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OMMYA - Freund und Feind
OMMYA - Freund und Feind
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eBook384 Seiten5 Stunden

OMMYA - Freund und Feind

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Über dieses E-Book

Bei OMMYA - der Organisation für Magische und Mystische Angelegenheiten - ist der Alltag eingekehrt.
Übergänge in fremde Welten wie Narnia, Shan-Gri-La und Nimmerland, magische Artefakte wie Dorothys rote Schuhe, Rotkäppchens Umhang und Neptuns Dreizack müssen katalogisiert werden. Die Quartalsinventur steht an.
Mitten in diese ungeliebte Aktivität hinein verschafft sich eine Gruppe Unbekannter Zutritt zu den Gewölben von OMMYA und macht sich auf und davon, bevor sie jemand stoppen kann.
Als ob das nicht genug ist, haben Renés Vorgesetzte offensichtlich ein Auge auf die gefährlichen Artefakte und Gegenstände im Lager geworfen und sind willens, sie zu benutzen.
Die Gruppe um René, Jochen, Sahra und Rebecca muss sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht.
Ach ja.
Und sie müssen Alice nach Hause bringen.
Beide.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum1. Dez. 2016
ISBN9783738094695
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    Buchvorschau

    OMMYA - Freund und Feind - Dennis Blesinger

    Danksagung

    Mein Dank geht an:

    Roland, Nicole und Eileen für das Testlesen und die dazugehörigen Anmerkungen und Kritiken.

    Und erneut Marie-Katharina Wölk für die sehr entspannte und produktive Zusammenarbeit, was das Cover angeht.

    Vielen lieben Dank!

    1

    »Wendy, ich weiß, dass du dich langweilst, aber du bringst mir die Ablage durcheinander.«

    René drückte die Seiten auf den Tisch und wartete, bis der Feenstaub seine Wirkung verlor. Die kleine Fee flog einen kleinen Bogen um den Schreibtisch herum und entschuldigte sich leise. René lächelte ihr zu.

    »Du brauchst dich nicht entschuldigen.« Als er sicher war, dass die Seite nicht wieder davon schweben würde, arbeitete er sich weiter durch den Stapel Formulare, der vor ihm lag. Er war erfreulich klein. Noch vor einem Jahr wären es mindestens zehnmal so viele Seiten gewesen, aber das war, bevor er sich dazu entschlossen hatte, André Hansen die Sache auf's Auge zu drücken. Anfangs als Notlösung gedacht, hatte sich die Entschei­dung als Glücksgriff herausgestellt.

    Hansen war vor knapp zwei Jahren zu OMMYA – der Organisation für Magische und Mystische Angelegenheiten – gestoßen, jedoch hatte sich schnell gezeigt, dass er für den Außeneinsatz nicht zu gebrauchen war. Selbst der Anblick einer der Feen oder Pixies, wie Wen­dy eine war, hatten ihn lange Zeit aus dem Konzept ge­bracht. Da er auch noch leicht asthmatisch veranlagt war und Allergien gegen Substanzen hatte, die in keiner medizinischen Abhandlung vorkamen, hatten sie ihn ebenfalls nicht für die Pflege der mystischen Geschöpfe einsetzen können. Schwere körperliche Arbeiten schie­den ebenfalls aus. René war sich immer noch nicht sicher, wie Hansen den abschließenden körperlichen Eignungstest bestanden hatte. Also war René als Leiter der Abteilung gezwungen gewesen, sich eine Beschäftigung für den Mann zu suchen, oder ihn still und heimlich verschwinden zu lassen. Als die letzte regelmäßige Inventur angestanden hatte und sowohl Jochen, Renés direkter Stellvertreter, als auch Christopher, die Nummer drei in der Kette, krank gewesen waren, hatte sich jedoch eine Seite an dem schmächtigen blassen Mann gezeigt, die – zumindest für René – nicht mit Gold aufzuwiegen war.

    Was René an seinem Job hasste wie die Pest, schien Hansen geradezu mit einer stillen Glückseligkeit zu erfüllen. Der Mann war imstande, den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als Formulare und Listen zu prüfen, aus­zufüllen, abzulegen und somit die komplette bürokrati­sche Last von Renés Schultern zu nehmen. Nur die For­mulare, die René persönlich unterschreiben musste, landeten auf seinem Schreibtisch und mittlerweile war er imstande, diesen Teil seiner Arbeit innerhalb von we­niger als einer Stunde zu erledigen und sich den Rest des Tages um seinen eigentlichen Job zu kümmern. Und dieser Job hatte es in sich.

