Bei lebendigem Leibe: Kurzgeschichten II
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Buchvorschau
Bei lebendigem Leibe - Norbert Johannes Prenner
Kapitel 1
Die Tournee
Wenn Sie möchten, lade ich Sie gerne ein bei uns mitzuspielen, sagte der Professor, wir suchen einen Substituten für - er nannte einen populären Flötisten – der - in gewisser Weise - verhindert ist. Sie verstehen? Mit anderen Worten, wir haben uns von ihm getrennt. Meine Frau findet, er passt nicht zu uns. Sie spielen doch auch Renaissanceflöte? Ich war etwas verwirrt. Der kleine Student im vierten Semester an der Akademie sollte mit den grandiosen Orchestermusikern nicht nur mitspielen, sondern, wie ich kurz danach erfuhr, auch mit ihnen auf Konzertreise gehen dürfen? Ja, ja natürlich, sicher, stotterte ich nach einer Nachdenkpause, während ich, im Inneren tief aufgewühlt und von Fantasien abgelenkt, überlegte, wie denn das sein könne, und noch dazu so völlig unerwartet. War ich überhaupt dafür qualifiziert? Aber, schließlich kannte mich der Professor ja schon seit zwei Semestern und hatte mich oft genug für meine Leistungen im Ensemble als Pflichtfach gelobt.
Also, warum nicht? Ja, wiederholte ich, natürlich, gerne. Es ist mir eine Ehre! Damit schien die Sache beschlossen. Gut. Dann kommen Sie also am Freitag zu uns zur Probe. Er nannte eine Adresse, die ich mir notierte. Sie bekommen das Instrumentarium von uns, Originalinstrumente aus dem sechzehnten Jahrhundert, Sopran-, Alt- und Tenor die Sie selbstverständlich mit nach Hause nehmen, damit Sie darauf üben können, nicht? Ich war baff. Alles, aber das hatte ich an diesem Tag nicht erwartet.
Der Freitag war gekommen und ich hatte die genannte Adresse aufgesucht. Im nächsten Augenblick sollte ich auf einen Schlag eine Menge völlig fremder Menschen kennenlernen. Die genannte Adresse war, wie sich jetzt herausstellte, die Wohnung des Professors und seiner Gattin Eva. Er selbst war Cellist. Nach dem ersten Händeschütteln mit den anderen durfte ich dann auch zu ihm Franz sagen. Er war weit über fünfzig, kahlköpfig und hatte eine ovale, rahmenlose goldene Brille auf der Nase, die ihn sehr weise aussehen ließ. Seine Gattin Eva, sie spielte Violine, vom Aussehen her etwas alternativ, in bodenlangem indischen Rock und kurzem bunten Westerl, schien mir gegenüber etwas sehr zurückhaltend zu sein. Dann waren da der Lautenspieler Ernst, ziemlich unauffälliger Typ, und die zweite Violine, Karl, der im Orchester eigentlich erster Geiger war.
An der Violone Willi, groß und eher schweigsam. In die Posaune stieß Fritz, gleichzeitig der Manager des Ensembles. Er war der Mann für´s Grobe, verantwortlich für die Honorare, für die Reiseroute, die Flug- und Bahntickets und die Hotelbuchungen, und – was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte, einmal würde er sogar mein Bettnachbar sein. Dann Peter, zweiter Orchestergeiger und noch ziemlich jung. Er und Karl und Willi sollten auf dieser Tournee ebenso unzertrennlich wie ich und Fritz sein. Dann gab es einen Sänger, der zwar nicht immer dabei war, aber zu manchen Konzerten eingeflogen wurde, Stefan Svancera.
Der strenge Herr Vater, der herzensgute, schnupfte nervös und war ganz aus dem Häuschen, als er erfuhr, dass man nun wohl einmal ein bisschen stolz sein könnte auf den unwürdigen Sohn, der es einem bisher nicht leicht gemacht hatte. Und er wurde sich seiner Verantwortung in diesem Falle sofort bewusst, indem er fragte, hast du überhaupt was Ordentliches anzuziehen? Nein, hätte man nicht und so weiter. Also, Abmarsch in die Herrenabteilung eines Kleiderhauses. Der Herr bekommen schon?, fragte der Angestellte erwartungsvoll. Für diesen jungen Mann einen Anzug, aber – und der Vater machte eine die Spannung erhöhende kryptische Pause, Konzert - wenn ich bitten darf!
