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Dolúrna
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eBook466 Seiten6 Stunden

Dolúrna

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Über dieses E-Book

Eine Welle von Misstrauen schlägt dem jungen Lehrer Connor Wood entgegen, als er, aus Frankreich kommend, in der Grundschule einer schottischen Kleinstadt seinen Dienst antritt. Die Einheimischen stehen Fremden äußerst voreingenommen gegenüber, allen voran die alte Farmerin Mary MacFarlane, die das Gerücht verbreitet, hinter dem großen, schwarzhaarigen Mann verberge sich ein fanatischer Attentäter, der ihr Heimatland in die Luft sprengen wolle. Unterstützung findet sie in Connors konservativer Kollegin Meredith Montgomery, mit deren Hilfe sich die Verleumdungen auf absurde Art und Weise wie ein feinmaschiges Netz über die ganze Stadt legen, bis selbst die katholische Kirche mit Pfarrer MacGowan ihren Nutzen daraus zieht.

Auch Hazel Blackwell, eine junge Gärtnerin, wird in den Strudel von Irrglauben, Intrigen und Spekulationen um die innere Sicherheit hineingezogen, denn mit seinen unkonventionellen Glaubensvorstellungen und mysteriösen Pflanzenexperimenten übt der Fremde eine unerklärliche Anziehungskraft auf die junge Frau aus.
Kann Hazel Connor trauen? Warum verfolgen sie furchterregende Träume, seit der fragwürdige Lehrer aufgetaucht ist? Was glaubt dieser in der sagenumwobenen Höhle des Felsengottes Fairtheoir Túláin zu finden? Und welches Geheimnis verbirgt sich hinter seinen aquamarinblauen Augen, in denen ein mystisches Feuer zu lodern scheint? Hazel kann sich seinem Zauber nicht entziehen und gerät zwischen die Fronten aus Frieden und Fremdenhass.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Feb. 2014
ISBN9783847671954
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    Buchvorschau

    Dolúrna - Mira Birkholz

    1 Gerüchte

    Donnerstag, 19. August 2010 – Portmullen, Baumschule

    „Hey, Jamie, hallte es laut über den Hof, „hilfst du mir, die Töpfe von der Palette zu heben?

    „Hast wohl nicht genug gefrühstückt, Hazel?!", lachte Jamie und schlenderte breit grinsend auf sie zu.

    Die grüne Hose schmiegte sich eng an seinen Körper und ließ keinen Zweifel daran, dass Jamie mit einer Muskelmasse gesegnet war, die Ihresgleichen suchte. Das Becken leicht vorgeschoben bewegte er sich lässig über den Hof.

    „Na, komm‘ schon!", drängte Hazel.

    Als Jamie endlich vor ihr stand, hielt sie ihrem Kollegen den gewölbten Bizeps unter die Nase. „Von wegen zu schwach! Ist das etwa nichts?!"

    Trotzig warf sie ihre dunklen Haare in den Nacken und blinzelte ihn böse an.

    „Na ja, ist nicht schlecht, gestand Jamie, „für eine Frau…

    Und schon musste er den Kopf einziehen, um Hazels vermeintlichem Schlag auszuweichen.

    „Pass‘ auf, was du sagst!", drohte sie mit erhobenem Zeigefinger und versuchte, sich das Lachen zu verkneifen.

    „Ich liebe es, wenn du wütend bist, Hazel Blackwell!", stellte Jamie vergnügt fest und legte kumpelhaft den Arm um die Schulter seiner Kollegin.

    Gemeinsam zogen sie den Hubwagen mit der schweren Holzpalette in den Verkaufsbereich, wo Caitlin bereits Platz geschaffen hatte.

    „Ich hab‘ uns Jamie mitgebracht!, verkündete Hazel stolz und fügte mit gespielter Demut hinzu: „Männer sind eben doch das stärkere Geschlecht.

    „Komm‘, Hazel, albere nicht rum, schalt Caitlin, „bestimmt kommt gleich Magnus um die Ecke und schimpft, weil wir noch nicht fertig sind.

    „Ach, der soll sich nicht immer so aufregen!", schimpfte nun Hazel über ihren Chef, der von seinen Mitarbeitern verlangte, dass sie in Windeseile perfekte Ergebnisse präsentierten.

    Magnus Hartmann war aus Deutschland eingewandert und hatte vor gut zehn Jahren die Baumschule in Portmullen eröffnet. Niemand wusste so genau, warum er sich gerade diesen entlegenen Ort in Schottland ausgesucht hatte. Gab es nicht Gegenden, in denen günstigere Klimabedingungen herrschten und ein größerer Umsatz zu erwarten war, weil dort mehr Menschen lebten? Menschen, die wohlhabender waren, größere Gärten mit fruchtbareren Böden besaßen und die entsprechende Leidenschaft, jedes verfügbare oder nicht verfügbare Pfund in Pflanzen zu investieren?

    Seit Jahren munkelten die Einwohner Portmullens, Magnus sei geflohen. Vielleicht vor dem Gesetz, einer Frau oder gar vor sich selbst. Mit großer Skepsis beobachtete man das Wirken dieses Mannes, der in all den Jahren immer ein Fremder geblieben war.

