Aufschwung-Ost: Die neue Arbeitswelt
Von Joachim Gerlach
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Buchvorschau
Aufschwung-Ost - Joachim Gerlach
Exposé
Als Ergänzung und gewissermaßen Fortsetzung der „Geschichten aus einem anderen Land" lässt uns der Autor in seiner autobiographischen Erzählung teilhaben am beruflichen Werdegang seines Protagonisten Gert Holstein im wiedervereinigten Deutschland. Er berichtet von Entlassungen, Arbeitslosigkeit, skurrilen Beschäftigungen und schlimmen Befindlichkeiten. Diejenige, welche ähnliche Erfahrungen gemacht haben, werden sich darin wiederfinden. Diejenigen, welche nie solche Erfahrungen gemacht haben, sollten darüber froh sein und ein Sprichwort der Indianer beherzigen: Bevor Du Dir eine Meinung über jemand anders bildest, lauf erst einmal ein halbes Jahr in dessen Mokassins.
Weiterhin vom Autor liegen als ebook vor
Autobiographische Erzählungen
„Geschichten aus einem anderen Land"
Fiktion
„Maidan – Am Vorabend der Apokalypse"
Sachtexte
„Glaube & Ansichten – Beiträge zu zeitgenössischen deutschen Geschichte"
Impressum
Aufschwung Ost – Die neue Arbeitswelt
Gert Holstein
Copyright: © 2015 Joachim Gerlach published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-3056-9
Inhaltsangabe
Exposé
Begriffsklärungen
Erste unfreiwillige Entlassung
Fortbildung
Handels- und andere Geschäfte
Vaters Vermächtnis
Letzte unfreiwillige Entlassung
Begriffsklärungen
Arbeitswelten. Wenn ich richtig gezählt habe, waren es ihrer 13 in meinem Berufsleben. 7 in 21 Jahren vor und 6 in 13 Jahren nach der Wende, Studium, nachwendige Fortbildungsmaßnahmen und Arbeitslosigkeit darin nicht eingerechnet. Aus sachlichen und formellen Erwägungen habe ich die Dienstzeit bei den DDR-Streitkräften, welche unter dem fälschlichen Begriff „Nationale Volksarmee" firmierten, in 2 Arbeitswelten geteilt. Sachlich, weil ich bei den Seestreitkräften nahezu ausschließlich als Besatzungsmitglied eines Raketenschnellbootes agierte, bei den Landstreitkräften hingegen am Schreibtisch als Mobilmachungssachbearbeiter eines Wehrkreiskommandos. Formell wegen der Uniform.
Man erkennt sehr schnell, dass meine durchschnittliche Verweilzeit in den jeweiligen Arbeitswelten differenziert ausfällt: Genau 3 Jahre zu DDR-Zeiten stehen etwas über 2 Jahre in der neuen Zeitrechnung gegenüber. Schaut man genauer hin, erkennt man, dass sich in den 25 Jahren seit meinem Eintritt ins Berufsleben im Jahr 1965 bis zum sozialistischen Showdown nicht ein Tag ohne Arbeitsvertrag befindet. In den 15 Jahren nach der Wende bis zu meinem vorfristigen und punktreduzierten Rentenbeginn im Jahr 2009 waren es über 1300 Tage.
Auch wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass sich meine Kurzzeitbeschäftigungen zu DDR-Zeiten eigentlich nur zum einen auf die Phase bezogen , da ich nach der Lehre der Überbrückung und des Geldes wegen bis zur Einberufung noch ein Vierteljahr als Schlosser im Reichsbahnausbesserungswerk arbeitete und zum anderen auf die Phase, da ich nach nur 16 Monaten mit Karacho wieder aus dem SED-Parteiapparat flog. Die meine „Geschichten aus einem anderen Land" kennen, wissen, wovon ich hier rede. In den nur 15 Jahren bis zum vorgezogenen Renteneintritt, weil dem all-durchleuchteten Dasein eines Arbeitslosengeld-II-Empfänger mit höchster Skepsis gegenüber stehend, sind rein statistisch gesehen 3 Kurzzeitbeschäftigungen zu benennen.