Der Verkäufer stutzte. Wie bitte? Ich versteh´ nicht? Aber er verstand gleich, als klar geworden war, dass man einen Anzug für besondere Anlässe suchte. Genau so war es. Nur diesmal ließ man sich nicht mehr einreden, die Ärmel mögen etwas länger sein, denn man würde ja nicht mehr wachsen, so wie damals, als man noch ein Bub war.
Dann ging es also los. Man schrieb Dezember neunzehnhundertsiebenund-siebzig und bloß so nebenbei, im sechzehnten Jahrhundert gab es erstmalig selbständige Instrumentalmusik. Bevorzugte Instrumente waren oft Blasinstrumente. In diesem Ensemble waren allerdings die Streicher in der Mehrzahl. Im Gegensatz zu heute spielte man damals hauptsächlich auf Blockflöten und nicht auf Querflöten. Instrumente wie die der Viola-da-Gamba-Familie waren die wichtigsten Streichinstrumente der Ensemble-musik. Die Guitarra Espanola, eine Frühform unserer heutigen Gitarre, mit fünf Saitenpaaren, die, wie ich selbst hörte, Ernst meisterhaft zupfte, war in Spanien, Frankreich und Italien sehr verbreitet. Die meisten, und wahrscheinlich zu der Zeit auch die bedeutendsten Komponisten, deren Werke uns der Professor aufs Pult legte, kamen aus Italien oder haben dort gelebt oder gearbeitet und waren Komponisten, Kapellmeister und/oder Hofkomponisten.
Darunter finden sich Namen wie Benevoli, Byrd, allerdings Engländer, ebenso wie John Dowland, oder Frescobaldi, Gumpeltzhaimer, ein Deutscher und Claudio Monteverdi. Im Übrigen spielten wir natürlich auch Kompositionen von Hans Neusiedler oder Paul Hofheimer. Die ersten Proben verliefen problemlos. Ich hatte ein gutes Gefühl bei der ganzen Sache und nach einigen Wochen war es endlich soweit. Ich packte meine Koffer, verabschiedete mich innig von meiner geliebten Freundin und los ging´s. Zuerst mit der Bahn nach Bregenz. Das erste Konzert fand im Festspielhaus statt. Von da aus ging es wiederum per Bahn nach Zürich. Dort bestieg man das Flugzeug nach Madrid.
Diese erste gemeinsame Reise nach Bregenz verbrachten wir übrigens im Nachtzug. Ein Sechser-Abteil mit heruntergeklappten Liegen. Ganz oben der Professor, darunter Evalein, auf der Liege gegenüber von Ernst, übrigens ihr treuester Vasall, und ein Ehepaar aus London, wie sich herausstellte. Ich teilte das Abteil nebenan mit Karl, Peter, Willi und Fritz. Der Professor hatte die ganze Nacht über fürchterlich wie ein Nilpferd geschnarcht. Wir konnten es bis in unser Abteil gut hören. Evalein ist hysterisch auf dem Gang auf- und abgelaufen und hat vor sich hergeflucht, nein, zum Speiben (Erbrechen) ist das mit ihm, immer diese Schnarcherei! Ich halte das nicht mehr aus!
Nun, die eigentliche Tournee sollte danach über Madrid nach Santander Salamanca, Valladolid, León und Bilbao führen und in Paris enden, wo Rundfunkaufnahmen und ein Konzert in einer kleinen Barockkirche neben Notre-Dame geplant waren. Eine Tournee, tja, das ist eben eine in geographischen, sportlichen oder künstlerischen Kontexten gebräuchliche Kurzform für Tour, und ist eine Serie von Auftritten eines oder mehrerer Künstler an verschiedenen Orten, ganz einfach.