    Hazels Chef schien nicht mit sich im Reinen zu sein. Dauerhaft unzufrieden wirkte er, gehetzt und ungeduldig. Niemals kam er zur Ruhe. Von morgens bis abends eilte er durch den Betrieb, zu Kunden, zu Lieferanten. Und je geschäftiger er war, desto mehr verwandelte sich sein Umfeld in ein heilloses Durcheinander von schmutzigen Werkzeugen, liegengelassenem Schnittgut und vergessenen Arbeitshandschuhen, die sich über das gesamte Baumschulgelände verteilten. Das Chaos, das er regelmäßig hinterließ, wünschte er wortlos von seinen Mitarbeitern beseitigt zu wissen. Ebenso verlangte er stillschweigend, dass sie Gespräche aller Art vermieden. Magnus war misstrauisch und vermutete hinter jedem Wort seiner Angestellten Privatgespräche, die sie von der Erledigung ihrer Arbeit abhielten. Dieses Misstrauen führte dazu, dass morgens keine Zeit für die notwendige Besprechung und Organisation einzelner Arbeitsbereiche blieb, denn alle Mitarbeiter stoben wie Hühner vor dem Fuchs in alle Richtungen davon, sobald Magnus aus irgendeinem Gebüsch gehuscht kam.

    Hazel fand dieses Verhalten lächerlich, obwohl auch sie sich von den Kollegen fernhielt, wenn Magnus unverhofft auftauchte. Warum mussten erwachsene Menschen vor einem Mann fliehen, der nicht zu begreifen schien, dass die Arbeit zu zweit oder in Gruppen sich viel effektiver gestaltete? Das menschliche Miteinander, das Gespräch zwischen Menschen setzte Energien frei, aus denen Kreativität und Motivation erwuchsen! Doch diese ließ Magnus nicht zu.

    Hatte das wirklich etwas mit der Selbstdisziplin zu tun, die man hier in Portmullen den Deutschen nachsagte? Bedeutete Selbstdisziplin den Verzicht auf zwischenmenschliche Beziehungen? Den Verzicht auf Dinge, die man sich nur kaufte, weil sie einem gefielen, obwohl man sie nicht brauchte? So wie die schönen keltischen Ohrringe, die Hazel gestern im Ort erstanden hatte? Beinhaltete Selbstdisziplin, dass man sich keinem Menschen öffnen durfte? Niemals sein Selbst preisgeben oder die Kontrolle über sich verlieren? Niemals weinen? Niemals vor Glück die Welt umarmen? Nein, das war nicht Hazels Mentalität!

    Wenn es ihr – im Gegensatz zum Großteil der Bewohner Portmullens – auch völlig gleich war, woher ein Mensch stammte, so blieb doch auch Magnus ihr ein Rätsel.

    Wie konnte man fröhlich und friedlich miteinander leben, wenn die Menschen sich jede Freude verwehrten, nicht miteinander sprachen, lachten und Dinge erschufen. Wenn sie sich keine Ruhe gönnten, keine Zeit zum Leben und zum Träumen? Wo blieb denn in all dieser hektischen Betriebsamkeit der Lebenssinn?

    „Fass‘ mal mit an, Hazel!", riss Caitlin sie aus ihren Gedanken.

    „Du hast schon wieder geträumt, was?", neckte Jamie.

    „Wenn ich bloß wüsste, ob ich der Auserwählte bin!"

    Grinsend musterte Jamie seine Kollegin.

    Hazel war einen Kopf kleiner als er, ungewöhnlich breitschultrig für eine Frau, kräftig, aber doch geschmeidig in ihren Bewegungen, wie die Fischotter, die sie an der Küste beobachtet hatten. Ihre Haare glänzten in einem dunklen Braun und trugen einen Hauch Widerspenstigkeit zur Schau, die das Spiegelbild ihres Wesens darstellte. Hazels braune Augen ließen Jamie an zwei reife Haselnüsse denken, und regelmäßig zog er sie damit auf. ‚Hasel-Äuglein‘ nannte er sie spöttisch, worauf sie sich stets wütend auf ihn stürzte.

    Ja, Hazel hatte etwas Burschikoses an sich, etwas Wildes. Doch das machte sie für Jamie umso attraktiver.

    „Glaubst du ernsthaft, ich träume von dir?"

    Beim Lachen warf Hazel ihr Haar über die Schulter, damit es ihr nicht die Sicht auf den großen Terrakotta-Topf nahm, den sie mit Jamie und Caitlin vorsichtig von der Palette hob und in ein Regal stellte.

    „Von mir träumt doch jede Frau!", strahlte Jamie, während er unter leichtem Schnaufen den schweren Kübel absetzte.

    „Darauf kannst du lange warten!", erklärte Hazel, strich sich das Haar aus dem Gesicht und band mit geübten Fingern ihren Zopf neu.

    „Sie träumt von einem Mann mit blauen Augen!", schaltete sich Caitlin triumphierend ein und erntete einen bitterbösen Blick von Hazel.

    Erstaunt hob Jamie die Augenbrauen.

    „Meine sind grün", stellte er nachdenklich fest.

    „Siehst du?!, konterte Hazel. „Schon bist du raus!

    „Und sie müssen unbedingt blau sein? Ich kann mir doch blaue Kontaktlinsen besorgen, Hasel-Äuglein!"

    „Das ist nicht das gleiche!", behauptete Caitlin lachend.

    „Dann bräuchtest du nämlich noch ein schwarzes Toupet und geschmeidige Handprothesen, die Hazel zärtlich streicheln können!"

