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Grenzgänger: Ein Mensch (er-)findet sich selbst
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Grenzgänger: Ein Mensch (er-)findet sich selbst
eBook722 Seiten9 Stunden

Grenzgänger: Ein Mensch (er-)findet sich selbst

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Über dieses E-Book

Professor Dr. Martin Pfaff beschreibt in seinem Buch seine einzigartige Reise: Ein Weg, der eine lange Suche wurde, mit dem Ziel, den Sinn des Lebens zu erkunden. Auf allen Ebenen hat der Autor Grenzen überwunden: spirituelle, kulturelle, politische Grenzen ebenso wie Mauern im Inneren.
Das Buch beginnt mit der Jugend eines Mannes, dessen Kindheit vom Katholizismus geprägt ist, der nach Indien gelangt und dort die großen Religionen des Landes entdeckt. Professor Dr. Martin Pfaff berichtet dem Leser über seinen äußeren und inneren Weg. Darüber, wie er sich immer wieder selbst neu erfinden muss, um die Welt um sich herum mit zu gestalten. Er ist dabei der ehrenamtliche Mitbegründer von Blindenschulen in Indien, wird Student an einer US-amerikanischen Eliteuniversität und schafft eine außerordentliche wissenschaftliche Karriere in den USA und Deutschland. Durch sein politisches Engagement wird er schließlich Mitglied des Deutschen Bundestages in mehreren Legislaturperioden.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum21. Mai 2015
ISBN9783737543033
Grenzgänger: Ein Mensch (er-)findet sich selbst

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    Buchvorschau

    Grenzgänger - Martin Pfaff

    Impressum

    Grenzgänger – ein Mensch (er)findet sich selbst

    Martin Pfaff

    Copyright: © 2015 Martin Pfaff

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    E-book: ISBN 978-3-7375-4303-3

    Buch: ISBN 978-3-7375-3863-3

    Für meine Frau, meine Kinder und Enkel

    und

    für meinen Gymnasiallehrer Professor Dr. Franz Fürlinger:

    Ohne ihre nachhaltige Ermutigung und ihr freundliches Drängen

    wäre dieses Buch nicht geschrieben worden.

    „Das Leben ist nicht primär eine Suche nach Vergnügen, wie Freud glaubte,

    noch ein Streben nach Macht, wie Alfred Adler lehrte, sondern eine Suche nach Sinn.

    Die größte Aufgabe für jeden Menschen ist es, den Sinn in seinem Leben zu finden."

    Harold Kushner,

    Vorwort zu: Viktor E. Frankl, Man’s Search for Meaning

    „Das, was du heute denkst, wirst du morgen sein

    Der Weise formt sich selbst."

    Siddharta Gautama, genannt Buddha

    „Verletze niemanden, sondern hilf allen, soweit du kannst."

    Arthur Schopenhauer,

    Die Welt als Wille und Vorstellung

    Zum Inhalt

    Das ist ein ganz und gar ungewöhnliches Leben, das Martin Pfaff in seinen Memoiren schildert. Eigentlich sind es mehrere Leben: Eines als erfolgreicher Wissenschaftler, eines als aktiver Politiker, der zwölf Jahre lang dem Bundestag angehörte, und eines als global orientierter Helfer und Gutachter. Wie er diese drei Stränge seines Lebens miteinander zu verbinden wusste und dabei als Grenzgänger zu sich selbst fand, ist schon eine Leistung besonderer Art. Das Buch verdient bereits deshalb große Aufmerksamkeit. Aber auch deshalb, weil es das Zerrbild vom Politiker, wie es in den Medien nicht selten dargeboten wird, überzeugend korrigiert.

    Hans-Jochen Vogel, 11.März 2015

    Prof. Dr. Martin Pfaff – früher SPD-Chef in Schwaben und Bundestagsabgeordneter – ist in seinen vorgelegten Memoiren eine bemerkenswert ehrliche Lebensbeschreibung gelungen. Zudem kann sie den Rang eines „Pharaonengrabes" zeitgenössischer, sozialdemokratischer Sozialpolitik beanspruchen.

    Nicht zuletzt kann sich der passionierte Segler auch gutschreiben, als Wissenschaftler wie Politiker Kurs gehalten zu haben. Heißt: für die sozial und wirtschaftlich Schwächeren Partei ergriffen zu haben.

    Werner Reif, Augsburger Allgemeine Zeitung, 12.12.2014

    Prof. Dr. Martin Pfaff beschreibt in seinem Buch seine einzigartige Reise: Ein Weg, der eine lange Suche wurde, mit dem Ziel, den Sinn des Lebens zu erkunden. Auf allen Ebenen hat der Autor Grenzen überwunden: Spirituelle, kulturelle, politische Grenzen ebenso wie Mauern im Inneren.

    Das Buch beginnt mit der Jugend eines Mannes, dessen Kindheit vom Katholizismus geprägt ist, der nach Indien gelangt und dort die großen Religionen des Landes entdeckt. Prof. Dr. Martin Pfaff berichtet dem Leser über seinen äußeren und inneren Weg. Darüber wie er sich immer wieder neu erfinden muss, um die Welt um sich herum mit zu gestalten. Er ist dabei der ehrenamtliche Mitbegründer von Blindenschulen in Indien, wird Student an einer Us-amerikanischen Eliteuniversität und schafft eine außerordentliche wissenschaftliche Karriere in den USA und Deutschland. Durch sein politisches Engagement wird er schließlich Mitglied des Deutschen Bundestages in mehreren Legislaturperioden.

    Gleichzeitig kommt es auf seinen Reisen immer wieder zu Begegnungen mit besonderen Menschen. Auch zu einer „Begegnung" mit einem Mann, der beim Eintreffen des Autors in Indien längst gestorben ist, aber dessen Wirken als Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung immer wieder präsent ist: Subhas Chandra Bose. Gegenwärtig ist Subhas Chandra Bose auch, weil der junge Martin Pfaff dessen Tochter Anita kennenlernt, mit der er mittlerweile seit vielen Jahren verheiratet ist. So wird das Buch auch die Geschichte einer großen Liebe und Partnerschaft zwischen Mann und Frau gegen den Hintergrund Indiens, Nordamerikas und Europas.

    Selten hat ein Autobiograf so viel von der inneren und äußeren Welt gesehen, selten spricht ein Autor aber auch so offen über seine eigene Sexualität, über seine Motivation zum sozialen Engagement, nicht nur über seine Erfolge, sondern auch über seine Misserfolge und Schwierigkeiten. Selten erkennt ein Mensch aber auch, welche Belohnungen ihm die Reise über alle Grenzen hinweg bescherte.

    Inhaltsverzeichnis

    Impressum

    Zum Inhalt

    Einblicke und Ausblicke

    1. Die erste Grenze: Ausbruch und Aufbruch

    2. Ungarn: Wehe den Besiegten! (1939 bis 1947)

    3. Österreich: Die Suche nach dem Selbst (1947 bis 1957)

    4. Auf dem Landweg nach Indien: Auf den Spuren alter Kulturen (1957 bis 1958)

    4.1. Von Baden bei Wien nach Teheran: Vorwärts in die Vergangenheit!

    4.2. Von Teheran nach Lahore: Die verschlungenen Pfade der Bürokratie

    5. In Indien: Hingabe und Erfüllung (1958 bis 1962)

    5.1. Am Ziel meiner Suche

    5.2. Der Pfad der Tat: „Göttliches Licht" für die Blinden

    6. Anita: Liebe ohne Grenzen (1961 bis heute)

    7. Nordamerika: Zu neuen Ufern! (1962 bis 1974)

    8. India Revisited: Die große Enttäuschung (1970 und 1976)

    9. Deutschland: Die Heimat der Wahl (1971 bis heute)

    9.1. Die Grundlagen: (1971 bis 1974)

    9.2. Aufbau und Krise: (1975 bis 1980)

    10. „Nur Segeln ist schöner!" (1980 bis 2010)

