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Göttersommer
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eBook341 Seiten4 Stunden

Göttersommer

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Über dieses E-Book

Athen, Sommer 2015. Die Verhandlungen anlässlich der Wirtschaftskrise laufen wie immer: die Troika glaubt ebenso sehr, im Recht zu sein, wie die griechische Seite überzeugt ist, dass man ihnen gar nicht helfen will. Die Hitze ist ebenso bleiern wie die zähen Debatten.

Dieser allgemeine Stillstand wird plötzlich von neuen Mitspielern durcheinander gewirbelt, mit denen niemand gerechnet hätte: die antiken Götter sind zurück!
Aber was wollen sie überhaupt?
Kann man ihnen trauen?
Sind sie wirklich die selbstlosen Helfer, als die sie sich ausgeben?
Arbeiten sie überhaupt alle zusammen, oder doch eher gegeneinander?
Und was ist eigentlich mit dem freien Willen der Menschen?

Aus den Erlebnissen von sieben Charakteren entfaltet sich das Panorama dieser Erzählung, die untersucht, wie das Eingreifen übermächtiger, undurchsichtiger Wesen die Welt verändert.

Eine Geschichte über Macht und Ohnmacht, Krieg und Frieden, Vertrauen und Verrat, Menschen und Götter, Politik und Wirtschaft.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum19. Dez. 2016
ISBN9783738097160
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    Buchvorschau

    Göttersommer - Sascha Kersken

    1

    Göttersommer

    Sascha Kersken

    © Copyright 2016 by Sascha Kersken • Alle Rechte vorbehalten

    Titelfoto und –gestaltung: Tülay Kersken

    Before the time I did Lysander see,

    Seem’d Athens as a paradise to me:

    O, then, what graces in my love do dwell,

    That he hath turn’d a heaven unto a hell!

    -- William Shakespeare: A Midsummer Night’s Dream, Act I, Scene I

    I. Donnerstag

    Seufzend ließ sich Dustin Graham auf sein noch unberührtes Hotelbett sinken. Es war wieder ein harter Verhandlungstag gewesen; keine der beiden Parteien hatte sich auch nur einen Millimeter auf die andere zu bewegt. Er fuhr sich mit den Händen durch sein ergrauendes, verschwitztes Haar, stand wieder auf und trat ans Fenster.

    Der zwölfte Stock des Athener Hilton, gegenüber der Nationalgalerie, bot einen atemberaubenden Blick über die Stadt, aber Dustin bemerkte nichts davon. Obwohl die Sonne vor einer Viertelstunde untergegangen war, herrschten an diesem Donnerstagabend draußen sicherlich noch über fünfunddreißig Grad. Selten war Graham so dankbar für eine Klimaanlage gewesen.

    Er ging zu dem kleinen, mahagoni­farbenen Hotelzimmer­schreibtisch, nahm den Hörer des Telefons ab und drückte die Taste für die Rezeption.

    „Parakalo?", kam es aus dem Hörer.

    „Guten Abend, sagte Dustin, „hier spricht Graham, Zimmer 1235. Bringen Sie mir bitte eine Flasche Champagner aufs Zimmer, Ihre beste Sorte.

    „Sehr wohl, Sir", antwortete der Rezeptionist in tadellosem Englisch.

    Dustin setzte sich auf den einzigen Stuhl des Zimmers und begann, die Financial Times zu überfliegen. Der Dow Jones hatte sich nach einigen Turbulenzen wieder erholt, aber der Euro schien weiter in freiem Fall begriffen. Der Leitartikel beschäftigte sich mit den Athener Verhandlungen; der Internationale Währungsfonds wurde erwähnt, seine Position kritisiert, aber Graham selbst wurde nicht beim Namen genannt. Eines der Privilegien, wenn man in einer großen Organisation nur in der zweiten Reihe stand, die zwar die eigentliche Arbeit erledigte, aber nicht für deren Repräsentation nach außen zuständig war.

    Während er zu den Kursen der Waren­termin­börsen weiterblätterte, klopfte es an der Tür. „Herein!", rief Dustin.

    Ein junger Mann in einer adretten Hotelpagenuniform betrat das Zimmer; auf seiner rechten Hand balancierte er ein silbernes Tablett mit einem Eiskübel, in dem sich eine Flasche Moët & Chandon mit einem weißen Stofftuch um den Flaschenhals und ein Kristall­champagnerglas befanden. Der Page deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an und sagte mit einem leichten griechischen Akzent: „Bitte sehr, Ihr Champagner, Sir."

