Kaschrut
Von Ed Sheker
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Kaschrut - Ed Sheker
Gift
Der erste Fall ereignete sich in München. Ihm wurde keine besondere Beachtung geschenkt. Ende Mai wurde Frau Serafina Goldstein ins Krankenhaus Rechts der Isar mit unklaren Symptomen eingeliefert. Druck im Oberbauch, Übelkeit, Erbrechen, Koliken. Der aufnehmende Assistenzarzt führte eine Befragung der Kranken durch: was sie in den letzten zwölf Stunden gegessen habe, vielleicht Pilze, verdorbene Wurst, Fisch oder dergleichen. All dies wurde von Frau Goldstein verneint. Sie gab aber an, in der Vergangenheit wiederholt Probleme mit dem Magen-Darmtrakt gehabt zu haben. Vor einigen Jahren hatte sie eine akute Gastritis durch Einhaltung einer Diät, mit Rollkuren und dem Verzicht auf Alkohol jeder Art überwinden können. Auch jetzt sei sie noch Anfällig beim Genuss verschiedener Speisen. Es wurde noch der Ehemann, Isaak Goldstein befragt, der sich nicht erinnern konnte, dass seine Frau irgendetwas Unbekömmliches gegessen hatte und im Übrigen sei er von den Symptomen, unter denen seine Frau zu leiden hatte, verschont geblieben, obwohl er die gleichen Speisen zu sich genommen habe. Frau Goldstein wurde nach drei Tagen wieder entlassen. Wäre Sie keine Privatpatientin gewesen hätte man sie wohl schon nach einem Tag nach Hause geschickt worden. Der Chefarzt der Inneren Abteilung blickte jeden Tag zweimal ins Krankenzimmer, studierte mit ernster Miene die Kurven, fühle den Puls, gab sich am Ende zuversichtlich und sagte am dritten Tag: Liebe Frau Goldstein, ich glaube, das Schlimmste haben wir überwunden. Stellen Sie sich aber vorsichtshalber in den nächsten Tagen noch einmal in meiner Privatsprechstunde vor, dann können wir noch einige Tests machen.
Da Frau Goldstein aber am vierten Tag vollständig wiederhergestellt war, unterblieben die weiteren Tests.
Ehe ich die Geschichte aber weiter erzähle, muss ich mich noch vorstellen. Ich glaube, das habe ich bislang unterlassen. Also: mein Name ist Nathan Korn und ich betreibe eine kleine Buchhandlung für jüdische Literatur hier am Ort.
Der zweite Fall ereignete sich in Nürnberg. Er betraf mehrere Kinder des jüdischen Kindergartens. Diese klagten über Unwohlsein und Leibschmerzen und litten unter Schweißausbrüchen und unerklärlicher Blässe. Die Eltern und die Kindergartenleiterin waren natürlich alarmiert und glücklicherweise war der Schuldige alsbald gefunden. Aufgrund eines anonymen Hinweises kreuzten ein oder zwei Tagen später Vertreter des städtischen Amtes für Verbraucher- und Umweltschutz in der der Küche des Kindergartens auf, blickten in Tiefkühltruhen, in Vorratsschränke, hinter Konvektomaten und stellten den Küchenbetrieb unverzüglich ein. Die Tür zur Küche wurde mit amtlichem Siegel verschlossen und die Einwände des örtlichen Rabbiners, die Koscherversorgung der Kinder könne so nicht mehr aufrecht erhalten werden, blieb ohne Eindruck auf die Behörden. Mit Unterstützung befreundeter Gemeinden in anderen deutschen Städten konnte die Versorgung der Kinder mit koscheren Speisen notdürftig gewährleistet werden. Der Aufwand zur Wiederherstellung des Küchenbetriebs war beträchtlich. Es wurde eine Fachfirma für die Reinigung von Gewerbeflächen engagiert, die Küche wurde komplett gereinigt und anschließend mit Lebensmitteln neu bestückt. Der Rabbiner verlangte außerdem aus verschiedenen grundsätzlichen Erwägungen heraus, dass alle Geräte komplett gekaschert werden oder durch Neuanschaffungen ersetzt werden sollten. Der machtvolle behördliche Auftritt erwies sich bei kritischer Betrachtung im Nachhinein als völlig überzogen und war wohl vor allem dem Umstand geschuldet, dass Kinder betroffen waren. Da liegt ja bekanntermaßen die Erregungsschwelle niedrig und im Übrigen verlangte der Dezernatsleiter ein deutliches Zeichen und energisches Durchgreifen, da es der Fall schnell auch in die örtliche Presse geschafft hatte und der stellvertretende Bürgermeister wegen Missständen in einigen städtischen Einrichtungen beträchtlich unter Druck geraten war. Dass die Küche des Kindergartens nebenbei bemerkt sauberer war als, manche Restaurantküche, fand im Übrigen kaum Beachtung.