    „Du glaubst, das kann ich nicht?!", empörte sich Jamie.

    „Keine Ahnung!", Caitlin lief rot an.

    Forsch griff Hazel seine Hand und begutachtete sie.

    „Viel zu rau!", befand sie kritisch.

    „Und einen silbernen Ring trägst du auch nicht!", bemerkte Caitlin.

    „Wieso Ring?"

    „Na, Hazel hat doch geträumt, dass…"

    „Jetzt ist aber Schluss!, protestierte Hazel zornig. „Dir werde ich noch mal was anvertrauen, Caitlin!

    „Ach, Hazel, das war doch bloß Spaß!"

    „Geheimnisse erzählt man nicht weiter! Auch nicht aus Spaß!"

    Wütend und verletzt drehte Hazel sich um, und fast wäre sie Magnus in die Arme gelaufen, der soeben hinter dem mächtigen Buchsbaum-Kegel hervor hüpfte, flink und hurtig wie ein Mauswiesel.

    Ließ der Name „Magnus" auch einen hünenhaften Nordländer vermuten, so hatte der deutsche Chef doch eher die Statur eines kleinen schwedischen Trolls, die es ihm umso leichter machte, sich nicht nur vor seinen Mitarbeitern, sondern auch vor vermeintlichen Kunden zu verstecken. Denn zu seinem Misstrauen gesellte sich die Scheu vor Menschen. Vielleicht hatte Magnus sich deshalb nach Schottland zurückgezogen. Hier am Mull von Kintyre konnte man stundenlang durch die Landschaft streifen, ohne einem Menschen zu begegnen.

    Nun aber trat er auf seine Mitarbeiter zu, um sie daran zu erinnern, wer hier das Sagen hatte.

    „Jamie, begann er vorwurfsvoll, „du solltest doch die Bäume anbinden! Im Sturm fallen die alle um, und wenn sie Schaden nehmen, können wir sie gleich verschenken!

    Jamie sah zu Hazel und verdrehte die Augen, so dass sie schon fast wieder lachen musste.

    „Ja, mach‘ ich gleich, beruhigte er Magnus, fügte aber hinzu, „ich helfe nur eben den Mädels mit den schweren Töpfen.

    „Das kann ich auch", erwiderte Magnus und riss Jamie den Kübel aus der Hand.

    „Caitlin, sprach er weiter, „hat schon jemand die Saisonpflanzen gewässert? Das ist bei Sonne und Wind das Wichtigste!

    „Nein, äh, ich wollte erst, stammelte sie nervös, „ich mach‘ das eben.

    Und schon blieb Hazel mit dem gehetzten Magnus zurück, der von ihren breiten Schultern auf einen Rücken schloss, der auch den schweren Kübeln gewachsen war. Mit etwas Selbstdisziplin ginge es schon. Und mit Tempo!

    Nach knappen zehn Minuten stand der letzte Topf im Regal, und Magnus sprach belehrend:

    „Siehst du, so schnell kann man abladen und wegräumen! Da braucht man nicht zu dritt hier rumstehen und lange reden!"

    Mit einer forschen Handbewegung wies er auf die Reihe Kübel, die lieblos angeordnet das Regal ausfüllte.

    „Die Ware muss immer so präsentiert werden, dass die Kunden sie gut sehen können!"

    Hazel stand mit vor Anstrengung geröteten Wangen vor dem kleinen Mann und kämpfte gegen ihre Wut im Bauch und den Schmerz im Rücken, während ihr Chef ruckartig den Hubwagen wendete und plötzlich ein großer Terrakotta-Kübel ins Wanken geriet. Hazel stürzte darauf zu, doch dieser hatte bereits den Rückweg zur Palette angetreten, auf der er mit lautem Knacken und Krachen in unzählige Stücke zerbarst.

    Mit geweiteten Augen starrte Magnus auf Hazel, auf den Topf und wieder auf Hazel.

    „Du darfst sie nicht zu nah an den Rand stellen!"

    Daraufhin kehrte Magnus ihr den Rücken zu und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Nur nicht so lautlos, denn noch vom Hof her konnte Hazel die scharfe Stimme ihres Chefs vernehmen, die ohne Unterlass leise Verwünschungen auszustoßen schien.

    „Der spinnt doch!", rief nun auch Hazel, die ihre Wut nicht länger unterdrücken konnte.

    Caitlin kam herbeigeeilt, nicht ohne hastig den Kopf in alle Richtungen zu wenden, um ja nicht ins Blickfeld des tobenden Chefs zu gelangen.

    „Es tut mir so leid, Hazel!", jammerte sie.

    „Dass ich den schönen Topf kaputtgeschmissen habe?!"

    Unwirsch strich Hazel sich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem feuchten Gesicht. Weiße Terrakotta-Spuren auf der Wange und in ihrem Pullover zeugten von unkontrollierten Bewegungen, die Magnus mit seinem Tempo forciert hatte.

    „Quatsch! Ich meine, ja, das auch, dass er kaputt ist, der Topf, äh, nein, ich meine das mit deinem Traum! Dass ich es verraten habe."

    Kläglich sah Caitlin sie an.

    Mit ihrem spitzen Gesicht und dem feinen blonden Haar wirkte sie wie ein kleines Mäuschen, das sich vor der Katze duckte. Ihre Finger verknoteten sich ineinander, während ihre hellen Augen hastig von Hazels Gesicht zu ihren Füßen huschten.