    „Danke, sagte Dustin, nestelte einen leicht zerknüllten Fünfeuroschein aus seiner Hosentasche und drückte ihn dem Mann in die linke Hand. „Stellen Sie alles einfach hier ab, ich werde die Flasche selbst öffnen. Und dann lassen Sie mich bitte allein.

    „Selbstverständlich, antwortete der Page, „und vielen Dank, Sir.

    „Sie sind ja immer noch hier", meinte Graham unwirsch. Der junge Mann ging eilenden Schrittes zur Zimmertür, öffnete sie und machte Anstalten, hinauszutreten.

    „Nicht so eilig, mein Junge!", sagte jemand, der sich offenbar gleich hinter der Tür befand, mit dröhnender Bassstimme. Der Page trat wieder ins Zimmer, und hinter ihm stiefelte schweren Schrittes eine Gestalt hinein, wie Dustin noch nie eine gesehen hatte.

    Der Mann musste über zwei Meter groß sein, denn er bückte sich ein wenig, um unter dem Türrahmen durchzupassen. Er hatte lockiges, schwarzes Haar und einen eben solchen Vollbart. Statt eines Anzugs, einer Jeans oder sonstiger moderner Kleidung war er in ein wallendes, weißes Gewand gehüllt. Um die Hüften trug er einen breiten Gürtel mit einer goldenen Schnalle, an dem allen Ernstes eine bronzene Schwertscheide befestigt war, in der wiederum ein ziemlich langes Schwert steckte. In der rechten Hand hielt er einen hölzernen Stab, der fast so lang war wie er selbst und dessen Messingkopf reich mit Ornamenten verziert war. Seine riesigen Füße steckten in Sandalen, die bis fast zu den Knien hoch geschnürt waren.

    „Guten Abend, dröhnte der Riese. „Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.

    „Hören Sie, wenn das ein Scherz sein soll, dann ist er nicht sonderlich gelungen, brauste Dustin auf. „Wer sind Sie? Und was haben Sie in meinem Hotelzimmer verloren? Sind Sie einer von diesen Typen, die sich als Krieger verkleiden und auf diese Comicmessen gehen? Mein Neffe ist auch so einer; der hat sich sogar mal von Kopf bis Fuß grün angemalt, weil er so aussehen wollte wie dieser, ähm, Hulk.

    „Schweig, Sterblicher!", donnerte der Mann und stampfte dabei mit seinem Stab auf den Boden.

    Der Page blickte sehr verlegen von dem Riesen zu Dustin und wieder zurück, dann räusperte er sich und stammelte, zum Riesen gewandt: „Ich muss Sie auffordern, das Zimmer unseres Gastes zu verlassen, Sir."

    Das schien den Bärtigen zu belustigen. Mit einem unterdrückten Kichern sagte er zu dem Pagen: „Du gefällst mir, Junge. Du hast Mut." Mit diesen Worten legte er den Stab auf dem Bett ab, trat auf den Pagen zu, legte ihm beide Hände an die Schläfen und flüsterte etwas in einer Sprache, die Graham nicht verstand. Sofort schien alle Verlegenheit von dem Jungen abzufallen.

    „Verrätst du uns deinen Namen?", fragte der merkwürdige Mann den Pagen.

    „Ich bin Christos, o Herr", antwortete er.

    „Ein schöner Name, bemerkte der Angesprochene. „Sei bitte so gut und hol noch zwei Gläser, mein Junge, bat ihn der Große in einem beinahe väterlichen Tonfall. Gemessenen Schrittes machte sich Christos auf den Weg.

    „Nun zu dir, Dustin Robert Graham, sagte der Fremde dann. „Setz dich, wir müssen reden. Er wies mit ausgestreckter Hand auf das Bett. Dustin wollte eigentlich protestieren, den Mann auffordern, ihn in Ruhe zu lassen oder die Polizei rufen, aber irgendetwas an der Präsenz des imposanten Mannes schien nichts davon zuzulassen. Also setzte er sich gehorsam auf das Bett und starrte den Anderen mit einer Mischung aus Neugier und kalter Wut an. Der setzte sich rittlings auf den Stuhl, verschränkte seine gewaltigen Unterarme auf der Rückenlehne und begann wieder zu sprechen.

