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Das Geheimnis von Sunderley: Band I
Das Geheimnis von Sunderley: Band I
Das Geheimnis von Sunderley: Band I
eBook753 Seiten9 Stunden

Das Geheimnis von Sunderley: Band I

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Über dieses E-Book

Die Sunderley-Saga:

Nach dem Tod ihrer Eltern besucht Elisa die englische Grafschaft Rochester. Bei einer Auktion findet sie das Porträt einer Frau, die vor kurzem gestorben ist – und das verblüffende Ähnlichkeit mit ihr hat. Bei ihren Nachforschungen findet sie heraus, dass diese Frau aus einem alten Adelsgeschlecht stammt und von einem düsteren Familiengeheimnis umgeben ist. Nach und nach enthüllt Elisa die mysteriöse Geschichte von Sunderley und eines Geheimnisses, dessen Auswirkungen sich auf mehrere Generationen und bis in die heutige Zeit erstrecken.

England, 1860. Im ersten Band der gefühlsgewaltigen Historiensaga lernen wir Elizabeth Devane kennen, eine Vorfahrin der jungen Frau auf dem Gemälde. Aus einer persönlichen Notlage heraus nimmt sie das Heiratsangebot des mächtigen Adligen Edward LeFroy an – obwohl sie einen anderen liebt. Doch LeFroys Absichten sind alles andere als redlich: Er möchte durch die Heirat mit Elizabeth das uralte Geheimnis ergründen, das die beiden Adelshäuser LeFroy und Devane verbindet. Auch wünscht er, dass Elizabeth ihm eine Tochter schenken möge. Vor Jahren hatte er bereits einen ungewollten Sohn ausgesetzt. Doch sein Wunsch geht nicht in Erfüllung und Elizabeth verkleidet den Jungen aus Furcht vor LeFroy, bis die Scharade herauskommt.
LeFroys Schwiegertochter, die durchtriebene Helena, spinnt ihre eigenen Intrigen auf dem Weg zu Reichtum und Macht – und dabei ist ihr Edward LeFroy im Weg. Doch auch Armand, der verschmähte Schwager, nähert sich mit rachedurstigen Gedanken dem Haus der LeFroys …
Wird Elizabeth eine erfüllte Ehe mit dem älteren Edward LeFroy führen können? Wird sie ihrer großen Liebe nochmals begegnen? Wird sie hinter das Geheimnis von LeFroys ausgesetztem Sohn kommen – und was verbirgt sich hinter den Mauern von Sunderley?
Lassen Sie sich verzaubern von einer längst vergangenen Zeit voller Leidenschaft, Intrigen und Frauen, die einmal nicht unfehlbar, sondern zutiefst menschlich sind.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. Apr. 2015
ISBN9783738024524
Das Geheimnis von Sunderley: Band I

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    Buchvorschau

    Das Geheimnis von Sunderley - Isa Piccola

    Prolog

    Isa Piccola

    Das Geheimnis von Sunderley

    Band I

    Historischer Roman

    Isa Piccola:

    Das Geheimnis von Sunderley

    2., leicht veränderte Auflage 04/2015

    Alle Rechte verbleiben bei der Autorin.

    Für Oma und Mutti

    Ich stehe auf einer weiten Ebene.

    Der Nebel um mich herum verhindert, daß ich weiter als einen Meter sehe.

    Ich will aber sehen.

    Ich muß sehen.

    Ich strenge mich so an, daß mir die Augen aus den Höhlen treten wollen.

    Ich versuche, den Kopf zu drehen.

    Es gelingt mir nicht.

    Ich kann nur nach unten sehen.

    Nach unten auf eine offene Grube.

    Ein Grab.

    Mein Grab.

    Ich sehe den Grabstein.

    Weißer Marmor.

    Rechts und links daneben

    zwei steinerne Engel.

    Sie sollen meine ewige Ruhe bewachen.

    Auf dem Stein ein Name in goldenen Lettern.

    Edward LeFroy.

    Ich kann endlich den Blick heben.

    Ich will fort von diesem Ort des Grauens.

    Doch ich kann nicht.

    Links neben der Grube stehen mein Sohn und eine Frau.

    Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen.

    Sie hält meinen Sohn fest umklammert.

    Beide sehen mich kalt und unbarmherzig an.

    Sie voller Haß. Er voller Liebe zu ihr.

    Ich soll springen.

    Langsam trete ich vor.

    Aus dem Nebel hinter dem Stein tritt eine weitere Gestalt.

    Meine Frau.

    Sie redet, aber ich höre ihre Worte nicht.

    Sie will zu mir, doch eine unsichtbare Wand läßt sie nicht passieren.

    Sie will mir helfen, doch es ist zu spät.

    Mein Sohn und die Frau treten neben mich.

    Sie stoßen mich hinab.

    Ich habe keine Kraft mehr, mich zu wehren.

    Ich falle.

    Ich schließe die Augen.

    Ich falle

    .

    .

    .

    .

    .

    falle.

    Wann ist es endlich vorbei?

    Sommer 2011

    Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich an einer Auktion teilnehmen würde.

    Damals ahnte ich noch nicht, daß diese spontane Entscheidung mein Leben dermaßen auf den Kopf stellen sollte. Eigentlich wollte ich in meinem Urlaub in England auf den Spuren meiner Eltern wandeln. Ich wollte die Orte besuchen, die sie vor über dreißig Jahren gesehen hatten.

    An diesem Dienstag im Juni hatte ich einen Ausflug von Rochester nach Sunderley unternommen. Mit dem Bus war ich nach Langton Green, einem kleinen Dorf in der Nähe von Sunderley, gefahren. Von dort war ich zu Fuß weitergegangen. Doch als ich zum Tor dieses alten Anwesens kam, entdeckte ich einen Anschlag mit der Ankündigung, daß gerade heute diese Auktion stattfinden sollte. Eine Nachlaßauktion. Also waren wohl die Besitzer von Sunderley verstorben und die Nachkommen wollten alles verkaufen. Wie traurig… Aber vielleicht gab es auch gar keine Nachkommen? Das würde ich vielleicht noch erfahren.

    Eine Weile stand ich zögernd vor dem Blatt Papier mit der Bekanntmachung. Ich wußte gar nicht, wie man sich bei so einer Veranstaltung verhielt, ob man sich vorher anmelden mußte… und genug Geld hatte ich bestimmt auch nicht. Schließlich war Sunderley dem Aussehen nach ein uralter Familienstammsitz, auf dem es sicher nur teure Sachen zu erstehen gab.

    Aber gleichzeitig wußte ich auch, daß dies wahrscheinlich meine einzige Chance wäre, das Anwesen einmal von innen zu sehen. Wenn es erst einmal verkauft wäre… die neuen Besitzer würden es mit Sicherheit nicht zu einem Museum umfunktionieren! Doch seit ich im Vorfeld meines Urlaubs das alte Fotoalbum meiner Eltern studiert hatte, wollte ich genau dieses Haus unbedingt sehen. Es war zwar nur im Hintergrund eines einzigen Fotos zu sehen gewesen, doch der Name, der darunter stand, hatte mich irgendwie seltsam berührt. Sunderley… das erinnerte mich an Rebeccas Manderley… Vielleicht war Daphne du Maurier auch einmal hier gewesen und von dem Haus inspiriert worden?

    Das könnte man herausfinden. Aber erst später! Also los! Hinein!

    Ich nahm all meinen Mut zusammen, trat durch das weit geöffnete Eingangstor und lief den langen Kiesweg in Richtung des altehrwürdigen Gebäudes entlang. Es sah etwas verfallen aus, der Putz bröckelte schon an einigen Stellen von den Wänden und auch die parkartige Umgebung schien seit langer Zeit nicht mehr gepflegt worden zu sein. Das Gras wuchs kniehoch – undenkbar für jeden Engländer! -, die Beete, die einst den Hauptweg gesäumt haben mußten, waren kaum noch zu erkennen. Mich überkam ein Gefühl der Traurigkeit. Wer weiß, wie lange die alten Leutchen, denen das Anwesen gehört hatte, hier gelebt hatten, ohne daß jemand sich um sie kümmerte… die Kinder waren sicher weit weg und kamen nun lediglich zurück, um alles zu verscherbeln…

    Ich zwang mich, diese Gedanken aus meinem Kopf zu verscheuchen und beeilte mich, in das Haus zu gelangen. Die Tür war geschlossen. Vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, drückte ich die Klinke hinunter und hörte, daß die Auktion schon begonnen hatte. Natürlich! Wieder einmal kam ich zu spät.