Der dritte Fall war schwerer und ereignete sich in Hannover. Er betraf wieder einen älteren Menschen. Es handelte sich um Baruch Silberstein, einen alleinstehenden Rentner, der in einer betreuten Wohnanlage wohnte, wo er morgens und mittags mit einer Mahlzeit eines ambulanten Dienstes versorgt wurde und nur für das Abendbrot selbst zu sorgen hatte. Baruch Silberstein wurde am frühen Morgen des siebten Juli mit starken Oberbauchkrämpfen in das Universitätsklinikum eingeliefert. Der Notarzt, der zusammen mit dem Rettungswagen bei dem Kranken erschienen war, vermutete schon bei der ersten Inspektion eine Vergiftung, möglicherweise durch Lebensmittel. Mit der Einlieferungsdiagnose Verdacht auf akute Lebensmittelvergiftung wurden in der Universitätsklinik auch sofort entsprechende Untersuchungen durchgeführt, die als Resultat eine leichte Arsenvergiftung ergab. Unverzüglich wurde eine Magenspülung durchgeführt und es wurde Dimercaptopropansulfonsäure als Antidot verabfolgt. Herr Silberstein überlebte die Vergiftung mit knapper Not. Die Kriminalpolizei untersuchte seine Wohnung zwei Tage nach der Einlieferung in das Klinikum. Leider hatte niemand daran gedacht, diese zu versiegeln und deswegen war in der Zwischenzeit die türkische Reinemachefrau der Wohnanlage in Aktion getreten und hatte die Wohnung gründlich sauber gemacht. Dabei hatte sie auch vor angebrochenen Lebensmitteln im Kühlschrank sowie Schachteln mit fast aufgebrauchten Keksen nicht halt gemacht und alles gründlich aufgeräumt. Jedenfalls konnte man in der Küche keine mit Arsen belasteten Lebensmittel mehr finden. Zu allem Unglück war inzwischen auch die Müllabfuhr gekommen und hatte die Mülltonnen entleert, in denen sich die von der Putzfrau entsorgten Lebensmittelreste befunden hatten.
Die Kriminalpolizei befragte ihn noch vor seiner Entlassung aus dem Krankenhaus zu dem Vorfall und wollte insbesondere wissen, ob Herr Silberstein irgendwelche Feinde habe.
Ich, Feinde? So ein Blödsinn. Ich bin seit über sechzig Jahren Mitglied in der Jüdischen Gemeinde. Ich hab hier jede Menge Freunde, da brauche ich doch keine Feinde.
Dabei lachte er in sich hinein und hustete.
Verdammte Bronchien. Hätte früher nicht so viel rauchen sollen.
Baruch Silberstein ist ein rüstiger Herr Ende achtzig. Er gehörte der Gemeinde tatsächlich seit undenklichen Zeiten an und ist eines der ältesten Mitglieder, wenn man die Jahre seiner Mitgliedschaft zählt. Silberstein gehörte beinahe zu den Gründern der Gemeinde und hatte sich vor einiger Zeit die Ehrennadel für fünfzigjährige Mitgliedschaft ans Revers stecken können. Vor zwei Jahren war ihm die Verdienstmedaille des Landes für herausragendes Wirken an der Gemeinschaft verliehen worden. Eigentlich wollte Silberstein die Medaille gar nicht annehmen, weil er der Meinung war, ihm stünde das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse zu, mindestens aber das Verdienstkreuz am Bande. Und nun musste er sich mit dieser popeligen Medaille zufrieden geben, und dann noch die des Landes und nicht einmal die des Bundes. Aber es half ja nun nichts, besser die blöde Medaille, als gar nichts. Damals lebte seine Frau Esther noch und der Gedanke an eine Feierstunde in der Staatskanzlei ließ ihr das Herz aufgehen und den Busen schwellen und sie war sicher, dass ihre alten Freundinnen Editha Blumenthal und Golda Hirschfeld vor Neid platzen würden.