    „Ich muss zugeben, dass ich dir gegenüber im Vorteil bin, erklärte er. „Ich kenne dich, aber du hast keine Ahnung, wer ich bin. Nun, mein Name ist Hades; ich herrsche seit Äonen über die Unterwelt.

    Das war zu viel. Präsenz hin oder her – Dustin sprang auf, ging einige Schritte auf den Typen, der sich Hades nannte, zu, schaute ihn auf eine Weise an, von der er hoffte, dass sie bedrohlich wirkte, und sagte sehr langsam und sehr deutlich: „Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Sie kommen in mein Hotelzimmer, das nebenbei bemerkt pro Nacht mehr kostet, als Sie vermutlich im Monat verdienen, und dann behaupten Sie einen solchen Unsinn?"

    Der angebliche Hades sagte gar nichts. Er sah Dustin lediglich ruhig, aber durchdringend an. Und obwohl er seine Lippen nicht bewegte, hörte Dustin im Inneren seines Kopfes die Stimme des Riesen, die so noch viel bedrohlicher klang als zuvor: Du weißt, dass ich es bin, Dustin. Du hast es gewusst, seit ich dein Zimmer betreten habe. Also setz dich wieder hin, schweig, und hör mir zu!

    Er konnte sowieso nichts anderes tun, als sich hinzusetzen – urplötzlich war ihm schwindlig, und er hatte rasende Kopfschmerzen. Sein Mund war trocken und seine Hände begannen unkontrolliert zu zittern.

    Bevor Hades etwas sagen konnte, kam Christos zurück. Er stellte ein anderes Silbertablett mit zwei weiteren Kristallgläsern auf den Tisch, öffnete gekonnt die Flasche und schenkte in alle drei Gläser Champagner ein. Er nahm das Tablett mit den beiden neuen Gläsern und hielt es zuerst Hades vor die Nase, der ein Glas nahm, und ging anschließend die wenigen Schritte zum Bett, um auch Dustin ein Glas zu geben. Schließlich ergriff er sein eigenes Trinkgefäß und erhob es. „Auf dein Wohl, Hades!", rief er und nahm einen kräftigen Schluck.

    „Auf die Sterblichen!, sagte Hades, führte sein Glas an die Lippen und leerte es in einem Zug. „Man kann über euch sagen, was man will, bemerkte er dann, während er sich mit dem Handrücken den Mund abwischte, „aber von edlen Getränken versteht ihr etwas."

    Zögernd hob auch Graham sein Glas, sagte „Prost" in keine bestimmte Richtung und nippte vorsichtig am Champagner. Normalerweise mochte er das Getränk, aber jetzt kam es ihm vor wie bittere Medizin.

    Christos setze sich auf die andere Seite des Bettes und sah Hades erwartungsvoll an. Offenbar machte dieser merkwürdige Kerl dem Jungen nicht die geringste Angst, während Dustin immer noch nicht wusste, was er von ihm halten sollte.

    „Du fragst dich berechtigterweise, was ich überhaupt von dir will, Dustin", begann Hades. „Ich will es dir verraten. Wir Götter betrachten seit einiger Zeit mit großer Sorge, was mit dem Land geschieht, das uns vor so vielen Jahrtausenden anvertraut wurde.

    Natürlich war es auch vorher nicht immer friedlich – die Stämme Griechenlands haben sich unzählige Male untereinander bekriegt, fremde Mächte haben das Land immer wieder erobert, und es herrschten Hungersnöte und Naturkatastrophen. Aber so arg wie in den letzten Jahren war es nie – es ist, als hätten die Menschen allen Mut und alle Hoffnung verloren, während ihr Land ihnen unter den Händen entrissen und an kleingeistige Krämer aus aller Welt verkauft wird. An Krämer wie dich, Dustin Graham."

    Dustin räusperte sich, aber der Gott brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.

    „Wir haben lange diskutiert, fuhr er fort, „ob wir eingreifen sollen, denn das haben wir seit den Tagen des trojanischen Krieges und Odysseus’ nicht mehr getan. Aber ihr lasst uns keine Wahl. Wir können nicht länger tatenlos zusehen. Eurer unseligen Herrschaft muss ein Ende gemacht werden. Du, Dustin Graham, bist unser auserwähltes Werkzeug.