    Ich trat dennoch möglichst leise ein. Nach ein paar Schritten kam ich in einen großen Raum, in dem viele Reihen mit modernen Stühlen aufgestellt waren. Mir gegenüber, am anderen Ende des ansonsten klassisch ausgestatteten Raumes, befand sich das Pult des Auktionators mit einem dunkel gekleideten Herrn dahinter.

    Ich sah mich flüchtig um. Offensichtlich hatte der Veranstalter mit zahlreichen Interessenten gerechnet. Doch von den Stühlen waren nur wenige besetzt. Vielleicht ein halbes Dutzend Leute saß dort. Ich wollte mich unauffällig in die letzte Reihe setzen, um die Auktion nicht zu stören. Doch die Stühle waren so eng gestellt, daß ich mit einem Fuß an einem Stuhlbein hängenblieb und dadurch ein schabendes Geräusch erzeugte. Typisch! Alle Köpfe flogen herum und sahen mich mißbilligend an. Ich spürte, wie ich rot anlief und es mir nur mit Mühe gelang, mich endlich auf diesen Stuhl zu setzen. Der Auktionator sah am längsten zu mir herüber. Doch seltsamerweise schien er nicht wirklich wütend, sondern eher verwirrt zu sein – wahrscheinlich, weil ich ihn unterbrochen und er dadurch den Faden verloren hatte. Ich senkte den Blick und hoffte, daß er dies als Entschuldigung akzeptieren und fortfahren würde.

    So war es auch. Man war gerade beim Geschirr. Nach kurzer Überlegung stand fest, daß ich hier bestimmt nicht mitbieten würde – viel zu kompliziert, um es nach Hause zu befördern, wahrscheinlich würde es nur in winzigen Einzelteilen ankommen. So hatte ich Zeit, mich ein wenig genauer umzusehen.

    Der Raum, in dem wir saßen, hätte rein von der Lage her eine Eingangshalle sein können. Doch die Ausstattung deutete eher auf einen Salon hin. Die hellblau gemusterte Wandbespannung, die Möbel, die an den Wänden standen und deren verschnörkelte Formen unter ihren Abdeckungen zu erahnen waren… Ungewöhnlich für ein Haus dieser Größenordnung, daß es keine Eingangshalle gab, sondern man quasi gleich von der Tür ins Wohnzimmer stolperte. Der Auktionator stand vor einer Glastür, die wahrscheinlich in den Garten führte. Das Wort „Durchgangszimmer" erhielt hier einen ganz neuen Sinn. Es mußte schwer sein, den Raum im Winter zu beheizen – ich sah nur einen einzigen alten Kachelofen. Wer hatte nur so ein Haus konstruiert? Es fing an, mich ungemein zu interessieren.

    Meine Betrachtungen wurden unterbrochen, denn die Versteigerung des Geschirrs war zu Ende. Nun kündigte der Auktionator an, daß es mit den Gemälden weitergehen sollte. Schade… auch diese wären zu groß zum Transport. Es sei denn, es fände sich eines von der Größe meines Koffers.

    Man beginne, so sagte der Auktionator gerade, mit einem Jugendporträt der verstorbenen Besitzerin, einer Mrs Devane. Und da wurde es auch schon hereingetragen. Es zeigte eine Dame, vielleicht um die dreißig, in ein elegantes graublaues Kleid gehüllt. Bei der Betrachtung ihrer Gesichtszüge kam mir ein seltsames Gefühl der Vertrautheit, obwohl ich sie doch nie im Leben gesehen haben konnte. Plötzlich merkte ich, wie absolute Stille im Raum herrschte. Der Auktionator starrte mich mit offenem Mund an, sah zum Bild, dann wieder zu mir. Auch alle anderen Anwesenden hatten sich zu mir umgedreht und sahen mich mit einem gewissen Entsetzen an. Was war nur los? Mir lief es kalt den Rücken herunter und dann spürte ich, wie mir erneut die Röte ins Gesicht schoß. Was hatte ich denn nun schon wieder falsch gemacht? Beschämt sah ich auf meine Fingernägel und überlegte, ob es eine gute Idee wäre, jetzt den Saal zu verlassen. Aber da hörte ich den Auktionator sagen:

    „Aufgrund unvorhergesehener Umstände… äh, Sie verstehen… wird die Auktion hiermit bis… bis auf weiteres vertagt."

    Allgemeines Murmeln, doch es klang nicht wütend, sondern eher verständnisvoll. Nacheinander standen die Anwesenden auf und verließen den Saal. Ich traute mich nicht, sie anzusehen und tat so, als ob ich in meinem Rucksack etwas suchte. Als die Tür ein letztes Mal klappte, wagte ich, wieder aufzusehen. Ich war allein mit dem Auktionator und einem anderen Herrn zurückgeblieben. Die beiden stritten heftig miteinander und sahen dabei immer wieder zu mir herüber. Schließlich warf mir der andere noch einen, wie mir schien, haßerfüllten Blick zu, drohte dem Auktionator mit der blanken Faust und stürmte durch die Glastür hinaus.

    Doch ich selber schaffte es immer noch nicht, aufzustehen und zu gehen. Ich starrte auf das Bild dieser Mrs Devane und begriff allmählich, was geschehen war. Die Leute hatten wahrscheinlich eine nicht zu leugnende, aber meiner Meinung nach sehr geringe Ähnlichkeit zwischen der Dame auf dem Bild und mir festgestellt. Ein Zufall, mehr nicht. Die Dame auf dem Bild war sehr schön, zwar ein wenig füllig, aber gerade so, daß es noch akzeptiert würde. Ich hingegen konnte im Leben nicht mit einer solchen Schönheit verglichen werden.

    Der Auktionator mußte meine Hilflosigkeit erkennen, denn er legte seinen Hammer aus der Hand und kam mit einem freundlichen Lächeln auf mich zu. Er mochte etwa Mitte vierzig sein, war sehr schlank und groß und hatte dunkelbraune, leicht wellige Haare und Augen von der Farbe sehr dunklen Bernsteins. Er schüttelte mir die Hand und sagte dabei:

    „Beavens, George Beavens ist mein Name. Und Sie sind Miss…?"

    Ich stand endlich auf und erwiderte seinen Händedruck.

    „Stein. Elisa Stein."

    Er wirkte etwas enttäuscht.

    „Sch-tein? Sie sind… nicht aus der Gegend?"

    „Nein, ich bin aus Deutschland. Ich bin hier nur im Urlaub und zufällig auf diese Auktion geraten…"

    Er sah mich forschend an, blickte dann erneut auf das Bild und wieder auf mich. Dann murmelte er:

    „Aber solch einen großen Zufall kann es doch nicht geben…. Verzeihen Sie, wenn ich so direkt frage, aber… sind Sie vielleicht von Ihren Eltern adoptiert worden?"

    Ich schüttelte den Kopf und hielt mit Mühe die aufsteigenden Tränen zurück. Die Erinnerung schmerzte immer noch. Schließlich antwortete ich:

    „Nein."

    „Sind Sie ganz sicher? Haben Sie Ihre Eltern je gefragt, ob… Er brach ab, denn er sah, daß ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte und reichte mir ein Taschentuch. Ich machte ausgiebigen Gebrauch davon und ließ ein erneutes „Nein verlauten. Er gab noch immer nicht auf:

    „Könnten… könnten Sie nicht Ihre Eltern anrufen und fragen, ob…" Wieder brach er ab, denn wieder kamen mir die Tränen. Endlich brachte ich schniefend hervor:

    „Ich kann sie nicht mehr fragen, denn sie sind vor einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen."