    Wenn sein Privatleben jetzt auch noch so entspannt laufen würde, oder er überhaupt eines gehabt hätte, wäre er zum ersten Mal seit Jahren dazu gekommen, sich wirklich entspannen zu können. Aber irgendwas war ja immer.

    Er setzte seine Unterschrift unter die letzte Seite und wandte sich an die kleine Fee, die nach wie vor im Zimmer schwebte und ihm über die Schulter blickte. Einerseits fand er die kleinen Wesen, so wie es bei fast allen anderen Mitarbeitern von OMMYA der Fall war, sehr niedlich und er musste über die Neugier, die die insgesamt acht Pixies für die Arbeit innerhalb der Zentrale entwickelt hatten, regelmäßig lächeln. Auf der an­deren Seite taten sie ihm mit jedem Tag etwas mehr leid. Nach wie vor herrschte Krieg in der Welt, aus der sie stammten, und es war nicht abzusehen, dass dieser Krieg über kurz oder lang enden würde. Die Orks und die Elfen hatten sich in eine Art Patt hinein manövriert und keine der beiden Seiten schien gewillt, nachzugeben. Solange dieser Zustand andauerte, hatten die acht kleinen Feen hier inoffiziell Asyl erhalten.

    Normalerweise hätte René nicht für Geld noch gute Worte einer anderen Lebensform Asyl gewährt. Allein die Unterbringung würde die Abteilung vor unlösbare Probleme stellen. Doch die kleinen Wesen hatten etwas in ihm berührt. Seit mehr als vier Jahren waren sie nun schon hier und mittlerweile empfand sie jeder als festen Bestandteil von OMMYA.

    »Du kannst Hansen sagen, dass er die Sachen abholen kann. Sofern er sich denn von seinen anderen Aktivi­täten losreißen kann.«

    Ein kaum zu erkennendes Lächeln erschien auf dem winzigen Gesicht und die Fee schwebte langsam aus dem Raum.

    'Die anderen Aktivitäten' von Hansen bestanden in regelmäßigen Sitzungen mit Sahra, einer MIT-Absolventin und der IT-Expertin von OMMYA. Sahra war der wohl intelligenteste Mensch der Abteilung und eine der wenigen Personen, die hier angefangen hatten, ohne dazu mehr oder weniger gezwungen worden zu sein.

    Den wenigsten Menschen war bekannt, dass OMMYA überhaupt existierte. Vor circa neunzig Jahren hatte ein Vermessungstrupp der Stadt mehrere Entdeckungen gemacht. Zum einen befand sich unter der Stadt ein Kavernensystem, das jeglicher geologischen Logik widersprach. Mitten in diesem System hatte die kleine Gruppe darüber hinaus ein Tor entdeckt, das zu einer anderen Welt führte. Die dominierende Lebensart dort waren feuerspeiende Drachen und bisher war die einzige Form der Kommunikation mit diesen sagenhaften Echsen die gewesen, dass sie alles und jeden, der die Tür auch nur berührte, in ein Häuflein Asche verwandelt hatten.

    Im Laufe der Zeit hatten sie mehrere dieser Tore entdeckt, fast alle innerhalb der weitläufigen Höhlenanlage. Jeder dieser Übergänge führte in andere Welten, andere Dimensionen, die allesamt ihren Ursprung in der Phantasie der Menschheit hatten. Avalon, das Wunder­land, Shan-Gri-La und viele weitere Welten lagen nur einen Schritt entfernt, und mit ihnen all die Gegenstän­de, die in diesen Geschichten auftauchten. Im Lager von OMMYA wimmelte es von Artefakten, die sorgsam vor der Öffentlichkeit geheim gehalten wurden. Keiner ver­mochte sich vorzustellen, was passieren würde, wenn zum Beispiel die Büchse der Pandora in falsche Hände geriete.

    Sahra hatte ihren Abschluss in Informatik cum laude bestanden und hatte beim MAD gearbeitet, als sie schließlich während ihrer Arbeit auf das Netzwerk von OMMYA gestoßen war. Anstatt es ihren Vorgesetzten zu melden, hatte sie auf eigene Faust Nachforschungen angestellt und schließlich drei Wochen vor dem Eingang des Bürogebäudes campiert, das der Zentrale von OMMYA als Tarnung diente, bis René sie schließlich reingelassen und umgehend rekrutiert hatte.