    „Ich wollte doch auch mal was Freches sagen", erklärte sie kleinlaut und senkte den Blick.

    „Zu Jamie, meine ich."

    Überrascht blickte Hazel sie an.

    „Du bist doch nicht etwa?" Hazel brach in Gelächter aus. Caitlin schüttelte heftig den Kopf.

    „Du bist tatsächlich in Jamie verknallt!" stellte Hazel prustend fest.

    „Ach, Quatsch."

    „Wieso?! Ist doch aufregend, Caitlin!", strahlte Hazel ihre Kollegin an.

    „Komm‘, das müssen wir ihm gleich erzählen!"

    „Wehe, Hazel! Wehe, wenn du das tust!"

    Entsetzt blickte Caitlin in zwei unschuldig wirkende Haselaugen.

    „Du hast mich doch auch verraten", grinste Hazel herausfordernd.

    „Das tut mir ja auch leid!"

    Unglücklich senkte Caitlin den Blick und pulte nervös das Preisschild von einem der Töpfe. Hazel hatte Mitleid mit ihrer Kollegin, die sich immer kleiner machte als sie ohnehin schon war.

    „Ach, vergiss‘ es einfach. Frieden, okay?!", schlug sie vor, und Caitlin nickte erleichtert.

    „Ich find’s total spannend, dass du in Jamie verliebt bist!"

    „Ach, das hat wohl nicht viel Sinn, befürchtete Caitlin. „Er steht doch auf dich. Und dann ist da ja noch Emily.

    Emily war Caitlins achtjährige Tochter, deren Vater vor vier Jahren verschwunden war. Eines Morgens war Caitlin erwacht, und außer einer kurzen Notiz „Such mich nicht! Jake" hatte er nichts zurückgelassen. Doch, seine kleine Tochter, die Caitlin über alles liebte.

    „Wenn Jamie keine Kinder mag, wird aus uns sowieso nichts! Emily wird bei mir immer an erster Stelle stehen", erklärte Caitlin.

    „Bevor ich mich auf einen neuen Mann einlasse, muss ich mir schon ziemlich sicher sein, dass er zu uns passt. Emily soll sich nicht andauernd umgewöhnen, nur weil ich mich in den falschen Mann verliebt habe! Sie ist so labil, seit Jake verschwunden ist. Es reicht schon, dass sie nach den Sommerferien einen neuen Klassenlehrer bekommt."

    „Willst du den etwa auch mit frechen Bemerkungen locken?", fragte Hazel übermütig.

    „Natürlich nicht!"; Caitlin wehrte entschieden ab.

    „Wer ist er denn? Dein Mr. Winter?"

    „Nein, „mein Mr. Winter ist in Pension gegangen. Der wird Emily nicht mehr ärgern. Wenn ich daran denke, wie er mich in Mathe schikaniert hat, könnte ich ihm noch heute vor sein Holzbein treten!

    „Caitlin!, rief Hazel überrascht. „Du kannst ja richtig zur Furie werden!

    „Ja, und wenn dieser neue Lehrer Emily auch nur ein Haar krümmt, dann…"

    „Glaubst du, er hat auch ein Holzbein?", kicherte Hazel.

    „Nein, aber er kommt nicht von hier."

    „Was ist daran so schlimm?"

    „Eigentlich nichts. Aber es wird erzählt, er komme aus Frankreich!"

    Mit großen Augen sah Caitlin ihre Kollegin an und erwartete einen Ausruf des Erstaunens, wie sie ihn von den Eltern in Emilys Klasse gehört hatte, doch Hazel blieb gelassen.

    „Ist doch schön. Dann kann er ihnen Französisch beibringen."

    „Aber er unterrichtet doch Biologie und Geschichte!"

    „Na und? Dann lernen sie eben was über französische Bienen und Blumen, grinste Hazel, „und über die Französische Revolution sowieso.

    „Hoffentlich kommt es in der Schule nicht zur Revolution!"

    „Warum?"

    „Das Kollegium steht dem Fremden misstrauisch gegenüber. Und die Eltern auch."

    „Mensch, Caitlin! Frankreich ist doch quasi nebenan! Glaubst du, der kommt aus einer Höhle gekrochen?!" Hazel hielt sich den Bauch vor Lachen.

    „Nein, das nicht, räumte Caitlin ein, „aber ein Fremder ist er doch!

    „Bevor ich hier angefangen habe zu arbeiten, bemerkte Hazel spitz, „war ich für dich auch eine Fremde!

    „Ja, schon. Aber du kamst immerhin aus England!"

    „England ist auch nur einen Katzensprung von Frankreich entfernt! Einmal über den Kanal schwimmen – zack – und schon bist du da!"

    „Ja, das kannst du vielleicht, Hazel! Du bist die große Schwimmerin, aber Grenze bleibt Grenze. Und er kommt ganz aus Dijon!"

    „Ach, Caitlin! Gebt ihm doch erst einmal eine Chance! Vielleicht ist er ja ganz nett. Ist doch völlig egal, wo er herkommt, solange er seinen Job gut macht!"

    „Du hast leicht reden! Du hast ja kein Kind."

    „Na, ihr beiden?!"

    Plötzlich raschelte es im Buchsbaum, und Jamies freches Gesicht kam zum Vorschein.