    Dustins Gedanken rasten hinter seinen pochenden Schläfen. Die griechischen Politiker hatten ihr Land doch selbst in diese Situation gebracht, in der es nur noch durch Finanzhilfen seines IWF und anderer Institutionen überleben konnte. Oder nicht?

    Er war doch hierhin gekommen, um mitzuhelfen, eine Lösung für das Problem zu finden. Dass diese Lösung nicht ohne Opferbereitschaft der Schuldner – also Griechenlands und seiner Bevölkerung – funktionieren konnte, das war doch nun wirklich nicht seine Schuld. Er war ein fleißiger und korrekter Beamter, der stets seine Pflicht tat. Er hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen, oder?

    Verwirrt nahm er einen weiteren Schluck Champagner, diesmal einen größeren. Er schmeckte immer noch nicht, aber Dustin trank den Rest im Glas in einem langen Zug aus.

    „Du bist ein fleißiger und korrekter Beamter, der stets seine Pflicht tut, begann Hades weiterzusprechen. Konnte der Kerl etwa Dustins Gedanken lesen? Er war sich nicht mehr sicher, was er glauben sollte. Er stand auf, ging mit zitternden Knien zum Schreibtisch und goss sich sein Glas noch einmal voll. „Sonst noch jemand?, fragte er die beiden anderen.

    „Sehr gern", antwortete Hades und streckte ihm die Hand mit dem Glas entgegen. Dustin füllte auch sein Glas. Der Gott hob es prostend und nahm dann einen kleineren Schluck als zuvor.

    „Danke, für mich nicht, sagte Christos. „Ich muss morgen sehr früh aufstehen. Ich arbeite im Moment Doppelschichten. Meine Mutter ist sehr krank, und die Kosten für ihre experimentellen Medikamente werden nicht übernommen.

    „Siehst du, das meine ich, rief Hades, mit der offenen Handfläche auf Christos weisend. „Er bedient Menschen wie dich von vorn bis hinten, und zum Dank lässt man seine Mutter an einer eigentlich harmlosen Krankheit verrecken. Eine Schande ist das. Er stellte sein Glas mit etwas zu viel Nachdruck auf den Schreibtisch zurück und bellte erneut: „Eine Schande!"

    Dann wandte er sich an Christos: „Du brauchst diese entwürdigende Arbeit nicht mehr zu tun. Mein Neffe Asklepios wird sich deiner Mutter annehmen, und für dich werde ich selbst sorgen."

    Mit diesen Worten stand Hades auf, kam auf Dustin zu und legte auch ihm die Hände auf die Schläfen. Wieder flüsterte er etwas. Einen Moment lang hatte Dustin den Eindruck, einen grellen Blitz zu sehen und etwas zu hören, das wie Musik und doch viel größer und überwältigender klang. Kopfschmerzen, Übelkeit, Müdigkeit und schwere Gedanken fielen von ihm ab wie ein schmutziges Hemd, das man einfach ausziehen konnte. Er betrachtete den Gott mit überwältigtem Blick. Er wollte nur noch eins: Hades folgen, selbst wenn dieser ihn in seine Heimat, die Unterwelt, führen würde.

    2

    Gegen 22 Uhr stand Norbert Voss an einer viel befahrenen Athener Ausfallstraße und winkte einem Taxi. Der Taxifahrer schien ihn nicht zu bemerken und fuhr einfach durch. Auch ein zweites und ein drittes Taxi rauschten vorbei. Erst das vierte hielt an, nachdem es einige Meter an ihm vorbeigefahren war, aber zwei junge Frauen schienen aus dem Nichts aufzutauchen, stiegen auf beiden Seiten durch die Hintertüren ein, und das Taxi fuhr wieder an, bevor er in seiner Verwunderung etwas sagen oder tun konnte.

    Nach dem Verhandlungstag hatte Norbert noch mit einem belgischen und einem italienischen Kollegen zu Abend gegessen. Das Hotel der beiden lag in die entgegengesetzte Richtung, so dass sie bereits mit einem anderen Taxi abgefahren waren. Norbert ärgerte sich. Was bildeten diese Taxifahrer sich eigentlich ein? Konnten sie bereits von Weitem sehen oder riechen, dass er ein Angehöriger der EU-Kommission war? Zugegeben: er trug einen sehr teuren dunkelblauen Anzug, einen ledernen Aktenkoffer, und sein hellblondes Haar schien ihn besonders auffällig zu machen.