    10.1 Mein Heim auf dem Wasser

    10.2 Die Suche nach dem sicheren Hafen

    10.3 Über den Atlantik

    11. Auf dem Weg zum „Gesundheitsweisen" (1981 bis 1985)

    12. An der Grenze zwischen Wissenschaft und Politik (1986 bis 1990)

    13. Im 12. Deutschen Bundestag (1991 bis 1994)

    Parteiarbeit in Augsburg und Schwaben sowie auf Bundesebene

    14. Im 13. Deutschen Bundestag (1994 bis 1998)

    15. Im 14. Deutschen Bundestag (1998 bis 2002)

    16. In den Niederungen der SPD-Parteipolitik (1989 bis 2002)

    17. Politik und Universität nach dem Bundestag (2002 bis 2006)

    18. Der Weg ins Privatleben (2007 bis heute)

    19. Die letzte Grenze: Rückblick und Ausschau

    Danksagung

    Einblicke und Ausblicke

    Einen frühen und für meinen Lebensweg bedeutsamen Hinweis bekam ich im Alter von sieben Jahren, als mich mein Vater mitten in der Nacht durch den Eisernen Vorhang von Ungarn nach Österreich brachte: dass Grenzen die Freiheit einengen und Lebenschancen mindern. Dass sie aber, sofern man den Mut hat, sie zu überschreiten – auch gegen Widerstände und organisierte Gewalt –, ein Tor zu mehr Freiheit bedeuten. Man muss nur bereit sein, das Tor aufzustoßen.

    Um etwas Neues zu entdecken oder um über sich selbst hinauszuwachsen, musste ich im Leben oft an Grenzen gehen und diese überschreiten – ob beim Lernen, im Beruf oder in der Liebe. Auch wenn nicht alle Überschreitungen zu Neuentdeckungen führten: Eine Herausforderung stellten sie immer dar. Auch wenn meine Neugier nicht immer befriedigt wurde: Ich lernte oft dazu. Und mein Horizont erweiterte sich jedes Mal.

    Die wichtigsten Erkenntnisse kamen unerwartet und oft auf schmerzliche Weise. Ich denke an die Erfahrung, dass das Verlangen nach Freiheit dann am intensivsten ist, wenn man eingesperrt ist, so wie ich mit neunzehn Jahren in einem syrischen Gefängnis, in Damaskus. Allein unter Kriminellen. Oder was es heißt, eine selbst auferlegte Pflicht zu erfüllen. Immer noch mit neunzehn Jahren half ich einem blinden indischen Pater, eine Blindenschule in Südindien zu gründen und diese unter schwierigen Bedingungen auszubauen. Oft wusste ich nicht, womit ich am nächsten Tag Lebensmittel für die blinden Kinder kaufen sollte, und lief dennoch nicht davon, zurück nach Europa. Fast vier Jahre lang hielt ich durch, bis die Schule auf einer soliden Basis etabliert war. Pflichterfüllung ist der falsche Ausdruck. Vielmehr scheint es eine Form der wahren Liebe zu sein, die größte Kräfte in einem Menschen mobilisiert, um sich für die Schwächsten einzusetzen. Ohne Lohn und ohne Erwartung eines Dankes von der Gesellschaft.

    Ich jedenfalls lernte, dass „Tugend ihren Lohn in sich trägt", wie die Amerikaner sagen. Nicht eine Belohnung in Form von Geld, Status oder Macht, sondern als innere Zufriedenheit und Glück. Die blinden Kinder brachten mir bei, wie man das Leben auch unter widrigen Bedingungen meistert. Und wie man an den einfachsten Dingen Freude empfinden kann. Ganz unerwartet kam dann doch eine äußere Belohnung: das Angebot eines Stipendiums an einer amerikanischen Eliteuniversität. Es öffnete den Weg zu meinem späteren Beruf. Was noch wichtiger ist:

    Ohne den Indienaufenthalt und die Arbeit für die Blinden hätte ich meine „indische Prinzessin" nie kennengelernt, ein junges Mädchen aus Wien, das mit achtzehn Jahren zum ersten Mal das Land seines Vaters bereiste, eines berühmten indischen Freiheitskämpfers und Nationalhelden. Bis heute erscheint mir unsere Liebe wie ein Märchen. Und sie ist neben der Geburt unserer Kinder wohl das größte Wunder, das ich in meinem Leben erfahren durfte.

    Im Verlauf meines Lebens sollte ich noch weitere Erkenntnisse gewinnen. Die vielleicht wichtigste: Das, was allgemein als Erfolg im Beruf und im Leben angesehen wird – Anerkennung, Macht, Geld –, ist nicht unbedeutend, kann für sich genommen jedoch keine Erfüllung bringen. Ich war einer der jüngsten Ökonomieprofessoren der USA, wurde später in den Sachverständigenrat der Sieben Gesundheitsweisen der Bundesrepublik berufen und zu einem der gesundheitspolitischen Sprecher meiner Fraktion im Bundestag gewählt. Gleichzeitig wurde mir immer klarer, dass die wahren Werte in den Beziehungen zu anderen Menschen liegen: in der Liebe, in der Freundschaft und im Verständnis für den Anderen. Diese Erkenntnis kam mir erst im Lauf der Jahre und nachdem ich andere Wege zum Glück mit großer Hingabe verfolgt hatte, im akademischen wie im politischen Feld.

    In meiner Jugend war mir der Sinn meines Lebens noch weitgehend verborgen. Ich hatte aber schon gelernt, dass der Mensch durch Herausforderungen wächst, am meisten durch die Hingabe an ein Ziel, das größer ist als er selbst. Auch heute, fast sechs Jahrzehnte später, glaube ich, dass dies ein Schlüssel zu einem erfüllten Leben ist. Durch freies Handeln muss jeder den Sinn seines Lebens selbst definieren: den eigenen Sinn oder einen Sinn, den man selbst auswählt.

    Welches Ziel und welchen Weg ich genau verfolgen würde, war damals noch unklar: Am liebsten wäre ich wohl Künstler geworden, angespornt durch meine Freude am Zeichnen und Malen. Oder ein politisch Handelnder, um zur Völkerverständigung beizutragen. Vielleicht war es auch eher die selbstlose Hingabe an eine Aufgabe zur Linderung der Not der Schwächsten, zu der ich mich hingezogen fühlte?

    Ich erfuhr eine große Enttäuschung mit einem Menschen, dem sehbehinderten indischen Pater: In meinen Augen war er ein ungewöhnlicher Mensch, denn er widmete seine ganze Kraft der Gründung und dem Aufbau der Blindenschule. Nach meiner Rückkehr in den Westen erfuhr ich, dass ihm kriminelle Handlungen zugeschrieben wurden. Ob und wie weit diese Behauptungen zutrafen, weiß ich bis heute nicht.

    Meine Wegstrecke war lang. Sie führte mich über viele Grenzen – zwischen Ländern, zwischen Menschen, zwischen akademischen Fachgebieten und zwischen Wissenschaft und Politik. Oft musste ich alles geben, um Grenzen zu überwinden, die in mir selbst lagen.

    Wie groß mag der Anteil von Glück und Unglück, von Planung und Zufall an den Weichenstellungen auf dieser Route gewesen sein?

    Wenn Aristoteles recht hatte, dann sehnt sich der Mensch entweder nach Glück oder nach Unglück. Nachdem ich von Letzterem in meiner Kindheit genug erfahren hatte, kann ich mein Leben als die Suche nach Glück – in seinen verschiedenen Formen – deuten. Es war ein innerer Kompass, der mir die Richtung meiner Grenzüberschreitungen anzeigte. Für mich ergaben die einzelnen Etappen eine zusammenhängende, logisch zwingende Abfolge.

    Es ist aber eine Illusion zu glauben, dass man die Vergangenheit wie eine Grenze hinter sich lassen kann: In Wirklichkeit tragen wir sie wie einen Rucksack unser ganzes Leben mit uns herum. Diese Erkenntnis sollte sich mir erst viel später im Leben erschließen.