    Im Moment war Sahra damit beschäftigt, Gleichungen zu entwickeln, die das Wie und Warum der interdi­mensionalen Übergänge entschlüsseln sollten. Zwar be­fanden sich mittlerweile über fünfzig dieser Übergänge in den Gewölben, aber nach wie vor wusste niemand so richtig, wie diese wirklich funktionierten und was sie dazu brachte, zu entstehen. Hansen hatte eines Tages aus Zufall einen Blick auf diese Gleichungen geworfen und wider Erwarten einen Teil davon verstanden. Seit­dem hatten er und Sahra das Projekt zusammen weiter­entwickelt. René gab nicht einmal vor, zu begreifen, was die beiden da machten. Alles, was über Integralrech­nung hinausging, ignorierte er und Begriffen wie Quan­tenphysik misstraute er zutiefst. Für ihn bedeutete die Verwendung von solchen Wörtern, dass die andere Par­tei nicht wirklich wusste, worum es gerade ging und an­fing, zu raten.

    Über die letzten Wochen hinweg hatte er ein unbestimmtes Gefühl entwickelt, dass sich das Miteinander der beiden über die berufliche Ebene hinaus erstreckte, aber das war ihm, im Gegensatz zu vielen anderen Un­ternehmensleitern, egal. Solange die Ergebnisse stimm­ten, konnte die Belegschaft seinetwegen regelmäßig Or­gien feiern. Jedoch ließ ihn der reine Gedanke an Sahra und Hansen regelmäßig schmunzeln. Während Sahra ei­nem hochklassigen Bademodenkatalog hätte entsprun­gen sein können, wies Hansen alle äußerlichen Merkma­le eines Geeks oder Nerds auf. Manchmal war Mutter Natur zum Glück für die jeweils Beteiligten einfach unlogisch.

    So ziemlich alle anderen Mitarbeiter von OMMYA hatten mehr oder weniger unfreiwillig Kontakt mit anderen Welten gemacht und die, die dabei nicht ums Le­ben gekommen waren, wie zwei der drei Entdecker des ersten Überganges – Drachen waren schon im besten Falle leicht reizbar – oder einen hysterischen Anfall erlit­ten hatten, waren vor die Wahl gestellt worden, für den Rest ihres Lebens eingesperrt zu werden, oder offiziell vom Erdboden zu verschwinden und eine neue Stelle bei OMMYA anzutreten.

    Da es sich bei OMMYA um eine militärische Abteilung handelte, bedeutet dies, dass alle, die hier arbeiteten und eine leitende Position innehatten, einen Offi­ziersrang besaßen. Niemand hätte dies je vermutet, da keiner hier Uniform trug und Salutieren als schlechter Scherz angesehen wurde. René hatte seine Uniform das letzte Mal getragen, als sie Besuch von einem der weni­gen offiziellen hochrangigen Vertreter des Militärs be­kommen hatten, der über die Einrichtung Bescheid wusste. Aus diesem Grund hätte ein Außenstehender leicht denken können, bei OMMYA handelte es sich um ein privates und – oberflächlich gesehen – erstaunlich lax geführtes Unternehmen mit einer ungewöhnlichen Spezialisierung: Die Sicherung und Verwaltung von ma­gischen und mystischen Artefakten.

    René selbst hatte es vor mehr als 12 Jahren hierher verschlagen, nachdem er einen ungeplanten dreimonatigen Urlaub auf Shan-Gri-La verbracht hatte. Der Baum, in dem sich der Übergang befand, stand seitdem in den Kellergewölben, damit niemand, der ebenfalls zufällig dorthin gelangte, auf die Idee kam, dort Jagen zu gehen.

    René blickte auf die Uhr. Es war schon 17 Uhr durch, was bedeutete, dass er rein theoretisch gesehen Feierabend hatte.

    Das war hier allerdings so eine Sache für sich. Vierundzwanzig Stunden am Tag trafen Meldungen in der Zentrale ein, die von überall auf der Welt stammten. Diese Meldungen beinhalteten Sichtungen von Zwer­gen, Feen, Außerirdischen, Monstern und dergleichen, und sofern sich hinter einer dieser Meldungen nicht ein geistig Verwirrter oder jemand im LSD-Rausch befand, war es die Aufgabe aller Mitarbeiter, dafür zu sorgen, dass dieser Meldung nachgegangen wurde. Der Tag war allerdings einigermaßen ruhig verlaufen und Halloween war erst morgen. Entsprechend hatte René die Gunst der Stunde genutzt und sich mit Rebecca Schäfer verab­redet. Wenn das Schicksal ihnen beiden hold war, wür­den sie vielleicht sogar noch einen Film ansehen kön­nen, bevor die nächste Katastrophe über sie herein­brach.