    Er wollte sich gerade entschließen, den Weg zum Hotel zu Fuß zurückzulegen, was etwa eine halbe Stunde dauern würde und in der unerträglichen Hitze, die selbst um diese Zeit noch herrschte, sehr anstrengend war. Doch plötzlich hielt ein eleganter dunkelgrauer Mercedes S-Klasse mit einer Vollbremsung neben ihm, und das Fenster auf der Beifahrerseite glitt herunter. „Norbert Voss? Steig ein", rief die Fahrerin in akzentfreiem Deutsch.

    Verwundert fragte Norbert: „Wer sind Sie?"

    „Erzähle ich dir unterwegs, sagte die Frau mit einem aufmunternden Lächeln. „Na los, steig schon ein.

    Norberts Neugier siegte über seine Vorsicht. Er öffnete die Beifahrertür, stieg ein und schloss die Tür wieder, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass er sein knitterfreies Hosenbein nicht einklemmte. Er schnallte sich an und platzierte seine Aktentasche auf dem Schoß.

    Die Frau trat sofort das Gaspedal des Automatik­fahrzeugs durch. Die Beschleunigung presste Norbert an den Sitz, und die Fahrerin behielt ein für den starken Verkehr überraschend hohes Tempo bei, indem sie geschickt beide Fahrspuren nutzte und teilweise sogar auf der inneren Gegenfahrbahn überholte, wenn diese gerade frei war.

    Norbert musterte die Unbekannte. Sie trug ein einfach geschnittenes rotes Kleid, bequeme flache Schuhe, und war auffallend attraktiv. Nein, mehr als das. Sie war atemberaubend schön, fand Norbert. Sie hatte eine wallende hellbraune Lockenmähne, große Augen, deren Farbe er im dunklen Auto nicht genau auszumachen vermochte, eine gerade, ebenmäßige Nase und volle Lippen. Geschminkt schien sie nicht zu sein, aber sie machte auch nicht den Eindruck, das nötig zu haben.

    Seit seiner Scheidung vor zwei Jahren hatte er keinen näheren Kontakt mehr zu Frauen gehabt, außer beruflich, und er fragte sich, ob sie wohl deshalb eine so extreme Wirkung auf ihn hatte. Aber das allein konnte es nicht sein – irgendetwas an ihr war einfach überwältigend.

    „Kaugummi?", fragte sie ihn nun und hielt ihm mit der rechten Hand ein Päckchen hin, während sie mit links weitersteuerte.

    „Nein danke", entgegnete er, leicht irritiert – etwas so Profanes wie Kaugummi schien nicht zu einer Lady wie ihr zu passen.

    „Erlaube, dass ich mich vorstelle, fuhr sie fort. „Mein Name ist Aphrodite. Ich bin von weit her hierhin gereist, um dich zu treffen und dich um einen kleinen Gefallen zu bitten. Selbst ihre Stimme war hypnotisch – recht tief für eine Frauenstimme, melodisch, wohlklingend.

    „Aphrodite? Wie die Göttin der Liebe und Schönheit?", fragte Voss. Wenn es eine Frau gab, zu der dieser Name passte, dann war es diese. Er wusste einiges über die griechische Mythologie, denn sein Vater hatte die antiken Sagen geliebt und sie Norbert immer begeistert als Gutenachtgeschichten erzählt.

    „Nein, nicht wie die Göttin der Liebe und Schönheit", antwortete Aphrodite, „sondern die Göttin der Liebe und Schönheit. Und der Fruchtbarkeit übrigens auch, fügte sie hinzu, und es schien sie zu belustigen. „Aber keine Sorge, ich habe bereits mehr als genug Kinder, von mehr Vätern, als du dir vorstellen kannst.

    Na super, dachte Norbert. Da lernt man einmal eine wirklich tolle Frau kennen – und dann muss es eine Verrückte sein. „Halten Sie bitte an, ich möchte aussteigen!", sagte er bestimmt.

    „Wir sind noch nicht da, erwiderte sie. „Und das hier ist keine besonders sichere Gegend. Einem fein gekleideten Herrn wie dir würde man hier die Aktentasche, das Geld, die teure Rolex und wahrscheinlich sogar die Kleidung stehlen. Wer könnte es ihnen verdenken – die meisten Leute hier müssen im Monat mit weniger auskommen, als deine Schuhe gekostet haben. Für die ganze Familie wohlgemerkt.