    Eine Autobiografie zu beginnen, die die äußere und auch die innere Reise durch mein Leben beschreibt, stellt sich als verwegenes Unterfangen dar. Wie groß ist die Gefahr, in eine zu positive Darstellung der eigenen Person abzurutschen, weil das Gedächtnis viel Unangenehmes verdrängt hat? Nicht umsonst hat George Orwell behauptet, dass man einer Autobiografie nur trauen kann, „wenn sie etwas Schändliches enthüllt". Ich wäre jedenfalls aus eigenem Antrieb nicht auf die Idee gekommen, eine Autobiografie zu schreiben. Nur die nachhaltige Einflussnahme meiner Familie, insbesondere meiner Kinder, und eines geschätzten Gymnasiallehrers ließen diesen Entschluss reifen. Und die Erkenntnis, dass der eigene Lebensweg als Suche nach Sinn und Glück vielleicht auch etwas Nützliches für andere Menschen darstellen könnte.

    Nachdem ich mich nun doch dazu durchgerungen habe, will ich Marcel Reich-Ranickis Mahnungen mit auf die Reise nehmen: „Der Autobiograf soll aufrichtig schreiben, aber nicht exhibitionistisch, feinfühlig und empfindsam, aber nicht sentimental sein. Bescheiden hat er zu sein, aber nicht mit seiner Bescheidenheit zu kokettieren oder gar zu protzen. Diskretion wird erwartet, aber Geheimniskrämerei soll unbedingt vermieden werden."¹ (So zitiert in: Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, Auswahlband für die Schule, Herausgegeben und kommentiert von Volker Hage, 2. Auflage, München 2007, S. 11.) Eine Wanderung auf einem schmalen Grat!

    Da ich mit dem Schreiben begonnen habe, entdecke ich eine bisher ungeahnte Befriedigung und neue Erkenntnisse, auch über mich selbst. Ich schreibe diese Geschichte deshalb vor allem für mich selbst – als einen Spiegel meines Lebens, den ich mir in meinem achten Lebensjahrzehnt vorhalte. Ich will nichts anderes als ein ehrlicher Berichterstatter sein – gegenüber mir selbst, aber auch gegenüber den anderen. Dennoch nehme ich die Mahnung Eric Amblers ernst: „Nur ein Idiot glaubt, dass er über sich die Wahrheit schreiben kann!" Ich will es jedenfalls ernsthaft versuchen. Denn auch ich weiß: Die Wahrnehmung der eigenen Person ist nur zu oft verzerrt – Motivation beeinflusst bekanntlich Perzeption! Deshalb stütze ich mich, wo immer möglich, auf schriftliche Urteile anderer, sowohl für positive als auch für kritische Voten.

    Lange habe ich gezögert, ob ich wirklich die Stationen meiner inneren Reise durchs Leben so offen zur Schau stellen kann und darf – in der Sexualität, in der Liebe, in der Religion und in meiner Weltanschauung. Aber ohne Kenntnis dieser inneren Wegmarken ist die von mir gewählte äußere Route nicht verständlich. Es muss also beides angesprochen werden, sagte ich mir, inspiriert auch durch die Lektüre von Reich-Ranickis Autobiografie. Wenn dieser magister elegantiae die Schilderung solcher Ereignisse aus seinem Leben nicht als geschmacklos ansah, sondern sie als für den Fortgang der Geschichte wichtig und notwendig erachtete, muss dies wohl auch für meinen „Reisebericht" gelten!

    Doch auch hierfür gibt es Grenzen: Die Namen einiger Personen, die ich auf der Reise durch mein Leben traf und die mir viel bedeuteten, werden deshalb geändert, andere ganz weggelassen. Damit soll vor allem deren Privatheit – nicht die meine – geschützt werden.

    In einem facettenreichen Leben ist es schwer, den Anfang der Geschichte und den richtigen Pfad zu finden. Ich will einfach mit der ersten Grenze beginnen, deren Überquerung schicksalhafte Bedeutung für mein weiteres Leben bekommen sollte. Meine Geschichte beginnt also mit einer Grenze, mit Gefahren, mit Leid und mit „Herzweh". Viel später erst sollten Hoffnung, Glück und Erfüllung hinzukommen.

    Die Eltern, Maria und Anton Pfaff, anlässlich ihrer Goldenen Hochzeit (1986)

    Die Brüder Pfaff im Jahr 1962 (von links nach rechts): Mathias (21), Martin (23) und Anton (19)

    Anita und Martin sowie Anitas Mutter Emilie beim Anschneiden der Hochzeitstorte (5.7.1965)

    Anitas Vater Subhas Chandra Bose (1942)

    Anita (Frühjahr 1961)

    Anita und Martin (Sommer 1962)

    Anita und Martin (Sommer 1962)

    Unsere Kinder im Jahr 1976: Peter Arun (8, Mitte), Thomas Krishna (2) und Maya Carina (9 Mon.)

    Mit Reverend Father Abraham in der Blindenschule (1958)

    Reverend Father Abraham mit blinden Schülern (1959)

    In der Braille-Klasse (sitzend: der blinde Lehrer C.D.P. Vittal)

    In einer Handwerksklasse (hier: in der Rohrgeflecht-Klasse)

    Martin schenkt dem indischen Premierminister Pandit J. Nehru einen von den blinden Kindern geflochtenen Teller (1960)

    Martin mit Professor Kenneth E. Boulding und mit Professor Nicholas Georgescu-Roegen (1972)

    1. Die erste Grenze: Ausbruch und Aufbruch

    Der Wind spielt mit den Wolken wie ein Kätzchen mit Wollknäueln. Bald schiebt er sie weiter, bald reißt er Öffnungen auf, durch die der Mond das Feld vor uns beleuchtet wie eine Bühne: Die Maispflanzen werfen dunkle Schatten auf den Acker, wechselnde Muster. Einmal fahl, einmal hell beleuchtet. Dann wieder wird es dunkel. Es ist kühl.

    „Du musst ganz still sein: kein Reden, kein Husten, keinen Laut! Die Grenzwachen können jederzeit kommen!" Mein Vater flüstert mir eindringlich zu. Wenn der Mond wieder sein Licht auf das Maisfeld wirft, kann ich die Anspannung in seinem Gesicht sehen. Sie überträgt sich auf mich.

    Durch die dichten Maispflanzen können wir den Weg vor uns gerade noch sehen: zwei hellere Bänder, von den Kufen der Ochsenkarren geformt, dazwischen Gras. „Hier kommen die Grenzer auf ihrer Patrouille regelmäßig vorbei. Manchmal sogar mit Hunden. Aber das ist eher selten. Denn sie erwarten nicht, dass sich jemand über diese Grenze traut!" Auch wenn ich es meinem Vater nicht zeigen will: Ich habe Angst.

    Wir liegen jetzt schon bald eine halbe Stunde auf dem Ackerboden. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Neben dem Rascheln des Windes in den Maisblättern dringt der Geruch der Erde in mein Bewusstsein.

    Meine Gedanken schweifen zurück zu den Ereignissen der letzten Tage: Wie mein Vater aus Wien „schwarz" über die Grenze nach Ungarn kam, um mich – den Siebenjährigen – von unserem Heimatort Tevel gegen Ende meines zweiten Schuljahrs abzuholen. Ich sollte in Wien zur Schule gehen.

    Schon vorher, auf dem Weg zur Grenze, waren mein Vater und ich nur knapp einer brenzligen Situation entkommen: In Budapest mussten wir einen Zwischenstopp einlegen. Nach der Kindheitserfahrung in unserem Dorf und im nahe gelegenen Fünfkirchen war Budapest eine überwältigende Erfahrung. Ein Höhepunkt war der Zoo mit seinen exotischen Tieren: So etwas hatte ich noch nie gesehen! Beim Verlassen des Zoos flüsterte mir mein Vater plötzlich eindringlich auf Ungarisch zu: „Red auf Ungarisch weiter! Kein Wort Deutsch!" Bald war mir klar, warum: Die Polizei kontrollierte die Papiere der Passanten sporadisch. Die einen winkten sie durch, die andern wurden sorgfältig überprüft.