Zur Arbeitswelt gehören Einstellungen und Entlassungen. Auch hier gibt es nicht zu verleugnende Systemunterschiede. Beginnen wir mit den Einstellungen. Zu DDR-Zeiten suchten sich die Arbeiter und Angestellten nach eigenem Bedarf, eigener Vorstellung und Verwendungsmöglichkeit einen neuen Job. Das war nicht besonders schwierig, denn infolge, gemessen am westlichen Niveau, technisch-technologischer Rückständigkeit in Industrie und Landwirtschaft galt die menschliche Arbeitskraft als der Treibriemen der Wirtschaft. An Arbeitskräften fehlte es folglich zu allen Zeiten und an allen Ecken und Enden. Eine neue Stelle war so in aller Regel auch mit einem etwas höheren Salär verbunden. Aufwendige Stellenbewerbungen und im Vorab trainierte Vor- oder besser Verstellungsgespräche entfielen.
In der 1990 um 16 Millionen Menschen und etwas über 100 Tausende Quadratkilometer erweiterten Alt-BRD änderte sich dieses Prinzip radikal. Nunmehr galt: Verkaufen, verkaufen, verkaufen. Waren aller Art – benötigte und überflüssige. Dienstleistungen aller Art – benötigte und überflüssige. Sich selbst. Böse Zungen, vornehmlich ostdeutsche, behaupten sogar, das 13. Gymnasialjahr wäre nur zu dem Zwecke eingerichtet, um mit dem darin eingefügten Schauspielunterricht die zukünftigen Kämpfer auf dem Schlachtfeld des Arbeitsmarktes zu wappnen.
Ich weiß nicht mehr, wie viele Bewerbungsschreiben ich im Zustand der immer wieder über mich hereingebrochenen Arbeitslosigkeit abgesandt habe, vielleicht an die hundert, eher weniger. Ich bin kein Steh-auf-Männchen, welchem man stetig eins auf die Mütze gibt, und welches trotzdem Sisyphus gleich immer wieder den Stein den Hang nach oben wälzt. Ich habe irgendwann den Kanal voll und zwar gestrichen. Da helfen dann auch keine Belehrungen, Ermahnungen, Zureden und andere Überredungskünste mehr. Dann fahr ich die Hörner aus.
Dass ich trotzdem zum einen mit 50 und zum anderen Mal sogar mit 55 Jahren Jahren wieder Eingang ins vollbeschäftigte Arbeitsleben fand, mit 55 zumal recht gut besoldet, rechne ich den Glücksfällen meines Lebens zu. Wobei die letztgenannte Glücksfälle bei all ihrer immensen Bedeutung, das muss ich hier, um Irrtümer zu vermeiden, einfügen, meinem größten Lebens-Glücksfall, meiner Frau, nicht das Wasser reichen können. Nicht mal ein klitzekleines Tröpfchen.
Womit ich bei den Entlassungen als der zweitwichtigsten Kategorie der Arbeitswelten angelangt wäre. Hier zeigen sich nun ganz enorme Ost-West-Unterschiede.