    Besagte Freundin, Rebecca Schäfer, war einer der wenigen OMMYA-Mitarbeiter, die weder einen Offiziersrang besaßen, noch überhaupt hier angestellt wa­ren. Genaugenommen war sie die erste und wahrscheinlich auch letzte freie Mitarbeiterin der Abteilung. Als vor anderthalb Jahren eines der Artefakte kurzfristig abhanden gekommen war, hatte es keine zehn Minuten gebraucht, bis die Polizistin Rebecca Schäfer es in die Finger bekommen und aus Versehen den Weltunter­gang eingeleitet hatte.

    Die Ereignisse von damals hatten eine Bindung zwischen ihr und René entstehen lassen, die allerdings ein wenig Zeit gebraucht hatte, um sich zu entwickeln. Kei­ner der beiden hatte jemals ernsthaft eine Beziehung mit dem anderen in Betracht gezogen, und in den Wochen nach dem abgewendeten Weltuntergang hatten sie mehr Zeit damit zugebracht, sich zu streiten, als mit etwas anderem. Alle anderen in der Abteilung waren gerade wegen der Streitigkeiten lange Zeit der Meinung gewesen, dass die beiden seit den Geschehnissen von damals ein Paar wären. Als Jochen René eines Tages auf diesen Sachverhalt angesprochen hatte, war René in schallendes Gelächter ausgebrochen.

    »Bist du nicht ganz dicht?«, hatte seine Antwort gelautet. »Nicht mal ich würde mit mir zusammen sein wollen.« Bevor Jochen seine Überraschung überwunden hatte, war René fortgefahren. »Als wir uns kennengelernt haben, hatte sie gerade ihren Mann verloren. Das ist schon mal ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um et­was Neues anzufangen.«

    »Gut, aber – «

    »Nichts aber. Danach habe ich sie mehreren traumatischen Erlebnissen ausgesetzt, die darin gegipfelt ha­ben, dass sie dachte, ihr würde der Schädel bei einem Zweikampf zerschmettert werden. Von der weißen Tür will ich gar nicht reden.«

    Die Traumata, um die es ging, hatten alle ihre Berechtigung gehabt, da sie seinerzeit unter Zeitdruck ge­standen hatten. Bis zum Ende des Universums waren es weniger als vierundzwanzig Stunden gewesen und eine einfühlsame Herangehensweise an die Dinge hätte deutlich länger gedauert. Dennoch blieb die Tatsache, dass es eine lange Zeit gebraucht hatte, bis Rebecca René voll und ganz verziehen hatte, was er damals alles mit ihr angestellt hatte. Und René konnte dies verstehen. Er hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, wenn er an die Geschehnisse von damals dachte.

    »Glaub mir«, hatte er die Diskussion damals beendet, »wenn wir uns unter anderen Bedingungen ken­nengelernt hätten, hätte da vielleicht was draus werden können. Aber so, wie die Sache gelaufen ist, kann ich froh sein, dass sie mich nicht hinterrücks niedergeschossen hat, als die ganze Geschichte vorbei war.«

    Es bestand definitiv ein Art Verbindung zwischen René und Rebecca, aber nach den ersten Wochen war Rebecca schließlich zu der Überzeugung gekommen, dass es für beide besser wäre, wenn sie nicht zusammen arbeiten würden, speziell nicht, wenn René ihr Vorgesetzter war. Früher oder später wäre es wahrscheinlich zu ernsthaften Handgreiflichkeiten gekommen.

    Eigentlich war ein derartiges Beschäftigungsverhältnis nicht möglich, aber da Rebecca bereits einen Job bei einer Behörde hatte, waren sie überein gekommen, sie zu einer inoffiziellen Verbindungsoffizierin zu machen, ohne allerdings der Polizei an sich oder ihren Vorgesetz­ten im Speziellen etwas davon zu sagen. Auch das Mili­tär hatte bis heute nichts von dieser Vereinbarung er­fahren. Entsprechend tat sie nach wie vor ihren Job als Kriminalkommissarin und hatte nebenher ein Auge und ein Ohr auf alles, was unter die Kategorie 'Ungewöhn­lich' fiel. Die Entscheidung hatte allen gut getan.

    Seit den Geschehnissen von damals waren fast neunzehn Monate vergangen und René und Rebecca hatten, wider Erwarten, eine Freundschaft entwickelt, die René wichtiger war als eine Beziehung.