Spanien! Man könnte denken, Sonne, Meer und Orangen. Doch es war Mitte Februar und bitterkalt. Bereits während der Bahn- und Flugreise beobachtete ich, dass sich innerhalb der fröhlichen Truppe kleine Grüppchen zu konstituieren begannen. Ein Teil um den Professor und dessen Gattin, der das Ensemble gewidmet war. Soll heißen, er hatte ihr das Ensemble geschenkt und es hörte auf den Namen Consortium Musicalis. Sie war eine offenbar mittelmäßige Geigerin, wie Karl gerne immer wieder betonte, wenn über sie gesprochen wurde, natürlich nur dann, wenn sie nicht in der Nähe war, versteht sich. Immerhin war er Erster Geiger in einem der namhaftesten Orchester des Landes, und genau dieser Umstand stieß ihm offenbar sauer auf, es hier nicht sein zu dürfen. Aus diesem Grund ließ er sich zum Gaudium einiger anderer gerne weidlich über Eva aus und sprach dann abfällig vom sogenannten Consortium Menstrualis, wegen ihr eben.
Der Professor war ein starker, wenn auch heimlicher Raucher. Und alle rauchten, bis auf Eva und Ernst den Lautisten, den Karl oft Autisten nannte, einer, der überhaupt kein Laster zu haben schien. Wenn Eva herausbekam, dass Franz geraucht hatte, sagte sie: Nein, das gibt´s nicht, was hast du für einen schwachen Charakter! Und jetzt hab´ ich aber genug!, oder so ähnlich, und echauffierte sich stets darüber, dass Franz sie diesbezüglich so wenig respektierte, denn sie machte sich schon ein wenig Sorgen um ihn. Eva war sicher um mehr als zwanzig Jahre jünger als Franz. Und sie musste schon irgendwie aufpassen auf ihn, denn er war auch etwas zu dick und kriegte keine Luft, wenn er die Treppen hochstieg.
Eva spielte die Pardessus de Viole. In Fachbüchern ist zu lesen: „The pardessus de viole is the highest-pitched member of the viol family of instruments. It is a bowed string instrument with either five or six strings and a fretted neck. The pardessus first appeared in the early 18th century, and was commonly played by women, particularly in French-speaking countries." Und Eva war nun einmal eine Frau. Meine Aufgabe jedenfalls war es, mit ihrer Stimme unisono auf der Flöte mitzuhalten. Das war nicht immer ganz leicht. Und ich sollte nur sie dabei ansehen, wenn ich spielte. Das war auch nicht immer ganz leicht. Karl lachte und ätzte oftmals während der Pausen, dass die Pardessus de Karfiol (sic!) heute wieder einmal hinterher war. (Er hätte Eva lieber in der Küche gesehen) Und die, die um ihn herumstanden, lachten zynisch.
Die Stimmung im Flugzeug war wahrlich ausgelassen. Man bestellte gläserweis Sekt und kriegte Sandwiches dazu. Was für ein Leben! Da es Februar war, waren wir Musiker beinahe die einzigen Fluggäste und der Flieger gehörte uns. Einige legten sich quer über die Sitze und versuchten zu schlafen. Aber es gab so starke Turbulenzen, dass sie sich wieder ordentlich hinsetzen und anschnallen mussten, während sich das Luftschiff wegen des starken Windes nach allen Regeln der Kunst zu verwinden anschickte. Karl erzählte indes lautstark schmutzige Witze und der Professor lachte ganz hoch dazu oder kicherte in sich hinein. Eva wurde permanent rot und sagte, Karl wäre ein Schweindl. Das aber stachelte diesen zu Höchst-leistungen an und er ließ so richtig die Sau heraus, indem er sein ganzes gesammeltes Repertoire tiefer Zoten aus seiner Kiste holte.
In Madrid angekommen, bestiegen wir, nach kurzer Stadtbesichtigung und einem ausgiebigen Mittagessen den Zug nach Santander. Jeder von uns hatte Einzelabteil im Schlafwagen, ein unglaublicher Luxus für diese Zeit. Es gab ein schmales Bett, ein Nachtkästchen und einen ebenso schmalen Spiegel-kasten, der sich öffnen ließ und der dahinter eine winzige Toilette samt Waschbecken verbarg, sehr zu meinem Erstaunen. Dieser Zustand wollte mir schon gefallen, dachte ich und er mochte so lange wie möglich anhalten.
Santander, einst wichtige Hafenstadt für Kastilien sowohl für das Mittelalter als auch für den beginnenden Handel mit der Neuen Welt. Wir waren in einem Vier-Sterne-Hotel untergebracht, probten am Nachmittag eine Stunde und gaben abends ein zweistündiges Konzert in