gerade nicht an unbeschwerte Zeiten. Oder ist auch das eine Fehleinschätzung, die von ihrer momentanen Unzufriedenheit herrührt?

    Ob sie einfach undankbar ist? Schließlich geht es ihr sehr gut!

    Sie betrachtet im Spiegel das moderne, geschmackvolle Ambiente ihres vor anderthalb Jahren renovierten Bades. Die Familie eines Bankdirektors kann sich solche Extras leisten, ohne auf irgendetwas anderes verzichten zu müssen – nicht mal auf die Ein-Zimmer-Eigentumswohnung ihres Sohnes, der seit einem Jahr studiert, oder das Auto ihrer Tochter, welches sie zur bestandenen Führerscheinprüfung bekommen hat. Wobei es „nur" ein gebrauchter Kleinwagen ist. Aber ein sehr schicker und nicht so ein klappriger Verkehrstod, wie sie ihn sich damals mit zwanzig Jahren mühsam zusammengespart hat.

    Was will sie mehr? In ihrem Leben hat sie einiges erreicht: Sie hat zwei wohlgeratene Kinder großgezogen. Sie hat den Aufstieg ihres Mannes gefördert, ihm stets den Rücken frei gehalten, ihn ermutigt und bei gesellschaftlichen Anlässen unterstützt, sodass er seine Karriere gradlinig bis zu seiner jetzigen Position ausbauen konnte. Sie hat derweil das Haus zu einem wahren Schmuckstück ausgestaltet, das gesamte Familienleben perfekt organisiert und nebenbei noch ihren Halbtagsjob in der Stadtverwaltung ordentlich gemeistert. Sie kann stolz auf sich sein. Oder?

    Misstrauisch sieht sie in den Spiegel. Stolz sieht sie nicht aus. Eher starr. Leblos. Warum?

    Sie muss sich beeilen. In einer Viertelstunde soll das Taxi da sein, das sie zum Flughafen bringt. Was wollte sie noch unbedingt einpacken? Ach ja, das Mückenspray und die Migränetabletten. Die ganz unbedingt! Wenn ihr Urlaubsort in Italien wirklich so weit weg vom Schuss ist, wie es in dem Artikel beschrieben wurde, den sie darüber las, dann würde sie sich nicht einfach Tabletten in der nächsten Apotheke besorgen können und die Woche vermutlich kaum überleben!

    Eilig rafft sie ihre Sachen zusammen und trägt sie in das riesige, im Kolonialstil eingerichtete Schlafzimmer mit den bis zum Boden reichenden Fenstern, wo ihre schicke dunkelbraune

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