    René stand auf, verließ sein Büro und schlenderte langsam durch die Zentrale in Richtung Lager. Das Lager bestand aus mehreren Ebenen von Höhlen und Kavernen, die im Laufe der Jahre ausgebaut und befestigt worden waren. Mittlerweile brauchte man eine Karte, um sich dort zurechtzufinden. René hätte seinen Weg jedoch mit verbundenen Augen durch das Labyrinth ge­funden. Seit Jahren bestand seine letzte Amtshandlung des Tages darin, einen Rundgang durch eben dieses Lager zu machen. Der Rundgang hatte mehrere Gründe, aber einer davon war, dass er nach einem Rundgang durch die stillen Hallen immer ausgeglichener war als vorher.

    Ein Klangkonglomerat schlug ihm entgegen, als er durch das Tor schritt, das das Lager von der Zentrale trennte. Es erinnerte ihn daran, dass die Quartalsinventur lief. Offensichtlich war dieser Teil des Lagers jedoch schon bearbeitet worden. Zumindest waren die Artefakte mehr oder weniger wieder dort abgestellt worden, wo sie vorher gestanden oder gelegen hatten und nichts verstellte den Gang, weder Menschen noch Gegenstände.

    Er bog um die Ecke und wäre beinahe gegen das Holzgestell eines Bettes gelaufen. Er wusste, dass es hier stand, allerdings war es normalerweise etwas weiter am Rand platziert. Dornröschens Bett und die dazu gehörige Spindel waren nur zwei der vielen Gegenstände, die urplötzlich in den Hallen von OMMYA aufge­taucht und dann hier eingelagert worden waren.

    Mit einem Grummeln schob René das Bett an den Rand, vergewisserte sich, dass die Spindel sicher verkorkt war, und war drauf und dran, weiterzugehen, als etwas Schwarzes seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er machte einige Schritte zur Seite und zog das betreffende Etwas langsam unter der Bettdecke hervor. Er be­trachtete es ein paar Sekunden lang fasziniert. Eine kur­ze Suche unter der Bettdecke ergab keine weiteren Fun­de, wofür er dankbar war. Er faltete das schwarze Stück Stoff sorgsam zusammen, steckte es in die Innentasche seiner Jacke und ging weiter. Ein kurzer Blick nach oben zeigte eine der Überwachungskameras, die überall im Lager installiert waren. Er merkte sich die Nummer der Kamera, schlenderte um die nächste Ecke und verzog das Gesicht.

    Gabelstapler fuhren herum und bewegten Kisten, Truhen und dergleichen, während ein Dutzend Mitarbeiter den Inhalt von allen Vitrinen, Schränken und Re­galen katalogisierte und das Ergebnis mit den Daten im System abglich. Was um diese Uhrzeit normalerweise ein ruhiges und friedliches Umfeld darstellte, war ein einziges lautes und hektisches Durcheinander.

    Missmutig beobachtete er einige Personen dabei, wie sie vor mehreren Kisten standen, die mit einem Strichcode versehen waren und rätselten, was nun genau drin war und ob es gefährlich war, sie hochzuheben. Die Sorge war berechtigt. Einige der Artefakte, die hier eingelagert waren, waren mit Vorsicht zu genießen. Normalerweise waren alle Artefakte, Gegenstände und Übergänge mit einer eigenen autarken Alarmanlage ge­sichert, die es beinahe unmöglich machte, sich ohne vorherige Genehmigung an den entsprechenden Objek­ten zu schaffen zu machen, oder sich ihnen – bei gefähr­lichen Gegenständen – auch nur zu nähern. Während der Inventur, die vier Mal im Jahr erfolgte, waren diese Sicherheitsmaßnahmen jedoch aus praktischen Gründen deaktiviert.

    »Darf ich fragen, was das hier werden soll?«, fragte René, während er auf die Gruppe Arbeiter zuging, die um eine Kiste herumstanden und offensichtlich beratschlagten, wie sie mit ihr verfahren sollten. Vier Perso­nen drehten sich um und blickten ihn verwirrt an.

    »Ähm, wir haben ein Problem«, meinte einer von ihnen schließlich. René wartete geduldig. »Der Strichcode ist zerkratzt und wir sind am überlegen, ob wir die Kiste aufmachen sollen.«

    »Sind Sie nicht ganz dicht?«, entfuhr es René, der genau wusste, was sich in der unscheinbaren Holzkiste be­fand.