    Mr Beavens drückte seine Anteilnahme aus und schwieg dann betreten. Ich ahnte, daß ihm die gleichen Gedanken wie mir durch den Kopf gehen mußten. Wie kam es zu dieser Ähnlichkeit? Es konnte wirklich nicht mehr als Zufall sein, denn ich hatte nie Zweifel gehabt, das Kind meiner Eltern zu sein. Schließlich schien er sich verpflichtet zu fühlen, mir einiges zu erklären:

    „Miss… Stein, Sie müssen wissen, ich bin mit den Nachlaßangelegenheiten von Sunderley betraut. Ich würde mich gern in Ruhe mit Ihnen über einige Dinge unterhalten. Wäre es Ihnen möglich, mich morgen vormittag in meinem Büro in Langton Green aufzusuchen? Bis dahin habe ich die nötigen Unterlagen beisammen."

    Natürlich wäre es mir möglich. Wir verabredeten uns zu zehn Uhr, doch mir fiel noch rechtzeitig ein, daß ich gar nicht wußte, ob um diese Uhrzeit schon ein Bus aus Rochester fuhr? Mr Beavens nickte:

    „Der Bus hält genau um zehn Uhr vor meinem Büro."

    Er verabschiedete sich von mir, und wir gingen gemeinsam zum Ausgang, als mir bei einem Blick auf meine Armbanduhr siedend heiß etwas auffiel: der letzte Bus zurück nach Rochester fuhr um 17 Uhr ab Langton Green. Und es war bereits 17.15 Uhr! Wie sollte ich nun zu meiner Pension kommen?

    Mr Beavens sah mich lange forschend an und sagte schließlich:

    „Sunderley ist nur einen kurzen Spaziergang von Langton Green entfernt. Könnten Sie sich vorstellen, die Nacht heute hier zu verbringen? Ich würde Ihnen den Schlüssel überlassen und Ihnen später noch ein paar Lebensmittel vorbeibringen, wenn Sie möchten… Natürlich, wenn es Ihnen zu gruselig ist, allein in diesem fremden Haus… " Ich war vollkommen verblüfft über dieses großzügige Angebot. Er kannte mich überhaupt nicht, und nun wollte er mir für eine Nacht dieses großartige Anwesen zur Verfügung stellen? A dream come true, wie die Engländer sagen! Offenbar deutete er mein überraschtes Schweigen falsch, denn er fügte hastig hinzu:

    „Keine Sorge, es gibt Elektrizität und fließendes Wasser, und ich verlange auch keinerlei Gegenleistung dafür. Es ist nur… einfacher so, dachte ich. Sie dürfen sich hier frei bewegen und umschauen, wenn Sie möchten. Im ersten Stockwerk befinden sich die Schlafzimmer, Sie werden bestimmt eines mit einem frisch bezogenen Bett finden. Ich würde Ihnen das Turmzimmer empfehlen. Wenn Sie natürlich lieber nach Rochester zurück möchten, rufe ich Ihnen ein Taxi…"

    Ich schüttelte erschrocken den Kopf. Nein, diese einmalige Chance würde ich mir sicher nicht entgehen lassen! Ich bedankte mich herzlich und versicherte ihm, daß ich in meinem Rucksack noch genügend Vorräte hätte, um die Nacht zu überstehen. Ich hatte sogar meine Zahnbürste dabei – eine alte Marotte, die mir jetzt zupaß kam. Ich reiste nie ohne meine Zahnbürste – man konnte ja nie wissen!

    Mr Beavens händigte mir einen Schlüssel aus und beschrieb mir noch den Weg zu seinem Büro in Langton Green. Dann verabschiedete er sich endgültig mit einem zufriedenen Lächeln. Doch bevor er die Tür hinter sich schloß, mußte ich ihm noch eine Frage stellen:

    „Wieso haben Sie ein derart großes Vertrauen zu mir, Mr Beavens? Obwohl Sie mich überhaupt nicht kennen?"

    Er sah mich lange an, bevor er erwiderte:

    „Das, Miss Stein, erfahren Sie morgen um zehn Uhr."

    Nachdem Mr Beavens die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand ich mindestens zehn Minuten unbeweglich da und starrte auf die Tür. Die Situation war einfach grotesk und vollkommen unwirklich. Ich spürte das sich erwärmende Metall des Schlüssels in meiner rechten Hand, und endlich konnte ich mich dazu durchringen, die Tür von innen zu verschließen. Man konnte schließlich nie wissen… Dann atmete ich einmal tief durch und wandte mich zurück zum Salon. In mir machte sich Müdigkeit breit. Es war ein aufregender und anstrengender Tag gewesen. Was sollte ich als erstes tun? Das Haus erkunden? Eine Schlafmöglichkeit finden? Als ich an letzteres dachte, stand die Entscheidung sofort fest: es wäre besser, jetzt ins Bett zu gehen und am nächsten Morgen zeitig aufzustehen, um das Haus ausgeruht kennenzulernen. So würde ich viel mehr aufnehmen von all dem, was ich zu sehen bekäme.

    Mr Beavens hatte gesagt, daß sich die Schlafzimmer im ersten Stock befänden. Von der Mitte des Salons aus sah man die Treppe, die wohl dort hinführte. So stieg ich diese also hinauf, nachdem ich nach kurzer Suche nach einem Schalter das Licht im Salon ausgemacht hatte. Die Schalter wirkten ein wenig altmodisch, aber immerhin gab es überhaupt Strom. Im übrigen war es jetzt im Sommer noch hell genug, um auch ohne Licht gut zu sehen.

    Am Ende der Treppe kam ich in einen Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Ich versuchte mich zu orientieren, wo das von Mr Beavens empfohlene Turmzimmer liegen mochte, und ging einmal durch den Flur. Die Tür an dessen Ende war verschlossen – wie alle anderen Türen auch, wie ich noch feststellen würde - , doch mein Generalschlüssel öffnete sie mir. Ein Blick hinein zeigt mir, daß dies das gesuchte Zimmer war.

    Die Wände waren zu drei Seiten rund – das sah ganz so aus wie ein Turmzimmer. In der Mitte befand sich ein riesiges Himmelbett, das aus der Bauzeit des Hauses stammen mußte. Ich schätzte es mit meinem Halbwissen auf die späte Tudorepoche. Der Betthimmel ruhte auf kunstvoll gedrechselten Säulen; schwere dunkelblaue Samtvorhänge verwehrten den Blick in das Innere. Ich trat, plötzlich aus unerklärlichen Gründen befangen, vorsichtig näher und warf einen Blick hinter die Vorhänge – das Bett war gemacht und bezogen. Es roch zwar ein wenig muffig, aber auf eine Art, die ich liebte. Als ob ich erwartet worden wäre… Unsinn! Sicher war dies zu Lebzeiten der früheren Besitzer ein Gästezimmer gewesen, das immer in Bereitschaft gehalten worden war.

    Ich stellte meinen Rucksack ab und legte mich vorsichtig auf das Bett, um zu sehen, ob es nicht knarrte oder gar Schlimmeres passieren würde. Zum Glück war das nicht der Fall, denn das war eines der Dinge, die ich überhaupt nicht ausstehen konnte – knarrende Betten. Ich beschloß sofort, auf keinen Fall bei geschlossenen Vorhängen zu schlafen - ich würde mir die ganze Nacht über wie in einem Gefängnis vorkommen. Also begann ich, die Behänge an allen Seiten mit den dafür vorgesehenen Samtkordeln zurückzubinden. Schon besser.

    Dann sah ich mich weiter im Zimmer um. Es war mit einer dezent roséfarbenen Seidentapete bespannt. Passend dazu waren die Stoffe der Möbel gehalten. Wenn mich mein Halbwissen nicht täuschte, waren es typisch viktorianische Möbel aus dem 19. Jahrhundert. Nur das Bett wirkte, als ob es irgendwie nicht dazugehörte – vielleicht hatte es ursprünglich in einem anderen Zimmer gestanden und war dann hierher gebracht worden. Es standen außerdem noch ein kleiner Tisch und drei sesselartige Stühle im Raum sowie ein Schreibtisch und ein großer Schrank. Neugierig ging ich zu diesem hin, um einen Blick hinein zu werfen – und schlug die Tür erschrocken wieder zu! Hatte ich richtig gesehen? Konnte das sein?

    Ich öffnete die Tür wieder, ganz langsam, denn dem Schrank war zudem ein entsetzlicher Gestank entströmt (nach Mottenkugeln? Etwas anderes konnte es beinahe nicht sein…) und sah erneut hinein. Es war wirklich wahr: der ganze Schrank hing voller Kleider – doch handelte es sich nicht um moderne Kleider.