Baruch Silberstein gehört zu den so genannten polnischen Juden. Er war in Krakau zu Welt gekommen, hatte aber eine unglückliche Jugend. Zu einer Zeit, als seine Altersgenossen, wenn auch unter der Knute der deutschen Besatzer in Polen, noch spielen und herum toben durften vegetierte die Familie Silberstein im Konzentrationslager Auschwitz, wo Baruchs Eltern auch später vergast wurden. Baruchs einziger Bruder starb bald am Flecktyphus und nur Baruch selber überlebte wie durch ein Wunder das Grauen der Schoah körperlich halbwegs unbeschadet. In seine Seele konnte und sollte auch niemand hineinsehen, auch nicht seine Frau oder gar seine Kinder. Eine Tochter lebt jetzt in den USA und ein Sohn in Israel. Er sieht sie nur selten. Nach dem Kriege hatte es ihn nach Deutschland verschlagen, in das Land der Mörder, und hier war er hängen geblieben. Mit der Energie, die vielen der Überlebenden zu Eigen war, stürzte sich Baruch in das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit und des Wiederaufbaus. Seine ersten Geschäfte machte er als Schwarzmarkthändler. Nach der Währungsreform eröffnete er ein kleines Geschäft für Berufskleidung, das er ständig ausweitete und das nach wenigen Jahren zu den maßgeblichen Adressen der Stadt gehörte. Hinzu kam später ein Geschäft für Konfektionskleidung von der Stange mit dem Werbeslogan Für den Herrn, der das Besondere wünscht! und Baruch hatte die brillante Idee, keine kompletten Anzüge mehr anzubieten, sondern Jacken, Westen und Hosen aus gleichem Stoff aber jedes für sich. So konnte er viel mehr Kunden das Passende anbieten. Auch die mit zu kurzen Beinen, zu langen Armen und zu dickem Bauch konnten für kleines Geld bei Baruch Goldstein etwas finden, ohne dass die Kleidungsstücke geändert werden mussten. In der Stadt war er bald bekannt als der Zeugjude, das tat ihm aber nicht weh und es gehörte irgendwann zu seinem Image. Tag für Tag stand er in seinem Geschäft, beriet, nahm Maß, empfahl, riet ab. Fast jeder Konfirmationsanzug kam jahrelang aus seinem Geschäft und er achtete streng darauf, dass seine Kunden für ihr Geld eine anständige Qualität erhielten: Liebe gnädige Frau, sehen Sie doch einmal diesen wunderbaren strapazierfähigen Stoff. Hundertzwanziger Kammgarn, reine Schurwolle. Und wenn denn junge Mann einmal gewachsen sein sollte – das wollen wir ja doch stark hoffen, hä, hä, dann ist in den Säumen immer noch Material, das man auslassen kann. Für solche Qualität steht Baruch Goldstein mit seinem Namen!
Seinen wichtigsten Schritt tat Baruch, als er sich als Gesellschafter an einem ganz neuen Projekt für modische Herrenbekleidung beteiligte. Die Marke hieß Carlo Pietro und gab vor, original italienische Mode zu sein, wie sie damals im Kommen war. Tatsächlich wurden die Hemden, Pullover T-Shirts in der Türkei genäht und erhielten als Markenlogo eine kleine Schildkröte auf der Brusttasche der Hemden. Der Laden brummte und als Baruch siebzig war, zog er sich aus dem Geschäft zurück. Bis dahin war er mit eiserner Disziplin jeden Tag, auch am Schabbat nach der Synagoge, in seinen Laden gegangen um die Verkäufer zu überwachen. Sein Geschäft hatte ab1970 einen neuen Slogan Zu Goldstein gehen oder nackt laufen und erstreckt sich mittlerweile über drei Etagen in zweitbester Einkaufslage. Nur die Berufskleidung hatte er später wegen der stärker werdenden Internetkonkurrenz aufgegeben.