    Ich plauderte laut auf Ungarisch, das ich damals fließend sprechen konnte, vor mich hin, über die Tiere und wie niedlich die kleinen Löwenbabys waren. Die Polizisten warfen nur einen kurzen Blick auf uns beide und ließen uns passieren. Ein Glück, dass unsere Volksschule nach Ende des Krieges nur noch in ungarischer Sprache unterrichtete, sodass wir sie recht gut beherrschten. Und dass der strenge Lehrer ein drakonisches Regime führte. Denn wir liebten den Ungarischunterricht nicht. Viel lieber hätten wir auf Deutsch gelernt. Zu Hause bei den Großeltern und im Haus meines Onkels wurde weiterhin ein schwäbischer Dialekt gesprochen, wie schon von vielen Generationen von Einwanderern aus dem deutschen Sprachraum zuvor. Unsere Eltern redeten wir Kinder mit „Vater und „Mutter an.

    Während des Zweiten Weltkriegs gab es Unterricht in deutscher sowie in ungarischer Sprache. Zudem wurde auch gemischter „Deutsch-plus-Ungarisch-Unterricht gehalten: Der „Probst-Lehrer auf Ungarisch, der „Stängli-Lehrer gemischt und der „Galosch-Lehrer wie die „Olga-Lehrerin" auf Deutsch. Dieses Arrangement war wohl der damaligen politischen Situation geschuldet.

    Die Worte meines Vaters beenden meine Gedankenreise jäh. „Gleich kommen sie!", flüstert er mir zu. Tatsächlich kann ich Wortfetzen und dazwischen Lachen hören. Bald sind zwei Gestalten in Uniform im Mondlicht zu erkennen. Sie unterhalten sich angeregt, ihre Zigaretten glimmen. Sie kommen auf uns zu. Dann entfernen sie sich. Bald ist nichts mehr von ihnen zu hören.

    „Wir müssen noch ein paar Minuten warten, damit sie uns nicht sehen oder hören, wenn wir die Grenze überschreiten." Nach einiger Zeit stehen wir auf. Ich strecke meine steifen Glieder, klopfe die trockene Erde von den Kleidern ab und blicke angespannt auf meinen Vater.

    „Jetzt geht‘s los! Nicht auf trockene Blätter steigen!" Als wir den Weg erreichen, blickt mein Vater besorgt nach links und rechts und gibt das Zeichen zum Weitergehen.

    Auf der anderen Seite des Weges beginnt ein weiteres Maisfeld. Wie ich später erfahren werde, ist dies eine der Stellen in dem Raum zwischen Pusztasomorja und dem österreichischen Andau, an denen es noch keine Grenzzäune gibt, die ein unerlaubtes Überqueren der Grenze erschweren.

    Wir schleichen uns einige hundert Meter weiter durch die Felder. Endlich hellt sich die Miene meines Vaters auf: „Wir haben es geschafft! Wir sind über die Grenze gekommen! Heute Abend sind wir in Wien!"

    Mir fällt ein Stein vom Herzen. Meine aufgestaute Neugier drängt sich aber jetzt erst recht heraus: „Vater, warum gibt es diese Grenze? Warum können wir nicht einfach hingehen, wohin wir wollen?"

    „Martin, Grenzen hat es immer schon gegeben. Sie zeigen an, wo ein Land aufhört und ein anderes beginnt. Es ist wie bei den Äckern zu Hause: Jeder Bauer muss doch wissen, was ihm gehört und worüber er entscheiden kann, und was dem anderen gehört!"

    „Ja, aber da geht es doch nur um Äcker! Menschen dürfen doch auch die Grenzen von einem Acker zum anderen überschreiten und auf den Feldwegen dorthin gehen, wohin sie wollen."

    Er lächelt: „Ja, aber bei Landesgrenzen ist es etwas anderes. Manche Länder – wie hier Ungarn – wollen nicht, dass ihre Einwohner mir nichts, dir nichts in ein anderes Land gehen können."

    „Warum nicht?"

    „Weil sie Angst haben, dass die Menschen nicht zurückkommen. Dann haben sie niemanden, der hier arbeiten und leben will."

    „Vater, machen das alle Länder so?"

    „Nein, Martin, manche Länder erlauben ihren Bürgern, frei dorthin zu reisen, wohin sie wollen."

    „Ja, aber haben die denn keine Angst, dass die Leute dann nicht wiederkommen?"

    „Nein, manche sind klüger. Sie wissen: Wenn die Menschen immer frei aus- und wieder einreisen können, haben sie keinen Grund, ganz wegzugehen …"

    Den Gang über diese „erste" Grenze erlebte ich noch passiv, in Anpassung an die Entscheidungen meines Vaters: Er – nicht ich – wollte, dass ich in Wien zur Schule gehen sollte. Mir selbst überlassen, wäre ich wohl zu dem Entschluss gekommen, in der vertrauten, tristen Umgebung zu bleiben: Trotz allem war Tevel meine erste Heimat. Hier lebten meine Großeltern, meine Brüder, meine Verwandten. Der Weg nach Wien erschien mir als Weg in die Fremde.

    Nicht bewusst war mir, dem Siebenjährigen, dass ich meine Außenwelt in dem donauschwäbischen Dorf damals auch als Fremdheit empfand. Das dumpfe Gefühl des Unglücklichseins war zum Dauerzustand geworden. Das Leben erschien mir grau in grau gezeichnet.

    Diese Einstellung wurde durch Ereignisse hervorgerufen, über die ich – schon gar nicht als Kind – keinerlei Kontrolle ausüben konnte.

    2. Ungarn: Wehe den Besiegten!

    (1939 bis 1947)

    Zwei Jahre zuvor: Der 31. Dezember 1944 erschütterte wie ein Paukenschlag mein Leben als Fünfjähriger, er warf einen dunklen Schatten voraus – wohl für den Rest meines Lebens. Dabei war mein Leben auch bis dahin keineswegs idyllisch verlaufen: Zu sehr drangen die Boten des Krieges in unser scheinbar friedliches und verschlafenes donauschwäbisches Dorf.

    Als Kleinkind nahm ich diese Bedrohungen nicht in ihrer ganzen Bedeutung wahr. Aber die Anspannung der Erwachsenen habe ich sehr wohl registriert. Außerdem flogen von Zeit zu Zeit Flugzeuge über unser Dorf, ohne es jedoch anzugreifen.

    Als mein Vater 1944 nach Fünfkirchen in ein Wehrertüchtigungslager einrückte, wollte er meine Mutter und uns drei – ich war fünf Jahre, mein Bruder Mathias drei und mein jüngster Bruder Anton zwei Jahre alt – nachkommen lassen. Hierfür schickte er einen Pferdewagen, gedeckt mit einer großen Plane, abwechselnd gelenkt von zwei Kutschern. Meine Mutter weigerte sich jedoch, allein mit uns dreien mitzufahren. Jedoch waren ihre Schwägerin und deren zwei Schwestern bereit, mitzukommen. Nur widerwillig schlossen sich meine zwei jungen Kusinen an, Mari (Maria), dreizehn Jahre alt, und Kathi (Katharina), zwölf Jahre alt. „Wir wollten einfach nicht von zu Hause weg. Auch die Großeltern wollten nicht mit!", würde mir Kathi später berichten.

    In Fünfkirchen wurden wir von einer Bekannten aus Tevel aufgenommen, die hierher geheiratet hatte. Obwohl sie selbst nur ein kleines Häuschen besaß, hat sie uns beherbergt. Sie hatte zwei Söhne. Ihr Mann war beim Militär.

    Zusammen mit den Kusinen gingen wir Geschwister einmal auf die Suche nach unserem Vater. Als wir ihn endlich auf dem Truppenübungsplatz bei der Kaserne fanden, war er besorgt: „Was wollt ihr hier? Es kann jederzeit einen Luftangriff auf die Kaserne geben! Geht schnell zurück zur Mutter!"