    „Habt ihr auch schön die Blümchen gegossen? Und die Töpfchen hübsch aufgestellt? Ups, was ist denn das? Lauter Scherben! Hat mein Hasel-Äuglein einen Wutanfall bekommen?"

    „Den bekomme ich gleich, wenn du nicht sofort verschwindest!"

    Hazel hob eine Scherbe auf und warf damit nach Jamie.

    Caitlin stand wie angewurzelt und strahlte ihn an.

    „Sieh‘ doch nur, rief Hazel, „Caitlin hat viel schönere Augen als ich! Das sind echte Himmels-Äuglein!

    Caitlin wurde rot.

    „Wie ein Engel sieht sie aus! Ist dir das noch nie aufgefallen?"

    Jamie drehte sich um und musterte Caitlin. Er grinste über das ganze Gesicht.

    „Engelchen und Teufelchen!", spottete er und suchte das Weite, bevor ihn Hazels nächste Scherbe treffen konnte.

    „Ist er nicht süß?!", schwärmte Caitlin.

    „Na ja, überlegte Hazel, „ein bisschen schon. Aber keine Angst, Caitlin, Mr. Blue-Eye bleibt mein Traummann!

    2 Ankunft in Portmullen

    Samstag, 28. August 2010 – Cottage am Rande der Stadt

    Die Abendsonne tauchte die Gipfel der fernen Berge in ein rotgoldenes Licht und ließ das Weidegras hinter dem Haus frischgrün leuchten. Am Bach beugte sich die Krone einer windzerzausten Erle über das Wasser, als wollte sie im Abendlicht ihr Spiegelbild betrachten, während ihr langer Schatten sich auf der Wiese ausbreitete wie ein überdimensionales Wesen aus einer anderen Welt.

    Connor hob die Hand über die Augen, damit ihn die untergehende Sonne nicht blendete, und schritt barfuß durch das feuchte Gras, um zu einer Reihe von Sträuchern zu gelangen, die sein Land von dem seiner Nachbarn trennte. Wie Connor vermutet hatte, handelte es sich um Haselnusssträucher. Er lächelte. Natürlich waren es Haselnusssträucher. An den Zweigen erkannte er bereits jetzt im Spätsommer die Fruchthüllen mit ihren kleinen hellgrünen Nüssen darin. Sanft strich Connor mit dem Zeigefinger über ihre noch weich behaarte Schale. Erneut wandte er sich der Sonne zu und griff nach dem goldenen Amulett, das er an einem schwarzen Lederband um den Hals trug. Connor streckte es der Sonne entgegen und sprach fremdartige Worte, die Mrs. MacFarlane nicht verstehen konnte.

    Ein seltsamer Mann. Das hatte sie ja gleich gewusst, doch Matthew hatte ihr nicht glauben wollen. Hier war der Beweis! Anstatt sich im neuen Heim häuslich einzurichten, lief er ohne Schuhe ziellos über die Wiese, starrte in den Himmel, befühlte Gebüsche und sprach nun zu allem Überfluss auch noch fremde Worte in die Luft. Ja, er führte Selbstgespräche! Und etwas Glänzendes hielt er in die Sonne, so dass ihr Schein sich in seinem Gesicht spiegelte. Seltsame Muster schimmerten auf seiner Haut und ließen ihn wie vergoldet erscheinen.

    Mrs. MacFarlane rieb sich die Arme. Sie fröstelte in ihrer Kittelschürze. Wie gut, dass der neue Nachbar so vertieft war in sein merkwürdiges Spiel. Dadurch hatte er sie hinter den dicht belaubten Büschen nicht bemerkt. Das musste sie unbedingt Matthew erzählen! Und wehe, er glaubte ihr wieder nicht. Doch vorerst musste sie hier ausharren, denn der Fremde durfte sie unter keinen Umständen bemerken, während sie zum Haus zurückging. Und verpassen wollte sie auch nichts.

    Connor hielt seine Augen geschlossen und spürte den warmen Widerschein der Sonne auf seiner Stirn. Ohne nachzudenken setzte er einen Fuß vor den anderen und bewegte sich langsam vorwärts. Dabei streckte er weiterhin das Amulett in das rotgoldene Licht.

    Vielleicht ist er betrunken, überlegte Mrs. MacFarlane. Oder er hat Drogen genommen. In wirren Schlangenlinien stakste er durch das Gras wie ein Storch, der zu viel Whisky getrunken hatte. Insgeheim musste sie bei diesem Gedanken lachen.

    Plötzlich blieb er stehen. Langsam öffnete er die Augen und sah sich um. Connor stand nun am Ende seines Landes, nah am Bach, der sich hier wie ein Kind durch das Gras schlängelte, um als ausgewachsener Mann in den Portmullen Loch zu münden. Vermutlich lag unweit von hier seine Quelle. Connor war zuversichtlich. Das war der richtige Ort. Eine Markierung brauchte er nicht zu hinterlassen. Blind würde er ihn wiederfinden. Er steckte das Amulett unter sein kariertes Flanellhemd und nahm nun den Hunger wahr, der ihn zum Haus zurückführte. Doch was war das? Der Schrei eines Vogels? Connor blickte um sich. Nur das Rascheln des Haselnusslaubes im stetigen Wind war zu vernehmen. Seltsam, überlegte er. Connor hätte schwören können, dass es sich um den Laut eines Menschen gehandelt hatte.

    Plötzlich hörte er eine dunkle Männerstimme rufen.