Entlassungen unterscheiden sich nach der auf dem Eigenwillen des Beschäftigten beruhender Freiwilligkeit einerseits und andererseits der vom Beschäftigten nicht mit Eigenwillen untermauerten Unfreiwilligkeit des Ausscheidens aus dem gegebenen Arbeitsverhältnis. Die 7 DDR-Arbeitswelten beendete ich allesamt auf der Basis meines Eigenwillens, freiwillig also und ohne einen einzigen arbeitsvertragsfreien Tag bis zur nächsten Arbeitswelt. Das mag denen komisch im Ohr klingen, welche die „Geschichten aus einem anderen Land" kennen, denn die wissen, dass ich einst in hohem Bogen aus dem Parteiapparat flog. Fristlose Kündigung. Was jedoch nicht im Widerspruch zu meinem Eigenwillen stand, denn der war gerade in diesem Falle besonders ausgeprägt. Ergo freiwillig auch hier. Jedoch galt damals wie bei allen anderen weshalb auch immer aus dem bisherigen Arbeitsverhältnis Ausgeschiedenen: Keiner wird zurückgelassen! Arbeit für jedermann! Wer sich in diesem Sinne nicht rechtzeitig selber bemühte, hatte alsbald die Mitarbeiter des örtlichen Amtes für Inneres, welches sich unter anderem auch der sozialen Fälle annahm, auf dem Hals. Beschäftigungslose gab es zwar genug unter den in den Betrieben Angestellten, nicht aber in der offiziellen DDR-Statistik. So gelangte ich nach dem eklatanten Rauswurf ohne eigenes Zutun nach 6-wöchiger Krankschreibung in den Bereich Konsumgüter beim Bezirkswirtschaftsrat. Nach dem fast auf den Tag genauen fristlosen Rauswurf aus dem öffentlichen Dienst 10 Jahre später musste ich mich selber kümmern.
Als man mit Volkes Willen 1990 staatlich zusammen legte, was angeblich zusammen gehörte, wendete sich das Blatt. Aus den nun folgenden 6 Arbeitswelten schied ich samt und sonders unfreiwillig aus. Nicht dass ich mich in den jeweiligen Arbeitswelten besonders wohl gefühlt und deshalb alles daran gesetzt hätte, in selbigen zu verbleiben. Beileibe nicht! Jedoch mangelte es an artgerechten Alternativen.
Die erste unfreiwillige Entlassung traf mich im öffentlichen Dienst nach der Enttarnung meiner einstigen zeitweiligen Tätigkeit als IM des MfS. Das war ärgerlich, da die BAT-Ost-Zuwendungen just in diesem Augenblicke ganz erheblich im Steigen begriffen waren, wenn auch der Job selbst nicht viel hermachte. Zwei der darauf folgenden unfreiwilligen Entlassungen erfolgten planmäßig, da die damit verbundenen Beschäftigungsverhältnisse von vorn herein zeitlich befristet waren. Unfreiwillig trotzdem, denn ich wäre in Ermangelung anderer Möglichkeiten lieber darin verblieben. Die restlichen 3 Entlassungen waren solche aus betriebsbedingten Umständen. Solcherart Entlassungsgründe kannte man im Osten vor dem fatalen Zusammenbruch überhaupt nicht.
Nach jeder dieser 6 unfreiwilligen Entlassungen trat ich zunächst als Kunde des Arbeitsamtes in Erscheinung. Mit mehr oder weniger langen Verweilzeiten in diesem System. Allein die Gnade der frühen Geburt verschaffte mir einen vorerst noch sicheren und Platz im Revier der Altersrentner und bewahrte mich vor dem Übel des Absturzes nach Hartz-4.
Halten wir uns nicht länger bei den Vorreden auf sondern begleiten wir unseren Protagonisten Holstein auf seinem dornenreichen Weg in den nachwendigen Arbeitswelten.