    Und in der Tat. Meine Erinnerung an die folgenden Ereignisse ist bis heute lebendig: Als wir auf dem Rückweg sind, heulen die Sirenen auf. Wir wissen, dass es ein Fliegeralarm ist. Zusammen mit anderen Menschen laufen und laufen wir. Schließlich landen wir im Keller der großen Kirche, auch „Bischofskeller" genannt. Als wir zu unseren Müttern zurückkommen, werden wir kräftig ausgeschimpft und auf die Gefahren des Luftangriffs hingewiesen.

    Szenen weiterer Luftangriffe auf Fünfkirchen sitzen tief in meinem Gedächtnis: wie wir beim Heulen der Sirenen die Fenster und Türen des Hauses aufreißen, um eine Beschädigung durch Druckwellen zu verhindern, und uns auf den Boden legen. Und wie wir zusammenzucken, wenn die Bombeneinschläge näher kommen. Oft bilden die Erwachsenen einen Kreis um uns Kinder, im Glauben, uns so im Falle eines Bombenangriffs besser schützen zu können. Dazu Kathi: „Offenbar galt die Vorstellung: Wenn wir sterben, sterben wir zusammen!"

    Mein Vater wird an die russische Front versetzt, wie viele andere Donauschwaben aus Ungarn auch. Meine Mutter, wir drei Kinder sowie die anderen Verwandten kehren nach Tevel zurück, von den Großeltern freudig begrüßt.

    Bald werden die Meldungen über den Vormarsch der sowjetischen Armee eindringlicher. Es ist nur eine Frage von Tagen, bis sie Tevel erreichen werden. Die Angst aller – vor allem der Frauen – nimmt zu.

    Mein Vater schreibt meiner Mutter, sie solle mit uns Kindern in den Westen gehen, um vor den Russen zu fliehen. Wiederum weigert sich meine Mutter, allein mit drei kleinen Kindern wegzuziehen. Die anderen Verwandten sagen: „Wir gehen nicht mehr mit! Wir bleiben hier! Die letzten reisewilligen Teveler fliehen Richtung Högyész-Szakály, zur Eisenbahn. Sie erwischen den letzten Zug, der in Richtung Westen geht. Dann kommt die Nachricht: „Szakály wird von den Russen beschossen! Die Zugverbindung ist unterbrochen!

    Unter den Tevelern, denen die Flucht gerade noch gelang, sind Freunde meines Vaters wie Herr Bless. Diese Freundschaften sollten ein Leben lang halten.

    In unserem Dorf werden die Russen jederzeit erwartet: Als sie fast da sind, verstecken wir uns zusammen mit anderen Bewohnern in kellerartigen Höhlen am Dorfrand bei der „Schanze", einer Befestigung aus der Zeit der Türkenkriege. Zweiundsiebzig Personen finden hier Zuflucht: ältere Männer, Frauen und Kinder. Die Eingänge werden mit Maisstängeln abgedeckt, sodass sie von außen nicht eingesehen werden können. Ich erinnere mich gut an das Weinen der Kleinkinder und die hektischen Bemühungen der Erwachsenen, sie zur Ruhe zu bringen. Beim Vorbeigehen konnten solche Laute wahrgenommen werden.

    Mein Bruder Matheis (Mathias) weint und kann nicht beruhigt werden; er vermisst sein Lieblingsspielzeug, das in unserem nahegelegenen Haus in der Eile zurückgelassen worden war. Er bedrängt unsere Mutter, dieses mit ihm zusammen zu holen. Sie verlassen die Höhle. Er weint, bis die ersten Schüsse zu hören sind. Danach ist er stumm, schmiegt sich an unsere Mutter. Sie kehren sofort um. Mein kleiner Bruder Toni ist leichter zu beruhigen: Versteht er noch nicht, worum es geht?

    Die heranrückenden Russen verfolgen die letzten deutschen Einheiten, die sich der Hauptstraße entlang zurückziehen. Sie beschießen auch den Schanz-Hügel. Nach dem Krieg werden vier Gräber mit russischen Gefallenen dort gefunden. Diese werden später exhumiert und in ihre Heimat überführt.

    Wie es dazu kommt, dass wir schließlich die Höhlen verlassen können, weiß ich nicht. Laut Teveler Heimatbuch werden die Russen vom Schuldirektor mit einer weißen Fahne begrüßt. Die Lage beruhigt sich schnell. Nur ein Gebäude geht in Flammen auf: das „Kastell", in dem die Russen Waffen gefunden haben. Die Teveler werden zu Schanzarbeiten verpflichtet.

    Mein Großvater hat vor dem Eintreffen der Russen die Weinfässer Eimer für Eimer auf den Misthaufen geleert, um Alkoholexzesse zu verhindern. Meine Großmutter mütterlicherseits muss für die russischen Soldaten Gänse und Hühner schlachten und zum Essen zubereiten.

    Meine Großmutter väterlicherseits legt sich ins Bett und gibt vor, krank zu sein. Sie versteckt meine Mutter hinter sich unter großen Daunendecken. Vorher hatte sie mithilfe von Kohle ihr Gesicht altern lassen und ihr ein Kopftuch umgebunden, um sie hässlich zu machen. Glücklicherweise war ein Offizier bei uns einquartiert worden und es kam zu keinen Übergriffen auf die Frauen. Er wohnte in der unteren Stube. Meine Kusine Mari erzählte später: „Die Soldaten hatten kaum freien Lauf: Sie wären hart bestraft worden, wenn sie den Dorfbewohnern etwas angetan hätten."

    Dass es dennoch Übergriffe gab, berichtete meine Kusine Kathi: „Meine Mutter, mit euch dreien und uns zwei Kindern, meine Tante mit ihrer kleinen Tochter und meine Großeltern mütterlicherseits versteckten uns in einem Haus in der Helistadt – so hieß dieser Teil Tevels. Dieses Haus war schwer zugänglich, weil es in einer Nebenstraße, einer Art Sackgasse, gelegen war. Auf einmal kamen die Russen auch in diese Straße. Ein Russe kam in das Haus, in dem wir uns auf Strohsäcken am Boden zum Schlafen hingelegt hatten. Meine Mutter lag hinter mir und gab keinen Laut von sich. Als ich den Russen sah, hab ich geschrien. Er wollte auf mich zukommen und mich beruhigen. ‚Ich habe auch Kinder‘, sagte er. Auf einmal kam ein Offizier herein und sie gingen weiter. Ich weiß nicht mehr, wie viele Nächte ich von dem Russen geträumt habe … geträumt und geweint. In dieser Nacht haben sie drei bis vier Häuser weiter eine Frau vergewaltigt. Ja, so etwas hat es schon gegeben. Natürlich!"

    Und sie fügte hinzu: „In unserem neu gebauten Stall gab es ein Versteck in einer Ecke am Heuboden. Hier hatten sich die Frauen einen Schlafplatz gemacht. Und wenn es hieß: ‚Die Russen kommen!‘, sind die Frauen nach oben geklettert. Die Leiter wurde wieder weggenommen.

    Wir Kinder blieben mit der Großmutter unten. Meine Schwester Mari war körperlich schon sehr früh entwickelt. Einmal stand ein Russe vor ihr und hat sie angeschaut. Aber die Großmutter schrie ihn an: ‚Nichts da! Weg da!‘ Darauf drehte er sich um und verließ den Raum. Und von dem Tag an musste Mari auch mit den jungen Frauen auf den Heuboden. Es war schlimm."

    Neugierig wie Kinder sind, machen wir uns bald daran, die Soldaten zu inspizieren. Sie scherzen mit uns, setzen uns ihre Mützen auf, heben uns sogar auf die Rohre der Panzer. Bald haben wir viel Zutrauen zu ihnen und ahnen nicht, was noch auf uns alle zukommen soll.

    Am 31. Dezember 1944 hat die trügerische Ruhe ein Ende. Durch Trommelschlag werden die Frauen der Jahrgänge 1915 bis 1926 und die wenigen verbleibenden Männer der Jahrgänge 1900 bis 1927 ins Gemeindehaus von Tevel einbefohlen.