    Mit diesen Worten drehte sie sich blitzschnell zu ihm um und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann schaute sie sofort wieder auf den Straßenverkehr, als sei nichts gewesen. Norberts Herz raste, seine Hände schwitzten, und er war überzeugt, dass sie die Wahrheit sagte.

    Wenige Minuten später kamen sie an einer schäbigen Vorortpension an. Aphrodite parkte ein, schaltete den Motor ab und sagte, zu Norbert gewandt: „Wir sind da."

    „Wie bitte? Das ist nicht mein Hotel", antwortete dieser vorwurfsvoll.

    „Richtig. Es ist meins", entgegnete die Göttin ungerührt. Beide stiegen aus, und Aphrodite führte Norbert zum Eingang der Pension. Die Tür war nur angelehnt. Norbert drückte sie auf und ließ der Göttin den Vortritt. Sie marschierte an ihm vorbei in einen notdürftig beleuchteten Flur. An dessen Ende befand sich eine weitere Tür, auf die Aphrodite zeigte. Norbert drückte die Klinke herunter und ließ Aphrodite erneut vorgehen.

    In dem kleinen Raum hinter der Tür saß ein alter Mann hinter einem sichtlich in die Jahre gekommenen Holztresen. Er trug eine dicke Hornbrille und blätterte gelangweilt in einer griechischen Tageszeitung, deren Titel Norbert nicht lesen konnte.

    Aphrodite sagte etwas auf Griechisch zu dem Portier, der bedächtig aufstand, zu einem Schlüsselbrett hinter seinem Stuhl humpelte, einen der dort hängenden Schlüssel nahm und ihn der Göttin reichte. „Evcharisto", sagte sie – das verstand Norbert immerhin.

    Links vom Rezeptionstresen führte eine knarzende, gewundene Holztreppe mit steilen Stufen in den ersten Stock. Aphrodite begann, hinaufzusteigen, und Norbert stapfte hinterher, obwohl er gar nicht recht wusste, warum. In der dunklen Diele im Obergeschoss bog Aphrodite nach rechts ab. Auch der Dielenboden war aus Holz und knarzte wie die Treppe; eine einzelne Leuchtstoffröhre verbreitete ein kaltes und unzureichendes Licht. An der dritten Tür, einem Zimmer mit der Nummer 12, blieben sie stehen. Aphrodite steckte den Schlüssel ins Schloss, zog die Tür leicht an, damit er sich überhaupt drehen ließ, und schloss auf. Sie machte eine einladende Geste in Richtung Zimmer. Norbert trat hinein, die Frau folgte ihm, schaltete das Licht ein und zog die Tür hinter sich zu.

    „Setz dich", sagte sie zu Voss, der verlegen in dem winzigen Zimmer stand und vom Bett zur Kommode und wieder zurück blickte. An der vergilbten Raufasertapete hing eines dieser kitschigen Bilder von einem weißen Haus mit blauen Tür- und Fensterrahmen, wie es sie auf griechischen Inseln gab – das hatte Norbert zumindest auf Reisewebsites gesehen; er selbst war noch nie auf einer solchen Insel gewesen. Obwohl das Fenster sperrangelweit offen stand, war es stickig heiß in dem Zimmer; klimatisiert war es offenbar nicht.

    Norbert stellte seinen Aktenkoffer an die Wand. Da es keine Stühle gab, setze er sich auf das schmale Bett. Aphrodite sagte: „Mach es dir bequem. Ich komme gleich wieder." Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer.

    Voss stand wieder auf, zog sein Jackett und seine Krawatte aus, legte beides auf die kleine Kommode, wofür er den Radiowecker so weit wie möglich nach hinten schob, und entledigte sich auch seiner glänzend polierten Lederschuhe. Er setzte sich wieder hin und wartete.

    Was mache ich hier eigentlich? fragte er sich. Er kannte die Frau überhaupt nicht. Und auch wenn er ihr glaubte – oder glauben wollte –, dass sie eine Göttin war, musste das ja nicht stimmen. Was, wenn sie zu einer Terrorgruppe gehörte, die ihn entführen und für seine Freilassung Geld oder Zugeständnisse erpressen wollte?