    „Mary! Mary, wo bist du denn?!"

    Keine Antwort.

    „Mary!", erklang die Stimme nun näher an Connors Ohr.

    „Mary, ich hab‘ Hunger! Komm‘ rein!"

    Da erblickte Mr. MacFarlane den neuen Nachbarn.

    „Oh, guten Abend, Mr. Wood! Sie sind doch Mr. Wood, nicht wahr?"

    Connor wendete den Kopf und sah einen kleinen rundlichen Mann mit zerschlissener grüner Cordhose und grauem Hemd, das ihm vorne aus der Hose gerutscht war. Darunter lugte ein strammer Kugelbauch hervor. Auf dem Kopf trug der Mann eine alte Schiebermütze aus kariertem Tweed, und sein Gesicht war rot gefärbt von Wind und Wetter. Vielleicht auch vom Whisky. Weiße Bartstoppeln wirkten wie bereiftes Gras in einer winterlichen Moorlandschaft. Mit großen grünen Gummistiefeln kam er mühsam auf Connor zugestapft, um ihm über den Weidezaun eine grobe Hand zu reichen.

    „Willkommen auf Kintyre!, begrüßte Mr. MacFarlane ihn freundlich, kletterte ächzend über den Maschendraht und erklärte: „Ich bin Matthew.

    „Danke, Matthew, ich bin Connor."

    „Connor, hast du meine Frau gesehen? Im Haus ist sie nicht. Bleibt also nur der Garten, schlussfolgerte Matthew und fügte verschwörerisch hinzu: „Markttag ist ja erst übermorgen!

    Connor schmunzelte. Das hatten wohl alle Märkte gemeinsam. Alte tratschende Dorffrauen, die den halben Tag mit Geschwätz über Nachbarn und vermeintliche Freunde auf dem Wochenmarkt zubrachten.

    „Nein, erwiderte er, „ich habe sie nicht gesehen. Aber Moment, ich habe etwas gehört!

    Plötzlich raschelte der Wind heftig in den Haselnusssträuchern, und Mary MacFarlane trat hervor. Mit den Händen wischte sie abgerissene Blätter von der Kittelschürze fort und strich verlegen ihren Rock glatt. Dann richtete sie ihre grauen Haare, in denen kleine Zweige steckten wie der Kopfschmuck einer Geisha.

    „Mary!, rief Matthew überrascht. „Wo hast du dich denn herumgetrieben?!

    Sein schallendes Gelächter drang mit dem Wind bis hinüber zur Bucht von Portmullen.

    Böse funkelte sie ihren Ehemann an.

    „Ich habe nachgesehen, zischte sie, „ob die Nüsse schon reif sind.

    „Aber Mary, wunderte sich Matthew, „wir haben August!

    „Na und, erwiderte sie schnippisch, „manchmal spielt die Natur eben verrückt.

    „Solange du nicht verrücktspielst!", lachte Matthew und zeigte mit dem Finger auf einen dichtbelaubten Zweig, der vorne in Marys Haussandale steckte.

    „Hast du denn alles gesehen, was du wolltest?"

    „Ich habe nur nach den Nüssen gesehen!", behauptete sie trotzig und warf ihren Kopf in den Nacken. Dabei sah sie mürrisch an Matthew vorbei und begegnete ungewollt Connors Blick, der stumm die Szene verfolgt hatte.

    „Hallo, Mrs., äh, Mary! Ich bin Connor. Connor Wood", stellte er sich freundschaftlich vor und streckte ihr die rechte Hand entgegen.

    „Guten Tag, Mr. Wood", sprach sie steif und verschränkte die nackten Arme vor der üppigen Brust, die sich wie ein Verteidigungswall hinter der bunt gemusterten Kittelschürze aufbäumte.

    „Ich bin Mrs. MacFarlane", erläuterte sie und ließ keinen Zweifel daran, dass sie auf einer förmlichen Anrede bestand.

    „Guten Tag, Mrs. MacFarlane, sprach Connor, „wie schön Sie es hier haben!

    „Ach was, schön, wehrte sie mit einer abfälligen Handbewegung ab, „hier gibt es immer Arbeit! Hier hat man keine Zeit, unnütz in der Gegend herumzustehen und..., unterbrach sie sich selbst.

    Connor schmunzelte und erklärte: „Ich habe mir den Garten angesehen. Ich werde auf der Wiese einige Bäume pflanzen. Ich hoffe, das stört Sie nicht."

    „Das ist schön, nicht wahr, Mary!?"

    Über den Zaun hinweg knuffte Matthew seine Frau aufmunternd in die Seite, doch sie drehte sich unwirsch um.

    „Man sagt, berichtete der Farmer, „vor sechstausend Jahren sei Schottland zu achtzig Prozent von Wäldern bedeckt gewesen! Leider wurden die meisten Bäume zum Heizen verbraucht und für den Schiffs- und Hausbau, so dass es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nur noch vier Prozent gewesen sein sollen. Stell dir vor, Connor, freundschaftlich legte Matthew ihm die Hand auf den Arm, „die haben einfach alles abgeholzt! Er überlegte. „Na ja, wer will schon frieren?!

    „Matthew, ich friere!" Das war Marys Stichwort gewesen.

    „Dann geh‘ doch schon ins Haus", schlug ihr Mann vor.

    „Ich werde mich noch etwas mit Connor unterhalten."