    Meine Mutter – Jahrgang 1920 – macht sich ebenfalls auf den Weg, mit meinem Bruder Toni auf dem Arm, Matheis auf der einen Seite und mit mir auf der anderen Seite. Wir halten uns am Rockzipfel fest und befürchten das Schlimmste. Die grauen Wolken und die Kälte des Dezembertages tragen noch dazu bei. Wir haben Angst.

    Beim Gemeindehaus angekommen, finden wir viele Menschen vor, hauptsächlich Frauen, mit ihren Kindern im Schlepptau. Ich verstehe nicht alles: Aber es wird klar, dass die vorgeladenen Frauen und Männer zu einem Arbeitsdienst von vierzehn Tagen zum „Maisbrechen" in die Báczka geschickt werden sollen. So lautet zumindest die offizielle Version.

    Ein russischer Soldat, der gebrochen Deutsch und ein wenig Ungarisch spricht, und einer der Teveler – Herr Eppl – nehmen die Personalien der Frauen und Männer auf. Wir ordnen uns in die Warteschlange ein. Der Soldat blickt auf meine Mutter mit uns drei Kindern. Er räuspert sich, schaut auf sein Protokoll, dann wieder zu unserer Mutter und fragt schließlich:

    „Sind Sie schwanger?"

    „Nein, ich bin nicht schwanger", antwortet sie.

    „Sind Sie sicher, dass Sie nicht schwanger sind?"

    „Nein, ich bin wirklich nicht schwanger!", schießt meine Mutter entrüstet zurück.

    Der Soldat blickt sie schweigend an, schüttelt den Kopf und nimmt ihre Personalien auf. Später erst sollte meine Mutter verstehen, worum es dem Mann tatsächlich ging: Schwangere waren von der Order ausgenommen. Dies war aber der Bevölkerung nicht mitgeteilt worden. Angesichts der drei kleinen Kinder hat der Soldat wohl Mitleid empfunden. Er wollte verhindern, dass er unsere Mutter, drei kleine Kinder zurücklassend, zum Arbeitsdienst schicken musste, ohne dabei seine Befehle zu verletzen und sich strafbar zu machen! Solch verschlungene Gedankengänge waren den geradlinigen Donauschwaben fremd und passten insbesondere nicht zu unserer Mutter, die zeitlebens ihre Gedanken geradeheraus sagte, ohne sich allzu sehr um die Konsequenzen zu kümmern.

    Die Situation war noch nicht endgültig geklärt, wie mir meine Kusine Kathi Jahre später erzählte: „Ein anderer Soldat, der die Szene beobachtet hatte, mischte sich ein: ‚Diese Frau muss nicht zum Arbeitsdienst!‘ Doch daraufhin haben einige Teveler Frauen zu den Russen gesagt: ‚Die muss mit! Ihr Mann war der Anführer der Volksbündler im Dorf!‘ Damit meinten sie die Organisation der Deutschen in Ungarn, die große Sympathien für Nazideutschland hatten."

    Ihre Beschuldigungen besiegelten das unmittelbare Schicksal meiner Mutter: Sie musste mit zum Arbeitsdienst in der Fremde. Mir gefiel die Situation überhaupt nicht.

    „Mutter, geh bitte nicht weg!"

    „Ich muss weg, aber es ist ja nicht für sehr lange!"

    „Wie lange?"

    „Die Soldaten und der Dorfschreiber sagen: für zwei Wochen."

    „Aber das ist doch sehr lange!"

    „Ich kann es nicht ändern!"

    „Warum musst du weg?"

    „Angeblich sollen wir Deutschen bestraft werden, durch Arbeitsdienst beim Abernten der Felder in der Báczka. Das ist wegen des Kriegs im letzten Herbst versäumt worden, so heißt es."

    „Mutter, wofür sollst du bestraft werden?"

    „Wir sollen bestraft werden, weil wir Deutsche sind!"

    „Ist das etwas Schlimmes?"

    „Nein, aber das verstehst du noch nicht."

    „Warum nicht?"

    „Weil du noch zu klein bist!"

    Am nächsten Tag wurden über zweihundert Personen in Ochsenwagen – mit Gepäck und Verpflegung für vierzehn Tage – in die nahe gelegene Kleinstadt Szekszárd ins Sammellager für das Komitat gebracht. Am 9. Januar 1945 ging es in Viehwaggons ins Arbeitslager Arbyum in der Ukraine: Statt der vierzehn Tage sollten es fünf Jahre werden.

    Die Arbeit in Kohlegruben unter Tage – wie bei meiner Mutter – oder bei Bauarbeiten oder in Kolchosen war schwer, die Verpflegung und Unterkunft mangelhaft. Ein Drittel der Frauen und Männer schafften es nicht zurück: Sie liegen heute noch in fremder Erde begraben.

    Was in den Köpfen und Herzen der Menschen vorging, als sie den Betrug bemerkten, ist mir nicht bekannt: Meine Mutter erzählte später bereitwillig vom Leben im Arbeitslager, sprach aber kaum über ihre Gefühle während des Transports. Es bedarf keiner großen Fantasie, diese zu erraten.

    Meine weitere Erinnerung bleibt verschwommen. Nach dem Abschied von meiner Mutter überkam mich eine panische Angst und eine unendliche Traurigkeit: Ich ahnte, ohne es tatsächlich zu wissen, dass die Mutter sehr lange weg sein würde. Woher diese dunkle Vorahnung kam, weiß ich nicht. Im Leben habe ich einige Male solche Vorahnungen gehabt – für Gutes und für Schlechtes.

    Ob ich diesen Tag jemals vergessen werde? Die Unsicherheit, die Angst, einen geliebten Menschen – das Zentrum meiner Welt – zu verlieren, werden sie mich mein ganzes Leben lang begleiten? Ich verspürte eine große emotionale Leere, eine Traurigkeit, die nicht enden wollte.

    Ich frage mich heute, wie es meinen Brüdern ergangen ist, waren sie doch deutlich jünger und konnten den Verlust der Mutter noch weniger verkraften. Oder haben sie das alles gar nicht so richtig mitbekommen?

    In meiner Verzweiflung rannte ich in den Garten, kroch tief in einen Heuschober hinein. Als ob ich mich vor der grausamen Welt verstecken wollte, Schutz und Geborgenheit suchend. Ich schlief ein und kam erst am Mittag des nächsten Tages heraus, zur großen Erleichterung meiner fassungslosen Großeltern: Sie hatten überall nach mir gesucht und das Schlimmste befürchtet.

    Für meine Großeltern war durch die Verschleppung meiner Mutter eine Welt zusammengebrochen: Hier standen sie mit drei kleinen Kindern, ohne deren Mutter und ohne deren Vater, der sich noch bei der Armee weiter im Westen befand. Nichts hatte sie auf eine solche Tragödie vorbereitet. Und sie waren sich keiner Handlung bewusst, die eine solche Ungerechtigkeit rechtfertigen würde.

    Die Stimmung in Tevel war verändert, die Gesichter der Menschen gezeichnet. Die Augen der Alten blickten verzweifelt aus bleichen Gesichtern. In einer Gemeinschaft, in der fast nur noch Alte und Kinder übrig bleiben, gehen Wärme und Hoffnung verloren. Es war sehr still, totenstill im Ort.

    Es sollte jedoch noch schlimmer kommen. Die Russen sammelten Kühe und Ochsen ein, wohl als Essensreserve, und ließen sie hinter der vorrückenden Armee hertreiben. Eines Tages kam wieder eine kleine Herde mit Treibern zu unserem Hof. Auch wir mussten eine Kuh abgeben. Mein Großvater wurde gezwungen, sich als Viehtreiber anzuschließen, bis in die Gegend von Baja. Von dort ließ man ihn zu Fuß nach Hause gehen – im kalten Januar bei ca. zwanzig Grad minus.