    Behutsam tastete ich über die Stoffe, immer in der Furcht, alles könnte unter meinen Fingern zu Staub zerfallen. Doch nichts passierte, es entstanden auch keine Risse oder Löcher, als ich vorsichtig zugriff. So wurde ich mutiger und nahm eines der Kleider erst ein Stück, dann gänzlich aus dem Schrank heraus. Es war ein einfaches Kleid aus grauem, aber feinem Wollstoff. Nicht besonders modisch, einfach geschnitten. Ich schätzte es auf Mitte des 19. Jahrhunderts. Was mich jedoch überraschte, war die Größe des Kleides. Es schien… ja, es schien sogar mir passen zu können! Und das, wo doch die Damen damals erstens sehr klein und zweitens ungemein schlank waren!

    Ich entschied nicht ohne Herzklopfen, es auszuprobieren. Dazu verschloß ich die Zimmertür von innen mit meinem Generalschlüssel (wie albern, ja….) und schlüpfte ohne große Mühe in das Kleid. Es paßte wie angegossen! Also hatte es auch damals fülligere Frauen meiner Statur und Größe gegeben… irgendwie beruhigte mich das, warum auch immer.

    Ich zog das Kleid mit größter Sorgfalt wieder aus und hängte es möglichst ordentlich in den Schrank zurück. Nicht einfach, so voll wie der Schrank war. Ich hatte große Lust, auch die anderen anzuprobieren, doch schreckte mich dieser unmögliche Geruch ab. Der Geruch… ich mußte mich schleunigst davon befreien, sonst würde ich in der Nacht kein Auge zutun!

    Also verließ ich mein Turmzimmer und machte mich auf die Suche nach einer Dusche. Während ich alle Türen im oberen Stockwerk aufschloß, kam mir in den Sinn, daß eine solche moderne Einrichtung bei einem so alten Anwesen vielleicht oder sogar sehr wahrscheinlich gar nicht existieren würde…. Doch ich gab nicht auf, und bei der vorletzten Tür, genau neben der Treppe (ich hatte die Suche natürlich auf der anderen Seite begonnen), wurde ich fündig – eine Mini-Dusche mit Toilette und Waschbecken. Der Raum war winzig, bestimmt war er früher eine Besenkammer oder ein Abstellraum gewesen. Doch das war mir egal. Ich fand saubere Handtücher, sogar ungebrauchte Hygieneartikel – wie in einem Luxushotel! – und säuberte mich von den Abenteuern des Tages. Da mein Zimmer durch die Sonne aufgeheizt war, entschied ich, in Unterwäsche zu schlafen, und eilte beschwingt zurück in „mein Zimmer und „mein Bett.

    Doch als ich dort lag und es mir gerade so richtig bequem machen wollte, knirschte es plötzlich ganz gehörig – erschrocken sprang ich wieder heraus, weil ich fürchtete, das gute alte Stück hielte doch mein Gewicht nicht aus. Doch es fiel nicht in sich zusammen, sondern blieb friedlich stehen. Ich ging einmal um das Bett herum, und da sah ich die Bescherung: unter der Stoffbespannung am Fußende mußte sich ein Brett gelöst haben. Mit zittrigen Fingern versuchte ich, es wieder hineinzudrücken – ich wollte ja nichts kaputt hinterlassen, das fehlte noch! Doch es gelang nicht, da war irgendein Widerstand. Schließlich kam ich auf die geniale Idee, einfach den Stoff hochzuheben und nachzusehen – und erkannte, daß es kein gelöstes Brett war, sondern eine Schublade.

    Ein Geheimfach! Oder? Vorsichtig zog ich die Lade weiter heraus und sah hinein. Ein Stapel Dokumente lag dort – offensichtlich Briefe, kleine Bücher, die wie Tagebücher aussahen. Zuoberst lag ein Umschlag mit den Worten: „Bitte zuerst lesen!" Anscheinend hatte jemand damit gerechnet, daß dieses Geheimfach eines Tages gefunden würde. Ich nahm alles vorsichtig heraus.

    Dann setzte ich mich wieder auf das Bett, denn jetzt kannte ich ja die Ursache für das seltsame Geräusch von vorhin. Den Stapel mit den Dokumenten legte ich neben mich und öffnete den Umschlag. Darin fand ich folgenden undatierten Brief:

    Liebe unbekannte Leserin,

    es ist Dir also gelungen, das zu erreichen, was ich mir erhofft hatte. Du hast das Geheimfach als erste wieder geöffnet. Nach wie vielen Jahren? Vielleicht fünfzig, oder gar hundert? Ich werde es nicht erfahren, aber ich werde Dir verraten, wie Du es geschafft hast.

    Ich habe in dieses Bett einen Mechanismus einbauen lassen, durch den allein das Fach geöffnet werden kann. Dazu bedarf es allerdings eines ganz spezifischen Gewichts. Ich werde die Zahl hier nicht nennen, Du kennst sie selbst am besten. Schäme Dich nicht dafür, denn es ist die Zahl, die auch für mich jahrelang galt. Ich wollte, daß eine wie ich das Geheimnis lüften kann.

    Aber sei gewarnt, liebe unbekannte Freundin. Das Geheimnis, das seit Jahrhunderten über unserer Familie liegt – mein Geliebter und ich, wir haben es als erste gelöst. Doch es hat Unglück über uns gebracht. Für uns wurde es ein tödliches Geheimnis. Deswegen habe ich es wieder vor den Augen der Welt verborgen. Ich habe es nicht vernichtet, weil ich die Hoffnung in mir trage, daß sich die Zeiten ändern werden. Die Anzeichen dafür sind da. Vielleicht ist unser Wissen in der Zeit, in der Du lebst, nicht mehr tödlich.

    Ich habe hier alle Dokumente versammelt, die ich über die Jahre zusammentragen konnte. Mein Tagebuch ist dabei, und auch das meiner so jung verstorbenen Schwester. Briefe von vielen der Beteiligten. Lies alles, und Du wirst in meine Welt eintauchen. Und entscheide jederzeit selbst, ob es gut ist für Dich, noch weiter zu lesen, oder ob Du alles wieder dahin legst, wo Du es gefunden hast.

    Sei auf der Hut: Wissen ist Macht, und es kann töten. Immer dann, wenn Menschen nach Macht gieren.

    Elizabeth Devane"

    Wer war Elizabeth Devane? Ich kramte einen Moment in meinem Kopf… hieß nicht die verstorbene Besitzerin von Sunderley so? Auf alle Fälle hatte sie es geschafft, all meine Müdigkeit zu vertreiben. So folgte ich ihrer Aufforderung und begann zu lesen – und tauchte ein in diese längst vergangenen Zeiten.

    Und es ist nur recht und billig, daß diese Menschen ihre Geschichte selbst erzählen:

    Dramatis Personae:

    William Devane, Besitzer von Sunderley

    Catherine Devane, seine Frau

    Elizabeth, genannt Lizzie, deren ältere Tochter

    Helena, die jüngere Tochter

    Edward LeFroy, Witwer und Besitzer von Stonehall

    Louis LeFroy, dessen Sohn

    Sarah LeFroy, Edwards Schwester

    Amanda LeFroy, Edwards verstorbene erste Frau

    Emma Gallingher, Witwe, Cousine von William Devane

    Aphrodite Gallingher, deren Tochter

    Der Earl of Rudham, Onkel von Edward LeFroy

    Lady Rudham, dessen junge Frau

    Barbara Lee Ambisher, eine Frauenrechtlerin, und deren Ehemann Roger

    sowie der geheimnisvolle Jean und

    Maud Emmerane, eine kräuterkundige Frau und Hebamme

    Herbst 1860

    1

    „Elizabeth! Lizzie!! Kind, wo steckst du nur wieder?"

    Ich sah nur noch, wie meine Frau Catherine leicht kurzatmig die Treppe zum Obergeschoß unseres Hauses hinaufeilte. Dort lag das Zimmer unserer älteren Tochter, die sie verzweifelt suchte.

    Ich hatte Catherine eine Minute zuvor eine wichtige Nachricht überbracht - eine, wie man sie nicht alle Tage erhält. Und diese durfte sie Elizabeth und deren Schwester natürlich nicht vorenthalten.