Auch im Gemeindeleben hinterließ Baruch seine Spuren. Er war in den verschiedenen Gremien der Gemeinde tätig gewesen, nur für Kultus hatte er sich nie interessiert. Er war jedermann angesehen und beliebt und hatte es viele Jahrzehnte hindurch verstanden, mit den meisten Leuten gut auszukommen. Außer mit Chaim Herzog, diesem Dorn in seinem Fleisch, der Baruch seit seinem Auftauchen in Deutschland in die Quere gekommen war. Kaum hatte Baruch sein Geschäft für Herrenbekleidung in der Kanalstraße eröffnet, eröffnete Chaim seinen Herzog-Family-Market und kaum waren die ersten Schildkröten auf die Brusttaschen von Baruchs Hemden gestickt, musste Chaim mit seinem debil grinsenden Koala Bären nach klappen. Die ärgste Chuzpe leistete sich Chaim aber, als er sich Mitte der siebziger Jahre, da war er gerade mal fünfzig, fünfzig! das Großes Verdienstkreuz mit Stern geschnorrt hatte. Das große Verdienstkreuz!! Nur weil der Schmock ein paar Jahre Vorsitzender des Gemeindevorstands war. War wohl alles nur durch Schmu und Beziehungen zu erreichen gewesen. Der Herzog hatte es ja schon immer dicke mit den Gojim, dabei musste er 1950 noch einen Giur Lechumra machen um überhaupt in die Gemeinde zu kommen, weil sein Vater eine Schikse geheiratet hatte, deren Übertritt wohl nicht ganz koscher war und sogar bei dem damaligen liberalen Rabbiner nicht durch ging. Weil ihm das jüdische Altersheim zu nebbich war, sitzt Herzog jetzt in irgend so einem pompösen gojischen Altersheim, wo sie einem den Hintern mit Seidenläppchen abputzen.
Aber das Große Verdienstkreuz!
Abgesehen davon hat Baruch Silberstein keine Feinde.
Anonymes
Liebe Juden,
der seit tausenden von Jahren von euch gegen den Rest der zivilisierten Menschheit geführte Krieg, ruft immer mehr Widerstand hervor. In euren seit Jahrtausenden immer wieder mit höchster Akkuratesse abgepinselten Schriften aus geistig archaischen Zeiten wird der Mord, die Vernichtung und Versklavung anderer Ethnien mit oberster Priorität bedacht. Bei Bedarf werden natürlich Änderungen aufgenommen. So, als nach tausenden Jahren eurer ersten Religionsschriften die ersten Christen mit ihrer ethisch überlegenen Spiritualität auftauchten. Da kam dann schnell euer Gott gelaufen und flüsterte euch, dass ihr die abschlachten sollt. Die Christen. Und später dann noch die Amalekiter, die Deutschen. Wäre ihm doch 'ne große Freude für ihn. Und so steht's jetzt in eurem Talmud. Wie von Gott befohlen. Nicht von euch erdacht – nein nein – von Gott befohlen. Tausende Jahre nach den ersten Dienstanweisungen eures Gottes, bzw. eurer Stammesführer, als ihr faulen Viehhirten euch mit fleißigen Ackerbauern anlegtet. Und wer will dagegen etwas sagen? Gegen die Anweisung eines Gottes? Muß jeder Respekt vor haben. Is ja 'ne Religion. Und schließlich wollen wir doch die religiösen Gefühle anderer Menschen nicht verletzen. Auch wenn es sich um Mordanweisungen gegen uns selber handelt.
Euer Amalek
Das Schreiben ging an die Jüdische Gemeinde. Da antisemitische Mitteilungen immer wieder und in letzter Zeit häufiger hier eintraffen, wurde dieses Schriftstück nicht weiter beachtet und es landete in einem extra für solcherart Dokumente angelegten Ordner.
Der vierte Fall verlief dramatischer. Am zweiten Sonnabend im August wurden mehrere Personen in das hiesige Städtische Krankenhaushaus eingeliefert das inzwischen längst von der bundesweit tätigen Aktiengesellschaft Sanora übernommen worden und jetzt ein rein kommerzieller Betrieb ist. Alle betroffenen Personen waren Mitglieder der Jüdischen Gemeinde und hatten am