    Zu Hause war die Situation kritisch geworden: Meine Großmutter, die einzige Erwachsene, lag krank im Bett, mit drei Kindern im Haus. Da hieß es immer für meine zwölfjährige Kusine: „Mari! Aufstehen! Geh zu Kleene Mathese (unser schwäbischer Hausname), Kinder wecken und anziehen, Feuer machen, Wasser beim Ziehbrunnen schöpfen! Im tiefen Schnee war ein Pfad geschaufelt, auf dem die Kühe und Ochsen zur Tränke am Brunnen gelangen konnten. Mari erzählte später: „Ich habe geschöpft, geschöpft. Den Schöpfer immer wieder hoch und runter, bis die Kühe genug gesoffen hatten. Und vis-à-vis bei den Drehers (so der Hausname): Ein noch kleineres Kind hatte dieselbe Pflicht wahrzunehmen! Es war eine harte Zeit. Wir Kinder mussten uns wie Erwachsene verhalten. Meine Großmutter hat die Kühe gemolken. Aber für die Milch gab es keinen Absatz, weil die Organisation des Milchvereins zusammengebrochen war und wir hatten die von den Hühnern gelegten Eier. So entstand die perverse Situation der Übergangszeit – eine Zeit großer seelischer Not gekoppelt mit einem Überschuss an Lebensmitteln. Dies sollte sich sehr bald ändern.

    Die Alten und die wenigen verbliebenen Jüngeren organisierten sich neu: die Arbeit in den Stallungen, auf den Äckern, die Sorge um Haus, Hof, Vieh und um die Kinder. Sie mobilisierten Kräfte, die sie früher nicht mal bei sich geahnt hätten. Denn es ging um das Überleben von Kindern, Familie und Gemeinschaft.

    In der Geschichte unserer Vorfahren gab es mehrfach große Entbehrungen und individuelles Leid. Aber wohl kaum etwas Vergleichbares.

    Wie war es überhaupt zur Ansiedlung meiner deutschen Vorfahren in Ungarn gekommen?

    Mich haben zeitlebens Ahnentafeln nie interessiert, ganz im Gegensatz zu meinem Vater: Er leitete seine Identität viel mehr aus der Vorgeschichte unserer Familie ab. Ich dagegen war an Taten interessiert, durch die ich meine Identität selbst zu definieren trachtete. „Ich bin, was ich tue!, entspricht eher meinem Credo als: „Ich bin der Nachfahre von so und so!

    Der Stammbaum der Familie Pfaff ist seit 1713 dokumentiert, in Urkunden, Kirchenbüchern und Ähnlichem nachgewiesen. Mein Vorfahre Andreas Pfaff war nachweislich im Jahr 1713 aus Littenweiler (in den Pfarrbüchern damals als Leutenwyller bezeichnet) bei Freiburg im Schwarzwald zusammen mit Frau und Kindern nach Ungarn ausgewandert. Wie andere Donauschwaben fuhren sie auf großen Flößen (später „Ulmer Schachteln" genannt) die Donau hinunter. Die Anlegestellen des Floßes, die Vereinbarungen mit dem Grundherrn Graf Döry über die Grundausstattung des Gebiets des späteren Orts Tevel sind bekannt.

    Weniger klar sind die Beweggründe der Auswanderer: Überbevölkerung, Folgen der Kriege, Hoffnung auf ein besseres Leben in der neuen Heimat, oder ein bisschen von allem? Sie wussten, dass sie nicht in ein Paradies auf Erden ziehen würden. Weite Landstriche waren im Zuge der Türkenkriege zerstört worden, das Land verödet, eine Infrastruktur kaum vorhanden.

    Die Zusagen des ungarischen Grundherrn Döry erwiesen sich als Illusion: Das für die Feldarbeit versprochene Vieh wurde nie geliefert. Die bäuerliche Arbeit auf den Feldern musste per Hand erledigt werden. Sogar die zugesagten Häuser fehlten: Die ersten Einwanderer mussten in Erdlöchern wohnen, bis sie einfache Häuser bauten. Allerdings besaßen sie Privilegien und Freiheiten: Die ersten drei Jahre waren steuerfrei. Und sie waren keine Leibeigenen, konnten also weiterziehen, wenn sie wollten. Viele taten dies. Andere kehrten enttäuscht, teils auch krank von Entbehrungen und Not, in die südwestdeutsche Heimat zurück. Ein vielfach verwendetes Zitat fasst diese Zeit in bemerkenswert gebündelter Form zusammen: „Die Ersten fanden den Tod, die Zweiten die Not, erst die Dritten das Brot."

    Zweieinhalb Jahrhunderte später waren aus den steinigen Äckern so etwas wie „blühende Landschaften" geworden. Wer sich diese mit den Augen des heutigen Betrachters vorstellen will, sollte sich die Landschaften der Amish oder der Pennsylvania Dutch unweit von Philadelphia, Pennsylvania, in Erinnerung rufen. Dort leben einfache, in der Religion verwurzelte Menschen, fleißig und genügsam, ehrlich bis zur Peinlichkeit.

    Die Häuser in Tevel bestanden aus einem Wohnteil, im rechten Winkel dazu Stall, Scheune und ein Misthaufen. Als Teil des Wohngebäudes ein überdeckter Gang. Ein Brunnen. Alles war schmuck, sauber angeordnet und durch einen Zaun nebst großem Tor von der Straße abgegrenzt. An der äußeren, straßenseitigen Ecke unseres Hauses (s’Kleene Mathese) befand sich eine Ecce-Homo-Statue aus Stein, ein gefesselter Christus mit weitem Umhang.

    Hervorgehoben, da auf Hügeln stehend, die Kirche, die Schanz sowie Weingärten auf den Hügeln am Rande des Dorfes. Dazu viele Bäume, meist von mittlerer Größe, auch einige hochgewachsene Pappeln.

    Neben den Bauernhäusern gab es etliche kleinere Gebäude der „Kleinhäusler". Neben dem katholischen Friedhof auch ein Judenfriedhof. Ein Dorf wie viele andere, die von Schwaben gegründet und aufgebaut worden waren.

    Unsere Vertreibung aus Tevel erfolgte in mehreren Etappen. Der 25. April 1945 ist mir lebhaft in Erinnerung: An diesem Tag, weniger als vier Monate nach der Verschleppung meiner Mutter, erklingt die Trommel des Kleinrichters, eines nachgeordneten Gemeindeangestellten. Aus dem Haus geeilt, hören wir seine Botschaft: „Alle Dorfbewohner müssen bis halb zehn in der Wiese zum Schlagbruch mit kleinem Gepäck erscheinen. Das Dorf ist umstellt. Wer fliehen will, wird erschossen! Die Häuser sollen unverschlossen bleiben!"

    Auf der Wiese angekommen, werden Männer, Frauen und Kinder in zwei Gruppen aufgeteilt: Volksbündler auf der einen Seite, Mitglieder der Treuebewegung auf der anderen. Erstere kommen ins Ghetto in Lengyel. Letztere dürfen in ihre Häuser zurückkehren.

    Eine Frau protestiert heftig. Als sie an ihrem Haus vorbeiziehen, ist es schon verwüstet: Die Möbel sind im Hof verstreut, teils demoliert, teils verschmutzt.

    So wurden meine Großeltern und wir drei Kinder aus unserem Haus vertrieben. Wir durften nur das Allernotwendigste mitnehmen – das Vieh, Futter, die letzte Ernte und alle Vorräte mussten zurückgelassen werden.

    Mit Ochsenwagen wurden wir nach Lengyel ins Schloss des Grafen Apponyi gebracht. Es war von einem Park mit riesigen Bäumen umgeben, wie ich sie bis dahin nicht gesehen hatte. Drinnen sah es weniger idyllisch aus: In leeren Räumen war Stroh aufgehäuft, als Grundlage für die Schlafstellen von Tausenden Menschen. Liegeplatz neben Liegeplatz, die Familien zusammen. Von den Donauschwaben wurde dieses Lager als Ghetto bezeichnet. Und ein Ghetto war es – nur diesmal für Schwaben.

    Das Gebäude hatte als russisches Lazarett gedient, bevor die Deutschen einquartiert wurden. „Das Stroh war zertreten und verschmutzt. Da haben wir dann alle darauf schlafen müssen. Und unten haben sie eine Latrine ausgehoben. Und da mussten wir draufgehen", erzählte mir Mari viele Jahre später.