    Lizzies Zimmer lag am Ende des Korridors, im Turm unseres Hauses. Catherine vermutete lautstark, daß sie wegen der Entfernung das aufgeregte Rufen nicht gehört hatte. Im oberen Stockwerk angekommen, holte sie noch unsere jüngere Tochter Helena aus deren Zimmer und zwang sie, mit ihr zu gehen. Ich folgte den Damen gemächlich. Warum sich an einem sonnigen Septembermorgen dermaßen echauffieren? Es wurde Herbst, und die einsetzende Ruhe der Natur sollte sich auch auf uns übertragen. Zumindest wünschte ich mir das. Aber meine Wünsche wurden in diesem Hause leider selten respektiert…

    Als meine Frau die Tür zu Lizzies Zimmer öffnete, sah ich meine Tochter an ihrem Schreibtisch sitzen. Sie schlug erschrocken ein kleines Buch zu, als die beiden Damen in ihr Zimmer stürzten. Sie fragte etwas verstört:

    „Mama, was ist denn geschehen? Warum so aufgeregt?"

    Catherine ließ sich erschöpft in einem Sessel nieder. In ihrem Alter war sie solche Dauerläufe nicht mehr gewöhnt. Zwar hatte sie sich ihre gertenschlanke Figur bewahrt, doch der Zahn der Zeit nagte auch an ihr. Sie litt in letzter Zeit immer häufiger unter Kurzatmigkeit, wenn wir längere Spaziergänge unternahmen. Das machte mir ein wenig Sorgen, aber sie schob es auf die Nachwirkungen des feuchten Sommers, der sich auf ihre Lungen gelegt habe. Und wenn meine Frau sich einmal etwas fest eingeredet hatte, war sie davon nicht mehr abzubringen.

    Helena blieb erwartungsvoll neben dem Sessel stehen, in dem ihre Mutter Platz genommen hatte. Sie trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Offenbar konnte sie es kaum erwarten zu erfahren, was denn geschehen war. Ich vermutete, daß sie vom Fenster ihres Zimmers aus den Boten gesehen hatte, der den Brief gebracht hatte. Und ein Brief versprach immer eine willkommene Abwechslung in unserem für junge Damen sicherlich eintönigen Alltag hier auf dem Lande. Vielleicht war es eine Einladung zum Ball oder gar zu einer Reise zu einer entfernten Verwandten? Mir wurde plötzlich bewußt, wie abgeschieden wir hier auf Sunderley eigentlich lebten. Das nächste Dorf, Langton Green, war eine gute Stunde Fußmarsch entfernt. Und unsere nächsten Nachbarn, die im Vergleich dazu nur einen Katzensprung entfernt auf dem Anwesen Stonehall lebten, wollten nichts mit uns zu tun haben. Doch so war es immer für die Devanes gewesen; sie kannten es nicht anders und waren gewöhnt an die Einsamkeit. Und auch ich hatte mich letztendlich daran gewöhnt und war einer der Ihren geworden, der das Landleben schätzte und die Vorzüge der Großstadt London bald vergessen hatte.

    Als Catherine endlich ihren Atem wiedergefunden hatte, ergriff sie das Wort und verkündete die Neuigkeit des Tages. Dabei wedelte sie aufgeregt mit dem Brief:

    „Elizabeth, Helena, heute ist ein besonderer Tag für euch und überhaupt für uns alle. Wir haben soeben eine wichtige Einladung erhalten. Ihr könnt euch nicht vorstellen, von wem!" Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und zeigte uns allen den Briefumschlag. Auf der Vorderseite stand unsere Adresse; die Handschrift war mir unbekannt. Ich wollte Catherine gerade bitten, uns doch nicht so sehr auf die Folter zu spannen, als sie aufgeregt fortfuhr:

    „Ihr werdet es nicht glauben: in vier Wochen – genauer gesagt, am neunten Oktober - gibt unser verehrter Nachbar, der gute Mr LeFroy, einen großen Ball! Und wir sind eingeladen! Was sagt ihr nun? Ist das nicht eine sensationelle Neuigkeit?"

    Das war es in der Tat! Selbst ich war angenehm überrascht. Immerhin hatten wir den geheimnisvollen Gastgeber bisher nicht persönlich kennengelernt, und das, obwohl er bereits seit mindestens fünf Jahren dort wohnte. Er schien entweder sehr menschenscheu zu sein oder, so hatte Helena einmal vermutet, er hatte einen besonders guten Grund, sich auf seinem Anwesen zu verstecken. Ich hatte ihr jedoch verboten, über die Gründe zu spekulieren – das ging uns nichts an. Wenn Mr LeFroy entschied, daß er niemanden sehen wollte, so war das seine Sache. Meine Frau fuhr fort, ihren Gefühlen Luft zu machen:

    „Ich bin noch immer ganz außer mir! Nach all den Jahren! Immerhin hatten wir die Hoffnung, jemals bei ihm einen Ball besuchen zu dürfen, schon aufgegeben. Denn ihr wißt ja selber: der Herr hat seit seinem Einzug auf Stonehall keine einzige Gesellschaft gegeben, was eine Schande ist, wenn man der reichste Gutsbesitzer in der gesamten Umgebung ist. Ich verstand nicht, wie meine Frau immer wieder solche langen, kunstvollen Sätze bilden konnte, ohne den Faden zu verlieren. „All die Jahre lang hat er sich kaum einmal außerhalb seines Anwesens blicken lassen! Aber das scheint nun glücklicherweise vorbei zu sein! Dieser Ball wird für euch Kinder die ideale Gelegenheit sein, endlich einen jungen Mann kennenzulernen! Wie ich hörte, sind die bedeutendsten Familien der Grafschaft eingeladen, unter anderem auch die Abrahams und die Sallfields! Was sagt ihr nun? Ist das nicht unglaublich?!

    Mrs Devane (ich nenne sie häufig so, es schafft in manchen Situationen einfach den nötigen Abstand) hatte so schnell gesprochen, daß sie ganz rot geworden war und erst einmal Atem holen mußte. Helena benutzte die Pause im Redeschwall ihrer Mutter, um ihrerseits ihren Gefühlen Luft zu machen. Ich weiß ja, wie sehr sie Bälle liebt und wie sie darunter leidet, daß diese auf dem Lande so selten gegeben werden. Aber warum mußte sie immer so pathetisch werden?

    „Oh Mama, das ist einfach herrlich! Außerordentlich! Beinahe unfaßbar! Wir waren gewiß seit einem halben Jahr auf keinem Ball mehr! Weshalb hatte Mr LeFroy nicht schon früher diese Idee? Für einen so reichen Mann ziemt es sich nicht, keine Bälle zu geben! Und sein Sohn, wie alt ist er? Ist er ansehnlich?"

    Ich sah, wie Mrs Devane die Stirn runzelte. Sie mochte keine Fragen, auf die sie keine Antwort wußte. Deswegen betonte sie in solchen Fällen immer, daß sie nicht die einzige Unwissende war:

    „Helena, das weiß bisher kein Mensch hier. Du erinnerst dich jedenfalls, wie Mr LeFroy vor fünf oder sechs Jahren Stonehall gekauft hat. Mit ihm kam wohl eine Miss LeFroy, so erzählte mir einmal Mrs Anderson. Aber niemand weiß, warum die beiden so zurückgezogen lebten. Weißt du noch, William, wie verfallen Stonehall damals schon war, weil sich der alte Eigentümer nicht besonders darum gekümmert hatte? Und dieser Kerl… Berket, hieß er, glaube ich, hat den LeFroys auch noch viel zu viel Geld abverlangt! Ich weiß noch sehr genau, daß Berket damals, vor etwa dreißig Jahren, seinerseits das Gebäude in deutlich besserem Zustand von den Vorbesitzern erworben hatte. Wie hießen die noch gleich? Sie überlegte mit angestrengter Miene, doch ihr Gedächtnis war auch nicht mehr das beste. Nun, jedenfalls waren diese Leute noch schlechtere Nachbarn als die LeFroys. Nicht ein einziges Mal haben sie uns eingeladen! Geschweige denn, uns einmal besucht! Wenn ich mich doch nur noch an ihren Namen erinnern könnte… Kinder, werdet nur nicht alt!"