    In diesem Augenblick kam Aphrodite zurück. Sie trug eine Flasche Ouzo unter dem Arm und zwei einfache Trinkgläser in der Hand. Sie schob Norberts Jackett beiseite, stellte die Gläser auf die Kommode, öffnete die Flasche und goss Ouzo in beide Gläser. Eins gab sie Norbert, das andere behielt sie selbst. Dann setze sie sich neben ihn und sagte: „Auf dein Wohl, Norbert Voss."

    Beide nahmen einen vorsichtigen Schluck. Voss mochte das Getränk eigentlich nicht sonderlich, aber im Moment war ihm das egal. Erwartungsvoll sah er die Göttin an.

    „Du bist ein wichtiger Mann, bemerkte sie. „Morgen wirst du das Schicksal dieses Landes mitbestimmen. Wir Götter glauben, dass es kein Schicksal ist, sondern dass man es in eine andere Richtung lenken kann. Deshalb bist du hier.

    Also doch! Norbert hatte es gewusst. Sie würde ihm drohen, ihn erpressen oder versuchen, ihn zu bestechen. Aber warum eigentlich ihn? Er war nur stellvertretender Staatssekretär, ein besserer Verwaltungsbeamter. Warum hatte sie ausgerechnet ihn auserkoren, und nicht den EU-Finanzkommissar, einen der Finanzminister oder gar den Kommissions­präsidenten?

    „Denk doch einmal nach", sagte Aphrodite, als ahnte sie, was er dachte. Vielleicht wusste sie es sogar, Norbert war sich da nicht sicher. „Wenn wir die Leute manipulieren würden, die jeden Abend in euren Nachrichten und Talkshows zu sehen sind, würde das doch sofort auffallen. Ihre Kollegen oder Vorgesetzten würden an ihrer geistigen Verfassung zweifeln, sie würden zu Psychologen geschickt und untersucht, oder zumindest würde ihnen niemand mehr trauen.

    Also haben wir uns entschlossen, uns ihre Mitarbeiter vorzunehmen. Du und deinesgleichen seid der Öffentlichkeit völlig unbekannt. Aber ihr habt mehr Einfluss, als ihr glaubt. Während eure Vorgesetzten in die Kameras lächeln und allgemeine Absichts­erklärungen abgeben, handelt ihr die Details der Verträge aus, die sie dann unter tobendem Applaus oder vernichtender Kritik unterschreiben. Die meisten von ihnen lesen nicht einmal genau, was darin steht."

    Norbert musste zugeben, dass sie Recht hatte. Verrückt oder gefährlich mochte sie sein, aber dumm war sie ganz bestimmt nicht – und das machte sie nur noch gefährlicher. Und doch fühlte er sich gleichzeitig immer noch zu ihr hingezogen und hatte das Gefühl, dass er gar nicht anders konnte, als alles zu tun, was sie von ihm verlangen würde.

    In diesem Moment hörte er das Poltern schneller Schritte, das von der Treppe und dann aus der Diele zu kommen schien. Die Zimmertür wurde aufgerissen, und zwei Männer mit raspelkurzen Haaren, breiten Schultern, schwarzen Anzügen und Sonnenbrillen stürmten herein, Pistolen im Anschlag. Leibwächter der EU-Kommission, das wusste Norbert sofort. Sie schienen ihn die ganze Zeit beschattet zu haben und waren ihm dann wohl bis in die Pension gefolgt.

    „Aufstehen und Hände hinter den Kopf!, herrschte der Leibwächter, der als erster hereingekommen war, Aphrodite auf Englisch an, während er seinen Revolver auf sie richtete. Der andere wandte sich an Norbert und fragte: „Sind sie in Ordnung, Herr Voss?

    Aphrodite machte überhaupt keine Anstalten, aufzustehen. Sie streckte auch ihre Hände nirgendwo hin, sondern hielt in der rechten immer noch ihr Glas und ließ die linke lässig im Schoß liegen. Mit einem engelsgleichen Lächeln wandte sie ihren Blick zu dem Mann, der sie bedroht hatte. Langsam hob sie den Kopf, und der Agent bewegte wie in Trance die Hand mit der Waffe in dieselbe Richtung. Dann nickte Aphrodite einmal heftig, und er ließ den Revolver zu Boden fallen. Mit einem schnellen Fußtritt beförderte die Göttin ihn außer Reichweite.

    Dann stand sie auf, wirbelte herum, streckte ein Bein in die Luft und trat dem anderen Agenten damit

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