    »Naja, aber wir müssen doch sichergehen, dass der Inhalt der Kiste mit dem übereinstimmt, was auf der Liste steht.«

    »Ja«, entgegnete René ungehalten. »Das weiß ich. Aber vielleicht sollten Sie mal gucken, was denn genau darin sein sollte. Ich meine, dafür haben wir ja diesen blöden Ausdruck gemacht.«

    Der Ausdruck der Inventur umfasste etwas mehr als 3000 Seiten und war genau für Fälle wie diese gedacht. Jedes Artefakt, das eingelagert war, war dort aufgelistet. Ebenfalls war dort eine kurze Beschreibung der Fol­gen zu lesen, die das Benutzen, Öffnen, Tragen oder Schief-Angucken des Stückes zur Folge haben konnte. In diesem Fall stammte der Eintrag von René persönlich und lautete: Gemeingefährlich! Finger weg! Unter gar keinen Umständen öffnen!

    Der Mitarbeiter blickte auf die Liste, dann zu René. »Hier steht … ähm … hier steht: 'Das Übel der Welt'. Dann steht hier noch – «

    »Ja.« René nickte. »Das ist eine ziemlich akkurate Übersetzung der Hieroglyphen, die auf der kleinen Kiste stehen, die sich da drin befindet.« Er zeigte auf die große Holzkiste. »Das ist die Büchse der Pandora. Also nicht die Holzkiste. Die Büchse ist da drin. Und wenn Sie sich mal die Mühe machen, den Text bis zum Ende zu lesen, dann werden Sie merken, dass der besagt, dass das Ding nur halbleer ist. Darüber hinaus werden Sie ihr blaues Wunder erleben, wenn sie die Kiste aufbrechen. Oder glauben Sie, dass wir darauf vertrauen, dass niemand in Versuchung kommt, sich an dem Ding zu schaf­fen zu machen?«

    Vor langer Zeit waren René und Jochen zu dem Entschluss gekommen, dass früher oder später jemand ge­nau dies tun würde, und sei es aus schierer Langeweile. Entsprechend hatten sie die Büchse nicht nur in ein spe­zielles, feuerfestes und nahezu unzerstörbares Epoxid­harz gegossen und dann in eine mit Zement gefüllte Holzkiste verfrachtet, sondern besagte Kiste auch mit einer Sprengfalle versehen. Dem unautorisierten Neu­gierigen würden einerseits die Arme abgerissen, ande­rerseits würden die Büchse und der Schutzmantel darum herum nicht beschädigt werden. Dies war jedoch erst dann der Fall, wenn jemand auf die Idee kommen würde, alle einhundertdreiundvierzig Nägel zu entfer­nen, mit denen der Deckel der Kiste vernagelt war.

    »Ja, aber – «

    »Nichts aber«, unterbrach ihn René schroff. »Sind hier vielleicht alle tot?« Der Mitarbeiter blickte ihn verwirrt an.

    »Nein. Wieso?«

    »Dann ist die Büchse auch da drin und geschlossen. Benutzen Sie ihr Hirn, verdammt!«

    »Wieso halbleer?«, erkundigte sich einer der anderen Männer vorsichtig. »Was ist mit der anderen Hälfte passiert?«

    René stieß ein Schnauben aus. »Im Umlauf, wenn man so will. Was glauben Sie, woher Ebola und Aids kommen?«

    Es hatte Jahre gebraucht, der Öffentlichkeit weiszumachen, dass das eine natürlichen Ursprunges und das andere höchstwahrscheinlich auf illegale biologische Tests an Affen zurückzuführen war. Sollten die falschen Personen Wind davon bekommen, dass Pandoras Büch­se wirklich existierte und sich nach wie vor etwas darin befand, so hätten sie hier Selbstschussanlagen mit Gat­lings und Railguns installieren müssen.

    »Also: Abhaken und weitermachen.« Er wandte sich ab und ging den Gang hinunter, bis er ein bekanntes Gesicht sah. Jochen, seines Zeichens offiziell Brigadegeneral und Renés Stellvertreter, koordinierte gerade den Transport von mehreren Truhen. Als er René erkannte, warf er ihm einen müden Blick zu. Sein sonst so heiterer Gesichtsausdruck hatte sich gerade irgendwohin verzo­gen, um sich scheinbar einmal ordentlich auszuruhen.

    »Ich mach drei Kreuze, wenn das hier vorbei ist.«

    »Wo ist das Problem?«, fragte René.