    Sie sann noch einige Minuten nach, kam aber nicht auf den Namen unserer ehemaligen Nachbarn. Es stimmte, bevor Stonehall an Mr Berket verkauft worden war, lebte dort ein junges Ehepaar mit einem kleinen Sohn. Die Familie hatte dort mindestens genauso lange gelebt wie wir Devanes hier auf Sunderley. Und doch bestand kein freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden Clans. Im Gegenteil, sie schienen sich nicht ausstehen zu können. Ich als derjenige, der in die Familie einheiratete, konnte jedoch nie den Grund dafür in Erfahrung bringen. Catherine behauptete stets, ihn selbst nicht zu kennen. Niemand wüßte mehr, was die Ursache für die Abneigung zwischen den beiden Familien war. Ihre Mutter war kurz nach Catherines Geburt gestorben, und ihr Onkel, der bis zu ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr ihr Vormund war, hatte nie ein Wort darüber verloren. Catherine hatte wohl öfter Versuche unternommen, die Wahrheit herauszufinden – sie waren jedoch allesamt erfolglos geblieben. So lebte man nebeneinander her, ohne daß die Rivalität bedrohliche Ausmaße angenommen hätte. Man ignorierte sich einfach, bis die Familie mit dem vergessenen Namen vor etwa dreißig Jahren die Gegend verlassen und Stonehall an Mr Berket verkauft hatte.

    Catherine hatte ihre Überlegungen erfolglos beendet und fuhr fort:

    „Nun, jedenfalls hat seit ihrem Einzug in Stonehall niemand mehr etwas über diese LeFroys erfahren. Eine Schande ist das, wenn man nicht weiß, wer seine eigenen Nachbarn sind! Aber das wird sich in vier Wochen ändern!"

    Ich stöhnte innerlich auf. Mir tat der arme Mr LeFroy bereits leid. Meine Frau würde ihn den ganzen Abend mit Fragen belästigen und uns dabei unsäglich blamieren. In dieser Beziehung hatte sie leider keinerlei Skrupel. Sie tat stets alles, um ihre unstillbare Neugier zumindest in Ansätzen zu befriedigen. Dabei vergaß sie unglücklicherweise, daß in manchen Fällen das Zauberwort ‚Diskretion’ hieß. Helena machte sich darum weit weniger Sorgen, im Gegenteil:

    „Mama, das ist einfach eine wunderbare Neuigkeit! Nicht wahr, Lizzie?, wandte sie sich an ihre etwas bedrückt wirkende Schwester. Ich erkannte, daß sich Lizzie überhaupt nicht auf diesen Abend freute. Doch Helena, die gar keine Antwort erwartet hatte, brachte sofort ein schwerwiegendes Problem auf das Tapet: „Aber, Mama, ich habe überhaupt gar nichts anzuziehen! Das Kleid vom letzten Ball ist längst aus der Mode! Aber ich habe in Mrs Beetons Domestic Magazine gerade ein reizendes Modell gesehen…

    Catherine unterbrach ihre Tochter etwas unwirsch.

    „Kind, nun übertreibe bitte nicht. Das stellt alles kein Problem dar. Ich habe bereits ins Dorf nach Mrs Mellington geschickt. Wir gehen gleich hinunter und sehen, daß wir dir ein neues Kleid nähen lassen. Was mich betrifft - ich denke, ich trage das schwarze von der Beerdigung von Mr Pollies. Daran wird sich sicher niemand mehr erinnern, es waren ja kaum Leute da, um dem armen Steve die letzte Ehre zu erweisen. Überdies ist schwarz gut für die Figur, und in meinem Alter geht man nicht mehr so farbenfroh wie ihr Kinder... Lizzie, wie sieht es mit deiner Garderobe aus?"

    Die Angesprochene schaute auf. Ich sah die Traurigkeit in ihren Augen und ahnte, was in ihr vorging. Sie wirkte dennoch sehr beherrscht, als sie antwortete:

    „Ich brauche kein neues Kleid, Mama. Ich möchte nicht mitkommen."

    „Elizabeth! Mrs Devane war schockiert und schien beinahe persönlich beleidigt. „Was fällt dir ein? Welchen Unsinn redest du denn da? Auch du mußt langsam einen Mann finden, so gehört es sich nun einmal. Außerdem bist du deutlich über das übliche Heiratsalter hinaus! Also wirst du gefälligst mitkommen und dich für unsere hübschen jungen Männer der Umgebung empfehlen. Oder willst du dir und mir unser eigenes Grab schaufeln?

    Mrs Devane war sicher, daß dieser pathetische Abschluß ihrer Rede auf Lizzie Eindruck machen würde. Ich kannte ihre Ansichten über die Ehe zur Genüge. Für Catherine gab es nichts Erstrebenswerteres für eine Frau, als sich für ihren Ehemann aufzuopfern und stets für ihn da zu sein – nur leider vergaß sie das in ihrer eigenen Ehe manchmal zu leicht. Diese Einstellung hatte sie Helena erfolgreich vererbt. Von frühester Jugend an kokettierte Helena mit jedem Mann, der ihr einen bewundernden Blick schenkte – immer in der Hoffnung, er würde sie erwählen. Bisher hatte sie sich jedoch die falschen Männer ausgesucht. Sie waren entweder bereits verheiratet oder verlobt, oder zu intelligent, um an Helena Gefallen zu finden. Nur meine Lizzie war immun gegen Catherines Reden und interessierte sich nicht für das sogenannte stärkere Geschlecht. Zumindest erweckte sie diesen Eindruck. Und so war Lizzie von der Rede ihrer Mutter natürlich überhaupt nicht beeindruckt:

    „Mama, ich habe gewiß nicht die Absicht, dir weh zu tun. Es ist nur so, daß ich das Gefühl habe,… ich passe einfach nicht in diese Gesellschaft. Du weißt doch, ich bin gänzlich ungeeignet, um mit wildfremden Menschen Konversation zu machen. Außerdem... schau mich doch an. Es würden mich alle nur auslachen. Kannst du das nicht verstehen?"

    Das konnte sie natürlich nicht, und Mrs Devane wurde dann schnell wütend. Sehr schnell.

    „Nein!! Diese fadenscheinige Begründung lasse ich nicht gelten. Hier geht es ums Prinzip. Demzufolge wirst du mitkommen, ob du willst oder nicht. Deinetwegen lasse ich mir nichts nachsagen. Dann heißt es wieder: die Devanes sind uneins. Sie haben ihre Kinder nicht anständig erzogen! – Deine Schwester war schon mit fünfzehn auf ihrem ersten Ball. Du hast dich bisher erfolgreich deinen gesellschaftlichen Pflichten entzogen und warst ein einziges Mal mit achtzehn auf der Hochzeit einer entfernten Cousine. Danach bist du immer krank geworden, wenn ein größeres Ereignis anstand. Aber das ist nun vorbei. Du hast vier Wochen Zeit, um dich seelisch darauf vorzubereiten. Helena wird mit dir Tanzen und Konversation üben. Und damit basta! - Helena, du kommst jetzt mit; wir werden sehen, was Mrs Mellington an Stoffen anzubieten hat. Wenn du dich an den Gedanken gewöhnt hast, Elizabeth, kannst du auch in den Salon kommen."

    Mrs Devane erhob sich und schwebte mit rauschenden Röcken aus dem Zimmer. Helena folgte, nachdem sie Lizzie einen mitleidigen Blick zugeworfen hatte. Solch eine Einstellung war ihr unerklärlich. Ich wußte, worauf Lizzie anspielte – auf ihre etwas zu füllig geratene Figur. Auch wenn wir ihr immer wieder versicherten, daß sie eine hübsche junge Frau sei, schämte sie sich ihrer üppigen Formen und mied fast jeden gesellschaftlichen Umgang außerhalb ihrer Familie. Ich wollte sie trösten und sie überzeugen, daß sie doch mitkommen möge, aber sie wollte nichts hören und bat mich, sie allein zu lassen. So ging ich und hörte noch, nachdem ich die Tür geschlossen hatte, wie sie in heftiges Schluchzen ausbrach.