Olstein
Erste unfreiwillige Entlassung
Holstein war sich auch im Frühjahr 1992 noch dessen bewusst: Irgendwann würden sie auch ihn benannt finden. Benannt auf unversehrt gebliebenen Karteiblättern, auf in letzter Eile grob zerrissenen karierten und linierten A4-Bögen, auf Magnetbändern, Disketten, Festplatten. Er wusste immer, es war ein Vabanquespiel, sich der trügerischen Sicherheit hinzugeben, die Beweismittel seiner einstigen, inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem Schild und Schwert der Partei seien vernichtet, versiebt, nicht mehr auffindbar. Aber die Hoffnung wurde genährt mit jeder Überprüfungsrunde, der er selbst nicht zum Opfer fiel, mit den zeitlich immer größeren Überprüfungsabständen und mengenmäßig immer geringeren Betroffenen. Der größte Schwung von Entlassungen stasi-belasteter Behördenmitarbeiter erfolgte bereits unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages, ein paar der somit entstandenen Lücken wurden mit politisch unbelasteten, noch in der Warteschleife Verharrender aufgefüllt, ein paar andere mit Leuten, die Holstein nicht kannte. Je mehr Zeit verging, desto mehr verdrängte Holstein die Möglichkeit seiner Entdeckung, ließ auch eine in durchaus verständnisvollen Worten formulierte Frist, die der neue Behördenleiter, ein Beamter des Altbundeslandes Baden-Württemberg, zur freiwilligen Meldung noch nicht entgauckter Mitarbeiter setzte, ohne mit nur einer Wimper zu zucken, verstreichen. Was auch hätte ihm diese freiwillige Meldung nutzen können? Die gesetzlich unumgängliche Entlassung aus einer die Gesetzestreue überwachenden Behörde zu vermeiden? Wohl kaum. Und dies zu einer Zeit, da Daniela gleichermaßen von Arbeitslosigkeit bedroht noch keinen festen beruflichen Boden wieder unter ihren Füßen hatte. Zwei Arbeitslose mit zwei Kindern in kostspieliger Ausbildung? Nein, seine Chance lag nur im Verharren, Verharren ohne jedweden weiteren Mucks. Außerdem hafteten da noch erhebliche Relikte elitären Klassenbewusstseins in ihm. Er, der sich in den stürmischen Novembertages des Jahres ’89 als Aktivist für die sozialistische Erneuerung seines Landes eingesetzt und sich als einziger der später en masse aufgeflogenen IM’s vor nahezu allen Mitarbeitern der ehemaligen Planungsabteilung im Rat des Bezirkes dazu bekannt hatte, für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet zu haben, er, der in jenen Tagen mit seinem Engagement für einen demokratischen Sozialismus, in dem Sach- und Fachkompetenz statt Ideologien vorherrschten, im wahrsten Wortsinn Kopf und Kragen riskiert hatte, dies zu einer Zeit, da die politischen Würfel noch bei weitem nicht gefallen waren, sollte jetzt vor den neuen Herrn zu Kreuze kriechen, vor den nach seiner Sichtweise hochdotierten Handlangern des einstigen Klassenfeindes devot Reue heucheln und demütig um Vergebung bitten? Reue und Vergebung für eine Sache, die er zwar so wie sie real ablief, nicht aber inhaltlich ablehnte? Nie und nimmer! Niemals!
Die geschichtliche Entwicklung zur schnellen Einheit Deutschlands war so von Holstein nicht gewollt. Indes war er sich, wie schmerzlich diese Entwicklung auch über ihn kam, dessen bewusst, dass jede andere als diese Konfliktlösung zwischen den Systemen, zumal mehrheitlich vom Volkswillen getragen, mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit Blut und Tränen, Mord und Totschlag bedeutet hätte. Es wäre müßig, mit ihm darüber zu debattieren, wie es hätte anders ausgehen können. Holstein anerkennt den historischen Prozess als einen streng determinierten, von jeglichen Geschehnissen, die andere Zufälle nennen, befreiten. Geschichte kennt bei ihm nur „war und „ist
, niemals „wenn und „hätte
. Schon gleich müßig wäre es, mit ihm darüber zu streiten angesichts der Tatsache, da die DDR zum Zeitpunkt ihres Dahinscheidens gegenüber dem westlichen Ausland dollarseitig hoffnungslos zigmilliardenfach überschuldet war, der Abbau des Schuldenberges die Absenkung des ohnehin im Vergleich mit den Brüdern und Schwestern jenseits der Elbe nicht zum Besten bestellten Lebensstandards um wenigstens zwanzig, wenn nicht gar dreißig Prozent zur Folge gehabt hätte, was wohl von den Werktätigen zwischen Kap Arkona und Fichtelberg kaum mit verständiger Zurückhaltung und wohlwollender Akzeptanz belohnt worden wäre.
Auch nahm Holstein die statt dessen sich entfaltende generelle Entwicklung in Deutschlands Osten nach der Wende nicht wunder, nicht wirtschaftlich und nicht sozial.