    „Matthew!" Drohend bohrte sich Marys Blick in seine Augen.

    „Du wolltest doch essen!"

    „Stimmt!, gab er lachend zu. „Aber woher weißt du das? Dann hast du mich also die ganze Zeit rufen hören?!

    Empört stemmte er seine dicklichen Arme in die ebenso dicklichen Hüften.

    „Ach, Schluss jetzt", bestimmte seine Frau, packte ihn energisch am Ärmel und zog ihn von Connor fort. Mühsam stieg er über den Zaun zurück.

    „Auf Wiedersehen, Connor!", rief Matthew über die Schulter, während er unbeholfen hinter seiner resoluten Frau hinterher stolperte.

    „Wir reden morgen, fügte er lachend hinzu, „oder übermorgen!

    Verschmitzt zwinkerte er Connor zu. Übermorgen war Markttag und seine Frau in ihrem Element.

    Die Hände in den Hosentaschen vergraben schlenderte Connor nachdenklich zu seinem Haus zurück, das im Dämmerlicht weiß leuchtete. Die Sonne war längst untergegangen und hatte alle Makel im Dunkel versteckt. Graue Löcher im Putz, von den Fensterrahmen abblätternde rote Farbe, einen Sprung im Glas des Küchenfensters und das leicht eingesunkene graue Wellblechdach. Es gab noch viel zu reparieren, fürchtete Connor. Viel lieber wollte er mit der Arbeit im Garten beginnen. Und wer wusste schon, wie lange er hier wohnen würde.

    In der Küche beheizte er den alten Herd mit Torfsoden, die in einem geflochtenen Weidenkorb aufgeschichtet waren. Qualmend breitete sich der kräftige Geruch des Torffeuers im Zimmer aus, während Connor in einer schmiedeeisernen Pfanne Rührei zubereitete. Dazu gab es kerniges Bauernbrot und eine Flasche Schottisches Ale. Während er nun am Küchentisch seine erste warme Mahlzeit einnahm, seit er im Cottage eingetroffen war, ließ er den Tag noch einmal Revue passieren.

    Bei Sonnenaufgang hatte Connor Llanfairpwllgwyngyll verlassen und war mit seinem Auto die knapp vierhundertvierzig Meilen von Anglesey nordwärts bis nach Portmullen gefahren, wo Mr. Gillespie, der Makler, ihn empfangen und zum Cottage am Rande der Stadt geführt hatte. Nachdem die letzten Formalitäten erledigt worden waren, hatte Connor sein Gepäck ins Haus getragen und flüchtig die drei bescheiden möblierten Zimmer des alten Cottages begutachtet. Da die kleinen staubigen Fenster aber so wenig Licht hereinließen, hatte Connor nichts mehr im Haus gehalten. Er war durch die hintere Küchentür hinaus in das Sonnenlicht getreten, hatte tief die salzige Seeluft eingeatmet und war neugierig durch den Garten gestreift.

    Zu beiden Seiten der Holztür befanden sich schmale Beete, die einst mit Malven bepflanzt worden waren, welche nun aber eine wilde Gemeinschaft mit allerlei Zuwanderern aus der freien Landschaft eingegangen waren. Daran schloss sich eine Rasenfläche an, in der ebenfalls die wilden Verwandten die Regie übernommen hatten. Dadurch war die Gleichförmigkeit der Grünfläche verloren gegangen, und deutlich konnte Connor unterschiedliche Blattstrukturen und Farbschattierungen wahrnehmen. Vereinzelt wuchsen Heide- und Heidelbeersträucher dazwischen, die sich eng an den Boden schmiegten, damit der frische Seewind sie nicht auspeitschen konnte. Das hatte er bereits mit der Reihe Ebereschen getan, die grau und struppig, mit Flechten besetzt, der Naturgewalt standhielten und wie zum Trotz besonders üppig mit leuchtend orangeroten Früchten behängt waren.

    Connor lächelte. Sie waren also schon da. Ansonsten gab es einige Bäume weiter hinten auf der Weide, die wohl einst einer Schafherde als Futterplatz gedient hatte. Davon zeugten vertrocknete schwarze Hinterlassenschaften, mit denen Connor seine Neuanpflanzung düngen wollte.

    Er hatte seine Hemdsärmel aufgekrempelt und im Schuppen nach einem Spaten gesucht. Nur knapp war er dem Angriff einer metallenen Gießkanne entkommen, die sich aus einem der Regale auf ihn gestürzt und die komplette Webarbeit einer ganzen Spinnenkolonie mit sich geführt hatte. Doch nachdem Connor seine Haare von den feinen Fäden befreit und die Kanne nach draußen vor die Tür gestellt hatte, war er zwischen verrosteten Werkzeugen und alten Ackergeräten sehr bald auf einen Spaten gestoßen. Damit hatte er hinter dem Haus auf der Wiese ein Loch gegraben und den Erdaushub betrachtet. Sorgfältig hatte Connor an der Erde gerochen und sie zwischen den Fingern geknetet und zerrieben, bis er zu dem Schluss gekommen war, dass es sich um ausreichend fruchtbaren Boden handelte, der seinem Zweck dienen würde.

    Als die Sonne sich langsam den Berggipfeln genähert hatte, war Connor barfuß die Wiese hinunter gelaufen und hatte nach dem passenden Standort gesucht.