    »Ich weiß auch nicht.« Jochen, sonst die gute Laune in Natur, schüttelte genervt den Kopf. »Alles, was schieflaufen kann, geht schief. Wir liegen zwei Tage hinter dem Zeitplan zurück.« Er blickte sich um. Dann frag­te er, ehrlich erstaunt: »Wo kommt eigentlich dieses ganze Zeug her? Alleine in den letzten drei Monaten ha­ben wir dreiundvierzig neue Artefakte rein bekommen. Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

    »Ich glaube, das liegt an dem Rhythmus der Tore«, erklang eine Stimme von hinten. Sahra und Hansen kamen auf die beiden zu. Auch sie sahen müde aus. René ließ seinen Blick über die beiden wandern und behielt sein Grinsen gerade noch unter Kontrolle.

    »Was?«

    »Die Übergänge nähern sich ihrer Hochzeit«, fuhr Sahra fort, während sie sich um einen Schrank herum schlängelte, den jemand mitten im Gang abgestellt hatte. Ein großer Löwenkopf war auf der Vorderseite zu se­hen, sowie weitere Schnitzereien, unter anderem die Abbildungen von vier Menschen, die mit Kronen auf den Häuptern auf Thronen saßen. Andere Fabelgestalten wie Faune, Zentauren und dergleichen vervollstän­digten das Bild.

    »Da sind sie aktiver als sonst«, erklärte Sahra auf Renés fragenden Blick hin. »Das heißt wohl auch, dass mehr Zeug von anderen Welten in unsere gelangt.«

    »Na super«, kommentierte René. Das war genau das, was er brauchte. Bevor er die entsprechende Frage stellen konnte, hielt Sahra grinsend einen kleinen Gegenstand hoch, nicht größer als ein Smartphone.

    »Das ist ein Prototyp«, meinte sie, sichtlich stolz. »Es zeigt das Niveau der Tore an.« Sie bedeutete dem Rest, ihr zu folgen. Zusammen entfernten sie sich von dem allgemeinen Durcheinander und gingen zu einem Baum, der am Rande der Halle stand und durch den René vor all den Jahren unbeabsichtigterweise nach Shan-Gri-La gelangt war. Damals hatte sich der Baum in einem Wald befunden, war dann jedoch kurzerhand umgesiedelt worden. Die Eiche und die Waldnymphe, die darin wohnte, hatten den Umzug beide gut überstanden. Sahra hielt das Gerät kurz vor die ovale Höhlung, die den Übergang darstellte, und zeigte René dann das Display des Gerätes.

    »Eins Komma Sieben«, las René gehorsam ab. »Was bedeute das?«

    »Auf einer Skala von was auch immer bis keine Ahnung ist das Portal jetzt auf dem Niveau Eins Komma Sieben«, erklärte Sahra. Offensichtlich handelte es sich bei dieser Information um etwas Atemberaubendes, denn das Grinsen drohte, ihren Kopf in zwei Hälften zu teilen.

    »Eins Komma Sieben was?«, fragte Jochen. Sahras Grinsen verschwand zum Teil.

    »Äh, keine Ahnung, da sind wir noch am überlegen. Wir haben noch keinen Namen für die Einheit. Aber vor drei Monaten waren es Eins Komma Sechs Neun Neun.«

    »Es steigt?«, fragte René. »Was heißt das?«

    »Gute Frage«, meinte Sahra gutgelaunt. »Aber es steigt jetzt langsamer als in den vergangenen Monaten. Was bedeutet, dass wir wahrscheinlich irgendwann ein Maximum erreichen werden.«

    »Und dann?«

    »Keine Ahnung«, gab die Blondine offen zu. »Ich nehme an, dass es dann wieder fällt. Und ich habe auch keine Ahnung, was was bedeutet. Das Ganze ist ziemlich experimentell. André und ich haben Monate gebraucht, um überhaupt herauszufinden, in welchem Frequenzbereich wir suchen müssen, um die Werte zu erhalten.«

    »Wozu?«

    »Wir glauben«, schaltete sich nun André Hansen ein, »dass die Übergänge einem bestimmten Rhythmus unterliegen. Was das genau heißt, wissen wir noch nicht, aber wir vermuten, dass die Menge an Artefakten, die durchkommen und auf dieser Seite erscheinen, etwas damit zu tun hat. Ebenso wie die Übergänge, die entste­hen.«

    »Erklärt das auch, warum wir mittlerweile Gegenstände aus Welten erhalten, die gar nicht mehr existie­ren?«, fragte René spitz und nickte in Richtung des Wandschrankes, der nach wie vor den Gang blockierte.