    Nicht alle akzeptierten die unwürdigen Bedingungen widerspruchslos. Eine Frau aus Tevel, die Leni Bas, protestierte lautstark. Sie wurde mit Wasser übergossen und in die „Federkammer gesteckt. Die herumfliegenden Federn kamen in Augen und Haare, sie war mit Flaum bedeckt. Dann holten die Wärter die Frau heraus und bespritzten sie wieder mit Wasser. Zudem musste sie vor den zusammengetrommelten Lagerinsassen tanzen. „Schaut, wie es denen geht, die sich gegen uns auflehnen!, so die Botschaft der Wärter.

    Doch damit nicht genug: Im oberen Zimmer hatten die Russen ihre Notdurft verrichtet: „Die Mädchen mussten hinaufgehen und diese mit ihren Händen zusammenrechen!, so Mari. „Dann wurden alle wieder auf den Hof getrieben. Die Mitglieder der Familien wurden für unterschiedliche Arbeitseinsätze getrennt. Die Alten und die Kinder blieben zunächst in Lengyel. Die älteren Männer mussten auf den Ländereien des Guts arbeiten.

    Mein zweijähriger Bruder Toni holte sich im verunreinigten Stroh eine Infektion. Dazu Mari: „Er bekam ein großes Geschwür hinter dem Ohr. Dieses öffnete sich, und es floss Eiter herunter. Aber wir hatten keinen Verband, nur ein Taschentuch. Dabei hatten wir Mühe, dieses zu waschen. Später hat mein Vater Blätter gesammelt und unter die Wunden gehalten, damit der Eiter nicht den Hals hinunterlief."

    Nach einiger Zeit wurde uns freigestellt zu gehen, wohin wir wollten – nur nicht zurück in unsere Häuser. Diese waren mittlerweile von Ungarisch sprechenden Szeklern – von den Schwaben „Czángo" genannt – in Besitz genommen worden.

    Dazu erzählte mir Kathi Jahre später: „Als wir von Lengyel zurückkamen, hatten wir nichts zum Anziehen außer den Kleidern am Leib. Deshalb entschloss sich meine Großmutter, die sehr gut Ungarisch sprechen konnte, mit mir zu Hegilis (Hausname ihrer Familie und meiner Mutter vor ihrer Heirat) zu gehen: Wir wollten einige der zurückgelassenen Kleider holen. Sie bat den Czángo, der in unserem Haus eingezogen war, Kleider mitnehmen zu dürfen.

    Der ist mit der Mistgabel in der Hand hinter uns hergerannt. Mit der Mistgabel hat er uns verjagt!"

    Als Mitglied der Treuebewegung hatte mein Onkel sein Haus behalten dürfen und wir fanden bei ihm Unterschlupf. Das Haus lag drei Kilometer außerhalb Tevels. Seine Frau war wie meine Mutter zum Arbeitsdienst in die Sowjetunion verschleppt worden. Seine beiden Söhne Steffi (Stephan) und Johann und ich gingen zu Fuß von der Czárda – so wurde sein Hof genannt – ab Herbst 1945 in die Volksschule in Tevel, drei Kilometer hin, drei Kilometer zurück. Öffentliche Verkehrsmittel gab es nicht.

    Während der strengen Winter 1945/46 und 1946/47 fanden meine Großeltern mit uns drei Schülern Unterschlupf unweit des Schulgebäudes. Wir wohnten zu fünft in einem kleinen Zimmer. Auf dem Holzofen wurde gekocht und das Zimmer beheizt. Viel Platz blieb nicht.

    Hier zeigte sich, wie stark meine Großmutter war: Sie war klein und von zierlicher Gestalt, mit dunklen Haaren und großen dunklen Augen. Doch im Gegensatz zum Großvater, der von den Entwicklungen überfordert und fast hilflos erschien, wusste sie, wie wir unter diesen Umständen weiterleben konnten. Wenn sich mein Großvater gegenüber uns herumtollenden Kindern nicht mehr zu helfen wusste, griff er manchmal zum Riemen. Großmutter aber war intelligent und hilfreich bei unseren schulischen Aufgaben.

    Meine Kusine Mari erzählte: „Sie war kräftemäßig für die Landwirtschaft nicht geeignet, aber beim Spinnen, Stricken und Nähen sehr geschickt und flink!"

    Während wir auf der Czárda waren, im April 1945, hörten wir: „Die Czángo kommen! Nehmt euch in Acht!" Niemand wusste, ob sie die Deutschen als Freiwild betrachten würden. Deshalb flohen die Frauen und Mädchen, zusammen mit uns Kindern, in den nahen Wald. Nach drei Tagen kehrten wir jedoch auf die Czárda zurück.

    Die Czángo waren einfache, meist arme Leute. Viele waren Holzfäller oder Schäfer in Moldawien gewesen. Für sie bedeutete die Zuweisung von Bauernhöfen mit Ländereien eine erhebliche Verbesserung ihrer Lebensgrundlage, allerdings um den Preis der Vertreibung der Donauschwaben.

    Mein Großvater mütterlicherseits rief denen, die seinen Hof okkupierten, im Zorn zu: „Wartet nur, es wird noch anders kommen!" Sie sahen dies als massive Drohung an. Am Abend riefen sie die Polizei und bewirteten sie mit Alkohol, um sie aggressiver zu machen. Mein Großvater war von einem Gemeindeangestellten, dem Klee-Richter (kleiner Richter), gewarnt worden: Er übernachtete auf dem Heuboden seines Nachbarn. In angetrunkenem Zustand erschienen nun die Polizisten mitten in der Nacht vor dem Haus meines Onkels: Alle Bewohner mussten in Nachthemden im Hof antreten. Mein Großvater war offensichtlich nicht unter ihnen. Auch die intensive Suche im Haus durch die Polizisten half nichts.

    Da kam die Drohung: „Sagt uns, wo der Propst-Großvater ist, oder wir erschießen euch!" Alle schwiegen. Deshalb konzentrierten sie ihre Aufmerksamkeit auf meine Großmutter. Auch sie sagte ihnen nichts. Daraufhin nahmen sie sie mit ins Polizeirevier, schlugen sie wiederholt. Mit dem Gewehrkolben in der Hand musste sie in die Knie gehen, wieder aufstehen, in die Knie gehen, rauf, runter …

    Am nächsten Morgen wurde sie nach Bonyhád zum Gericht gebracht. Ihre Beine waren stark angeschwollen. Als sie wieder zurückkam, konnte sie nicht mehr richtig schlafen. Aber ihren Mann hat sie niemals verraten.

    Unter diesen Umständen konnte mein Großvater nicht länger in Tevel bleiben – früher oder später hätte die Polizei ihn gefunden. Also floh er nach Àgád, eine ungarische Gemeinde, in der er als Kind Ungarisch gelernt hatte. Dort fand er eine alte Frau, die ihn von damals kannte. Sie nahm ihn auf und gab ihm Arbeit als Knecht.

    In der Zwischenzeit kam sein Sohn Martin, der Bruder meiner Mutter, vom Militärdienst zurück. Er fand Arbeit in einer Mühle unweit der Czárda, wo seine Frau als Köchin arbeitete. Ihre eine Tochter, meine Kusine Mari, kam mit dreizehn Jahren als Dienstmädchen nach Szekszárd, die andere Tochter, meine Kusine Kathi, arbeitete mit ihren zwölf Jahren als Kindermädchen bei einer Familie, sechzig Kilometer entfernt von ihren Eltern. Meine Großmutter mütterlicherseits fand mit meinem kleinen Bruder Toni eine kleine Wohnung in der Mühle.

    Mari blickte später auf diese Zeit zurück: „In den ungarischen Dörfern waren die Deutschen durchaus gut angesehen, vor allem als billige Arbeitskräfte. Außer Unterkunft und Essen gab es für uns Jugendliche nicht viel: Zusammen mit einer Teveler Freundin kaufte ich uns von unserem Monatslohn ein Kilogramm Weintrauben."

    Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Sowohl die Donauschwaben als auch

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