    Dennoch begab ich mich nun zu den anderen beiden Damen in den Salon. Dort war Mrs Mellington, die Näherin aus dem Dorf, bereits eingetroffen und hatte ihre edelsten Stoffe zur Ansicht ausgebreitet. Catherine und Helena begannen, diese zu begutachten und die Vorteile des hellblauen Seidenstoffes im Vergleich zu einem blumendurchwirkten Brokatgewebe… Ich überließ die Damen ihrem Schicksal und begab mich zu meinem Kleiderschrank. Ich verstand die Aufregung überhaupt nicht. So suchte ich meinen Abendanzug heraus, der nicht so schnell aus der Mode kam. Wir Männer haben es diesbezüglich bedeutend einfacher.Solange unsere Anzüge nicht dem allerletzten Schrei entsprechen und wir dadurch bei jedem gesellschaftlichen Anlaß auffallen, benötigen wir nicht viel. Ich sage immer: solange der Anzug sauber, ordentlich und dem Anlaß angemessen ist, können wir ihn so oft tragen, wie wir wollen. Für diesen Ballabend genügten mein schwarzer Frack mit der passenden Hose, eine schwarze Weste und eine kleine, schwarze Krawatte. Schließlich gingen wir nicht in die Oper oder ins Theater, wo ich das weiße Exemplar benötigt hätte.

    Ich probierte alles an und fand, daß es noch tadellos paßte. Mottenlöcher waren auch nicht zu entdecken, alles war sauber und ohne Falten. Zum Abschluß überprüfte ich noch die Sauberkeit meiner weißen Handschuhe. Es war alles in bester Ordnung, meine Garderobe für den großen Abend würde mir keine Sorgen bereiten. Ein Glück, daß Catherine immer für Ordnung im Kleiderschrank sorgte.

    Anschließend zog ich mich in die Bibliothek zurück und widmete mich der monatlichen Haushaltsabrechnung. Es war bereits Anfang September, und ich hatte noch keine Zeit gehabt, die Rechnungen vom August durchzusehen und aufzulisten. Es dauerte gut eine Stunde, bis ich damit fertig war. Danach wollte ich mich einem guten Buch widmen, doch da hörte ich plötzlich Mrs Devanes schrille Stimme. Seufzend unterbrach ich meine kaum begonnene Lektüre und kehrte in den Salon zurück.

    Catherine verlangte in noch gereizterer Stimmung als zuvor, daß ich Lizzie holte.

    „Sie soll endlich herunterkommen, damit wir sehen, was sie in vier Wochen anziehen kann. Sage ihr, daß ich ihr Verhalten auf keinen Fall billigen werde. Entweder führt sie mir ein anständiges Kleid vor oder… " Offenbar wußte sie nicht, womit sie drohen konnte.

    Ich war nun meinerseits auch etwas ärgerlich geworden. Während ich erneut die vielen Stufen zum ersten Stock emporstieg, dachte ich bei mir, daß Catherine doch das einzige vernünftige weibliche Wesen in diesem Hause in Ruhe lassen sollte. Mir war jedoch auch bewußt, daß ich meine Große überzeugen mußte mitzukommen. Sonst würde meine Frau unverzeihlich böse sein und mindestens eine Woche nicht mit uns reden. (Was an sich eine Wohltat wäre, wenn nicht ihr Redeschwall nach dieser einen Woche - sollte sie so viel Durchhaltevermögen überhaupt besitzen - noch unerträglicher würde…) Wenn Catherine doch nicht immer so stur wäre! Und wenn sie diesen Sturkopf nicht auch noch an Lizzie vererbt hätte!

    Schließlich war ich oben angelangt und klopfte an Lizzies Tür. Keine Antwort. „Lizzie, ich bin es, ich weiß doch, daß du da herinnen bist, also laß mich bitte eintreten."

    Es dauerte ungewöhnlich lange, bis sie endlich die Tür öffnete. Meine Tochter wirkte noch unglücklicher als zuvor. Die rotgeweinten Augen zeugten von ihrer Verzweiflung. Ich nahm sie für einen Moment in den Arm und sagte:

    „Bitte komm mit herunter, mein Kind. Deine Mutter verlangt nach dir. Sie will wissen, was du anziehen wirst. Komm und verärgere sie nicht noch mehr."

    Sie nickte stumm und tat mir dann den Gefallen. Sie holte ein Kleid aus ihrem Schrank. Es war ein schwarzes Seidenkleid, das sie vor einigen Jahren zur Beerdigung ihres Großonkels Robert tragen wollte. Da wir jedoch wider Erwarten nicht dazu eingeladen worden waren, blieb es quasi unbenutzt. Gemeinsam gingen wir damit in den Salon.

    Dort erklärte Lizzie ihrer Mutter, daß sie dieses und kein anderes Kleid anziehen werde. Meine Frau reagierte zwar etwas unwirsch – schwarz wäre keine Farbe für junge Frauen -, doch stimmte sie schließlich zu, froh, daß ihre Tochter nun doch mitkommen würde und sie nicht dem unerträglichen Klatsch der Nachbarschaft ausgesetzt wäre. Sie hatte schließlich einen Ruf zu verlieren.

    Auch, wenn dieser schon seit Jahren ruiniert war.

    ***

    2

    Es war wieder einmal Zeit für einen ausgedehnten Spaziergang.

    Am Morgen hatte meine Schwester rechte Mühe gehabt, mir das Mieder zu schnüren. Den Ausdruck in ihrem Gesicht dabei konnte ich zwar nicht sehen, aber doch erahnen. Und dann kam noch diese entsetzliche Neuigkeit hinzu – nein, ich mußte hinaus in die Natur und mir frische Luft verschaffen. Dort würde mir vielleicht eine Idee kommen, wie ich diesen schrecklichen Abend in vier Wochen meiden könnte.

    In meinem Leben war ich erst ein einziges Mal auf einem Ball gewesen, und es war ein so fürchterlicher Abend, daß ich weitere Erfahrungen dieser Art seitdem immer erfolgreich vermieden hatte. Natürlich war ich als junges Mädchen neugierig darauf, wie solch ein gesellschaftliches Ereignis wohl wäre. Wochenlang fieberte ich dem ersten öffentlichen Ball in Rochester entgegen. Mama ließ mir von Mrs Mellington ein wunderschönes Kleid aus hellbrauner Seide nähen. Mit einiger Mühe hatte ich die wichtigsten Tänze gelernt – Polka, Walzer und Galopp, wobei mir der Walzer am liebsten war. Papa hatte mich tatkräftig unterstützt und eine unendliche Geduld bewiesen, wenn ich ihm wiederholt auf die Füße getreten war. Dennoch glaubte ich, daß ich durchaus in der Lage sein würde, diese drei Tänze zu bestreiten.

    Vielleicht wäre dem auch so gewesen – nur fragte mich an diesem Abend kein einziger Herr nach meiner Tanzkarte. Die ganze Zeit über saß ich still in einer Ecke und bewunderte die Paare, die elegant über die Tanzfläche schwebten. Papa bot mir mehrmals an, mit mir zu tanzen, doch ich lehnte ab, denn keines der anderen Mädchen tanzte mit dem eigenen Vater. Tapfer hielt ich die Tränen zurück, bis ich spät in der Nacht wieder in meinem Zimmer war. Dort schwor ich mir, mich nie wieder dermaßen erniedrigen zu lassen. Mir war klar geworden, daß mich alle aufgrund meiner Rundungen für einen Trampel hielten, mit dem man sich nicht auf der Tanzfläche sehen lassen konnte. Nach dem Verdauen dieser Erkenntnis war das Wort „Ball" aus meinem Wortschatz gestrichen.

    Auch wenn es für Anfang September ungewöhnlich kühl war, machte ich mich also auf, einen Spaziergang zu unternehmen. Dabei hatte ich immer die besten Einfälle. Vielleicht, so überlegte ich, käme mir das feuchte Wetter sogar sehr zupaß. Man müßte sich schließlich nicht übermäßig warm anziehen… ein leichter Schal statt eines Mantels würde genügen. Die Sonne schien ja. Damit wäre eine Erkältung zwar sehr wahrscheinlich, aber genau dies wollte ich ja erreichen. Eine leichte Unpäßlichkeit würde mich vor dem unseligen neunten Oktober bewahren. Der war allerdings noch in weiter Ferne… in zu weiter Ferne, fiel mir ein. Wenn ich mich jetzt verkühlte, wäre ich in vier Wochen längst wieder gesund. Nein, das war zu zeitig.