    »Kann sein«, gab Sahra zu. »Ich habe keine Ahnung. Dafür müssen wir die Sache ein wenig beobachten. Ist sozusagen eine Langzeitstudie.«

    René nickte. Solange es langfristig dazu beitrug, das organisierte Chaos der Abteilung ein wenig mehr berechenbar zu machen, war es ihm recht. Etwas schepperte im Hintergrund, woraufhin Jochen die Augen ver­drehte und sich mit grimmigem Gesichtsausdruck davon machte. René blickte ihm kurz hinterher, wandte sich dann wieder Sahra und André Hansen zu.

    »Hüpf mal«, meinte er zu Sahra.

    »Was?«

    »Hüpf mal auf der Stelle.«

    Einen Augenblick schien Sahra zu überlegen, dann zuckte sie mit den Schultern und tat, wie geheißen.

    René nickte. Er war kurz davor, Sahra die Übung wiederholen zu lassen, allerdings wurde aufgrund ihres Ge­sichtsausdruckes deutlich, dass sie den Sinn der Aktion erraten hatte. Nachdem er sichergestellt hatte, dass ih­nen niemand zusah, fischte er den BH, den er eben in Dornröschens Bett gefunden hatte, aus seiner Jackenta­sche und reichte ihn seiner Kollegin.

    »Hier«, meinte er so ernst wie möglich. Weder er noch Sahra warfen einen Blick zur Seite, um Hansen, dessen Gesicht die Farbe einer überreifen Tomate angenommen hatte, nicht noch weiter in Verlegenheit zu bringen.

    »Was mich an etwas erinnert.« René holte einen Notizblock hervor, den er immer dabei hatte und las einige Augenblicke lang konzentriert. »Ja. Hier. Könntest du dich bei Gelegenheit mal um die Überwachungskamera Nummer 37 kümmern? Im Gegensatz zu den meisten anderen Kameras, die hier alles überwachen und auf­nehmen, unter anderem Nummer 7, die sich direkt über dem Bett befindet«, er machte eine Pause und deutete in Richtung Decke, an der ein kleiner schwarzer Kasten in ca. 10 Metern Höhe hing und durch eine kleine blin­kende Diode andeutete, dass die im Inneren befindliche Kamera arbeitete. Sahras Blick folgte seinem Finger. René konnte förmlich die Gedanken rattern hören. So ernst wie möglich fuhr er fort: »Im Gegensatz zu den anderen funktioniert Nummer 37 aus irgendwelchen Gründen andauernd nicht. Die Technik hat schon alles mögliche ausgetauscht, aber das Ding zeigt einfach we­der Bild noch Ton an. Muss an der Software liegen.«

    Einige Sekunden lang verschränkten sich die Blicke von René und Sahra ineinander. Botschaften wurden ausgetauscht, Absprachen getroffen und Versprechen gegeben. Schließlich nickte Sahra ernst.

    »Kamera 37?«, fragte sie.

    »Ja, das ist der Lagerraum da hinten.« René wedelte mit der Hand unbestimmt in eine Richtung. »Da haben wir die Feldbetten und ein paar alte Spinde eingelagert. Ich weiß, die Chance, dass sich da mal jemand hin verirrt, ist gleich Null, aber wenn du mal Zeit hast, wär's nett, wenn du dich drum kümmerst.«

    »Feldbetten.«

    »Ja.«

    »Alles klar. Wenn ich Zeit habe.«

    »Ist nicht dringend.«

    Eine weiterer Blickkontakt folgte. Bevor jedoch jemand ein weiteres Wort von sich geben konnte, ertönte ein leiser Knall hinter ihnen, gefolgt von einem surren­den Zischen. Dann war ein gurgelndes Geräusch zu hö­ren, danach ein dumpfer Aufprall. Alarmiert setzten sich alle drei in Bewegung, Hansen zuletzt. Als sie um die Ecke bogen, bot sich ihnen ein Anblick, der René auf­stöhnen ließ.

    Auf dem Boden lag eine Gestalt, die alle vier sofort als Hexe identifizierten. Die Frau trug schwarze Kleidung, schwere schwarze Stiefel, hatte langes, strähniges weißes Haar, eine krumme Nase, auf der eine dicke fet­te Warze saß, und auf dem Kopf einen spitzen und selbstverständlich auch schwarzen Hut. Zitternd lag sie auf dem Boden und war die Ursache für das gurgelnde Geräusch. Wenige Meter entfernt befand sich ein Be­sen, der auf etwa einem halben Meter Höhe in der Luft schwebte.

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