    Während Connor die letzten Brotkrümel vom Teller sammelte, erinnerte er sich wieder an die neugierige Mrs. MacFarlane im Haselbusch. Hatte sie wohl das Ritual mit dem Amulett beobachtet? Sicherlich hielt sie ihn für verrückt, und noch bevor er seine Arbeit antrat, würde der halbe Ort davon überzeugt sein, er sei ein irrer Fremder, der tagsüber mit der Sonne sprach und nachts den Mond anheulte. Connor schüttelte lachend den Kopf.

    Plötzlich überfiel ihn eine steinerne Müdigkeit. Schwerfällig erhob er sich von dem abgestoßenen Holzstuhl, auf dem ein gelbgrün geblümtes Sitzkissen lag, dessen Stoffbezug in der Mitte schon durchlässig war wie ein Sieb. Genüsslich streckte Connor sich, verzichtete auf das Zähneputzen im winzigen Bad und legte sich mit seinem Schlafsack auf das wenig Vertrauen erweckende alte Bett, auf dem möglicherweise der Vorbesitzer des Hauses verstorben war. Wo mochte seine Seele heute Nacht sein? Vielleicht würde Connor ihr begegnen, überlegte er schläfrig. Doch nicht immer erkannte man die Seele eines anderen. Und nur ganz selten kam es vor, dass man die Seele eines einst geliebten Menschen wiedertraf. Connor lächelte in die Dunkelheit hinein. Eines Tages würde er ihr begegnen.

    3 Misstrauen

    Mittwoch, 1. September 2010 – Portmullen, Schule

    Mit einem blauen Baumwollpullover bekleidet, dazu Jeans und sportliche Freizeitschuhe, stand Edwin Guthrie im Lehrerzimmer vor dem versammelten Kollegium der Portmullen Junior School. Um seinen Hals hing an einem Band eine braungeränderte Brille, die vor seiner Brust fröhlich hin und her pendelte, während er Connor kräftig die Hand schüttelte.

    „Und damit begrüße ich Sie im Namen aller Kolleginnen und Kollegen herzlich an unserer kleinen Schule, Mr. Wood!", beendete der Schulleiter seine Begrüßungsrede.

    Alle Umstehenden applaudierten und schüttelten Connor der Reihe nach die Hand.

    „Vielen Dank, ich werde mein Bestes geben, um ihrem guten Ruf gerecht zu werden, von dem mir mehrfach berichtet wurde, seit ich vor vier Tagen in Portmullen eingetroffen bin."

    Tatsächlich hatte Matthew ihn darüber aufgeklärt, es würde im Ort spekuliert, ob er wirklich der passende Nachfolger für den pensionierten Mr. Winter sei, der schließlich auf Kintyre geboren war und bis auf die Zeit seines Studiums in Glasgow hier gelebt hatte. Die Leute seien misstrauisch gegenüber diesem „Fremden", wie sie ihn nannten und fürchteten, er könne der Ausbildung ihrer Kinder schaden. Wer wusste schließlich, ob er korrekt Englisch sprach? Und was trieb ihn überhaupt von Frankreich nach Schottland, fragten sich nicht nur die betroffenen Eltern.

    Mary vermutete das Schlimmste, hatte Matthew erzählt und sich ausgeschüttet vor Lachen, als er Connor von ihrer Theorie berichtet hatte. Mary glaube, Connor gehöre einer Sekte an und sei des Landes verwiesen worden, weil er mit Zauberei versucht habe, das Böse im Land zu verbreiten. Vielleicht war er so etwas wie ein Terrorist, hatte sie Matthew in der Küche zugeflüstert, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alle Fenster und Türen verschlossen waren. Mit seiner kräftigen Statur und dem pechschwarzen, lockigen Haar sehe er aus wie einer dieser Attentäter, die in irgendeinem Terrorcamp in einem dieser gefährlichen Länder ausgebildet worden war. Wie einer, der an den islamischen Gott glaubte und sich selbst in die Luft sprengte, damit er sich dessen Gnade würdig erwies. Und nun wolle der fremde Mr. Wood seine radikalen Ideen möglicherweise nach Schottland einschleppen, schließlich habe sie ihn bei seinem Hokuspokus auf der Wiese beobachtet!

    Connor hatte Matthew entsetzt angestarrt und keine Worte gefunden.

    Doch dieser hatte nur gelacht und ihm erklärt: „Weißt du, Connor, meine Frau hat ihr ganzes Leben in diesem Ort verbracht. Sie wurde hier geboren, ist hier zur Schule gegangen, zugegeben nur wenige Jahre, hat auf dem Hof der Sinclairs Hauswirtschaft gelernt und schließlich einen Mann geheiratet, der ihr nicht die große Welt bieten kann!"

    Matthew hatte mit den Schultern gezuckt.

    „Dadurch hat Mary nie etwas Anderes kennengelernt, außer des Markttratsches vielleicht, fügte er kopfschüttelnd ein, „und der Reportagen im Fernsehen, die von Terroranschlägen und der bedrohten inneren Sicherheit unseres Landes berichten.

    „Ihr Weltbild scheint ziemlich verzerrt zu sein", hatte Connor ernst festgestellt.

    „Ja", seufzte Matthew, „und leider steht sie damit nicht allein. Ihre Freundinnen, die regelmäßig zum Teeklatsch kommen, teilen Marys Meinung und stehen Fremden sehr misstrauisch, wenn nicht gar

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