    Folglich machte ich kehrt und holte mir doch einen wärmeren Umhang. Dabei hörte ich, wie Mama und Helena sich noch immer im Salon über Helenas neuem Kleid auseinandersetzten. Sollten sie ruhig – damit hätten sie bis zu dem Ball ein Gesprächsthema und würden mich wenigstens in Ruhe lassen.

    Wieder draußen im Garten überlegte ich kurz, welchen Weg ich einschlagen sollte. Da ich Lust auf einen ausgedehnteren Spaziergang hatte und möglichst wenigen Menschen begegnen wollte, wählte ich den längeren, einsameren Weg durch den Wald. Hier hätte ich Gelegenheit, mir einen Plan auszudenken.

    Bisher war ich meist krank geworden. Dadurch kam ich auch nicht in die Verlegenheit, mir die Vorwürfe meiner Mutter anzuhören, wenn sich herausstellte, daß ich wieder einmal nicht mehr in das Ballkleid paßte. Mir wurde jedoch bald klar, daß eine Erkältung nicht länger die beste Variante wäre. Eine solche hatte bereits die Teilnahme an den vergangenen fünf Bällen verhindert. Das wurde allmählich ein wenig auffällig, Helena hatte bereits eine Andeutung gemacht, als ob sie mir mein Fieber nicht abkaufen würde. Und auch Mama schien in letzter Zeit mißtrauisch zu werden. Aber vielleicht… au! Himmel, ich sollte mehr auf den Weg achten!

    Verärgert blickte ich mich um – ich war an einer Wurzel hängengeblieben. Ein Glück, daß ich nicht gefallen war. Das wäre besonders unangenehm gewesen, da ich in der Ferne einen Reiter kommen sah. So beschloß ich, keinen weiteren Schritt zu tun, bis er nicht vorüber wäre. Suchend sah ich mich nach einer Ausweichmöglichkeit auf dem engen Weg um. Es gab keine. Die einzige Möglichkeit war, den Weg zu verlassen und mich ins Gestrüpp zu drücken, damit der Reiter ungehindert – und ohne anzuhalten – vorbeikonnte. Es blieb nicht viel Zeit zum Überlegen, er näherte sich sehr schnell. Also kletterte ich auf den etwas erhöhten Randstreifen und lehnte mich an einen Baumstamm. Meine Hoffnung, daß der Fremde dadurch schnell wieder verschwinden würde, erwies sich jedoch als trügerisch. Im Gegenteil – er wurde langsamer, fiel vom Galopp in den Schritt und hielt direkt vor mir an. Dann sagte er:

    „Verzeihen Sie, Miss, ich wollte Sie nicht vom Weg vertreiben – ich hätte dort hinten eine Möglichkeit gefunden, Ihnen auszuweichen. Es war dennoch sehr freundlich von Ihnen. Soll ich absteigen und Ihnen wieder herunterhelfen?"

    Vor lauter Scham konnte ich nur den Kopf schütteln und brachte kein Wort hervor. Was mußte er von mir denken? Und was sollte ich von ihm denken? Es gehörte sich nicht, als junge Frau allein durch die Welt spazieren zu gehen, und noch weniger gehörte es sich für ihn, mich einfach anzusprechen. Vollkommen verwirrt klammerte ich mich an meinen Baumstamm und wagte nicht, mich zu bewegen. Er schien begriffen zu haben, daß er einen Fehler gemacht hatte, denn er sagte:

    „Bitte, Miss, ich wollte nicht unhöflich sein… Kommen Sie doch wieder herunter dort. Ich helfe Ihnen."

    Und nun stieg er auch noch vom Pferd! Endlich löste ich mich aus meiner Starre und ergriff nach langem Zögern seinen ausgestreckten Arm. Wenn ich nur nicht stolperte! Das wäre der Höhepunkt aller Peinlichkeiten des Tages! Doch es gelang mir wider Erwarten, unbeschadet auf den Weg zurückzuklettern. Artig bedankte ich mich mit einem Knicks und wollte meinen Weg fortsetzen, als er mir anbot:

    „Wenn Sie mögen, Miss, begleite ich Sie ein Stück des Weges."

    Zum ersten Mal hob ich überrascht den Blick und sah in sein Gesicht, das mir unbekannt war – aber unglaublich schön vorkam. So schön, daß ich vor Verlegenheit gleich wieder zu Boden schaute. Meine Unfähigkeit, auf seine Worte zu antworten, deutete er jedoch vollkommen falsch und fuhr fort:

    „Ich weiß, es ist ungehörig, wenn ein Mann eine ihm unbekannte Dame anspricht. Doch lassen Sie uns einfach davon ausgehen, daß wir uns schon sehr lange kennen. Und zudem geht die Sonne bald unter. Würden Sie unter diesen Umständen meinem Begleitschutz zustimmen?"

    Alles in mir wollte „Ja!" rufen, und doch hielten mich meine Erziehung und meine Erfahrungen davon ab. Verzweifelt suchte ich nach einer Ausrede und stotterte schließlich:

    „Sie hatten es gewiß eilig, Sir, und ich würde Sie nur unnötig aufhalten. Setzen Sie Ihren Weg ruhig fort, Sie müssen sich nicht um mich kümmern."

    Er zögerte, sah zu seinem Braunen, der unruhig den Kopf auf und nieder warf, und sagte schließlich mit einer gewissen Traurigkeit in der Stimme:

    „Nun gut."

    Er stieg auf, sah noch einmal zu mir herab, verabschiedete sich und trieb das Tier zum Galopp an. Er drehte sich nicht noch einmal um.

    So setzte ich meinen Spaziergang fort, mit Tränen in den Augen. Warum war ich so unbeholfen? Da stand ein junger Mann vor mir, der sogar mit mir redete – und ich brachte kein vernünftiges Wort hervor. Mir fehlte die Ungezwungenheit meiner Schwester, die diese Gelegenheit sicher erfreut ergriffen hätte. Wie vielen Männern hatte sie nicht schon den Kopf verdreht – doch keiner war ihr gut genug zum Heiraten. Meine eigene Bilanz sah deutlich jämmerlicher aus. Außer einer Kinderfreundschaft mit einem Jungen aus dem Dorf hatte ich keinerlei Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Und mir war bewußt, daß dies so bleiben würde.

    In den folgenden Tagen setzte ich dennoch meine ausgedehnten Spaziergänge fort, nicht zuletzt in der Hoffnung, ihn wiederzusehen. Natürlich war es vergeblich. Außer ein paar scheuen Wildkaninchen, die ich aufjagte, sah ich kein weiteres lebendes Wesen. Was auch nicht anders zu erwarten war - bei meinem Glück. Nach ein paar Tagen änderte ich die Zeiten, zu denen ich spazierenging – doch auch hier begegnete ich nur ab und zu einem menschlichen Wesen, das mir aus der Nachbarschaft bekannt war. Dabei kam mir der Gedanke, daß der Fremde vielleicht gar nicht aus der Gegend stammte und nur zufällig auf einer Reise hier entlanggekommen war. Zwar hatte mich einen Moment das Gefühl beschlichen, ihn schon einmal gesehen zu haben. Doch dies geschah mir öfter, und am Ende stellte es sich immer als falsch heraus. So begrub ich allmählich die Hoffnung, ihn je wiederzusehen. Und das, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mich beim nächsten Aufeinandertreffen weniger dumm anzustellen. In vielen Nächten, wenn ich nicht schlafen konnte, hatte ich mir die Szene sogar ausgemalt und überlegt, was ich sagen könnte und wie er reagieren würde. Auch wenn ich wußte, daß es dann sicherlich anders kommen würde… und genau so war es auch.

    Einen Tag vor dem Ball bei den LeFroys geschah das Unerwartete. Zur gleichen Tageszeit, an derselben Stelle wie beim ersten Mal. Vor Schreck wußte ich nicht, wie ich diesmal reagieren sollte. All meine Überlegungen in den schlaflosen Nächten waren vergessen – jetzt, wo es so

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