Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Weg, einfach weg
Weg, einfach weg
Weg, einfach weg
eBook381 Seiten5 Stunden

Weg, einfach weg

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Wem von uns geht es nicht manchmal so? Am liebsten würde man alles hinschmeißen und weglaufen.
Andreas van Geerden geht es ebenso. Er ist reich, erfolgreich, hat ein riesiges Haus, aber er ist trotzdem nicht glücklich. Deshalb beschließt er, in der tiefsten Nacht, wie ein Dieb auf der Flucht, wegzugehen. Sorgfältig hat er alles geplant, jedoch fehlt ihm jemand, der ihm einen kleinen Dienst erweist.
Er bittet seinen Freund Hartmut darum. Dieser willigt ein. Um eine falsche Spur zu legen, versenkt er van Geerdens Wagen. Dabei wird der von einer Radarkontrolle fotografiert und gerät so unter Verdacht.
Während Andreas van Geerden auf der Suche nach seiner Freiheit ist, kämpft nun sein Freund darum, nicht von den Gesetzesmühlen zermahlen zu werden.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum17. Nov. 2014
ISBN9783738001839
Weg, einfach weg

Ähnlich wie Weg, einfach weg

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Weg, einfach weg

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Weg, einfach weg - Ralf J. Schwarz

    Kapitel 1

    »Ist hier noch frei?« Erschrocken sah der Angesprochene von seinem Bier hoch. Seine Augen wirkten glasig. »Ja klar«, nuschelte er geistesabwesend. Deutlich schlug dem Fragenden eine Fahne Bierdunst entgegen. Beide Männer sahen sich eine Weile abschätzend an.

    »Giering. Frank Giering.« Der Betrunkene streckte seinem Gegenüber seine Hand hin. Widerwillig nahm der Ankömmling die Hand und schüttelte sie. »Freut mich«, antwortete der Erste ohne seinen Namen zu nennen. Unwillig kam der Barkeeper auf sie zu. Er war ein ungepflegter Typ, unrasiert und mit langen, zu einem Zopf gebundenen Haaren. Er sah aus, als sei er vor einigen Minuten erst aus seinem Bett gekrabbelt. Er nickte die beiden Männer fragend an.

    Der Neue sah ihm einige Sekunden in die Augen. »Was ist? Können Sie nicht sprechen?« Der Barkeeper rümpfte die Nase: »Doch, natürlich.« »Dann machen Sie es auch. Fragen sie mich, was ich trinken will.« Für einen Augenblick schwang die Aggressivität in den Worten des Mannes mit. Der Kerl hinter dem Tresen erschrak, als sich die Finger des Sprechers um das Bierglas des Betrunkenen schlossen. Er sah in an. Der Mann wirkte zu allem entschlossen.

    »Gut, Gut! Also, was möchten Sie trinken?« Mit einem Klacken stellte er das Glas zurück: »Sehen Sie. So ist das doch besser.« Er sah Giering abschätzig an, dann wanderte sein Blick zum Barkeeper: »Einen Tee bitte. Einen schwarzen Tee, Assam oder sonst was. Und bringen sie ihn an den Tisch dort drüben.«

    Giering saß wie angewurzelt auf seinem Stuhl. Aus den Augenwinkeln betrachtete Giering den Hinzugekommenen, der jetzt von seinem Barhocker rutschte und zu dem kleinen Tisch ging. Er sah ihm nach. Für einen Moment wunderte er sich über sein kämpferisches Auftreten. Die Augen des Neuen waren trüb und von undefinierbarer Farbe. Sie standen im krassen Gegensatz zu seinem sonstigen Erscheinungsbild. An diesem Menschen war alles geordnet. Seine Kleidung war in einwandfreiem Zustand. Seine schulterlangen, grauen Haare waren zurückgekämmt. Ein Scheitel, millimetergenau gezogen, teilte die Frisur. Sein Gesicht wirkte gepflegt. Auch sein Drei-Tage-Bart war kurz und sauber ausrasiert. Einzig die deutlich erkennbaren Falten brachten eine Art Unordnung in das Bild. Die tiefen Graben im Gesicht ließen auf eine sorgenvolle Geschichte schließen.

    Frank Giering stand auf und ging zu ihm. Ohne zu fragen ließ er sich auf einen der Sessel fallen. Schweigend sah ihn der Grauhaarige an. Es dauerte lange, bis Giering schließlich einen verbalen Vorstoß wagte: »Auch ein Gestrandeter?« Der Graue nickte zustimmend. »So geht es mir immer«, lallte Giering weiter, »Kaum bin ich irgendwo, streiken die Fluglotsen. Ich kann Ihnen sagen, mir passiert das permanent!« Der Graue antwortete nicht. Wieder nickte er nur. »Und dabei ist das meine letzte Geschäftsreise. Sind sie auch beruflich unterwegs?«

    »Nein, privat«, antwortete der Gefragte kurz. Mit schlurfenden Schritten kam der Barkeeper hinter seinem Tresen hervor und stellte eine dampfende Tasse auf den Tisch. »Bitte sehr, Herr Generaldirektor«, spottete er und verschwand wieder. Der Graue tauchte den Teebeutel, der neben der Tasse lag, ins Wasser.

    »Wissen Sie, wenn ich zuhause bin, werde ich in Rente gehen«, hob Giering erneut an, »Endlich! Vorausgesetzt, ich komme irgendwann noch mal nach Hause.« Er lachte trocken. »Momentan sieht es zwar nicht danach aus, aber zur Not schwimme ich auch heim. Dann bin ich endlich frei. Sie glauben nicht, wie ich mich darauf freue.«

    Giering sah verlebt aus. Seine fettigen Haare bildeten mit seinem ungebügelten Hemd ein Gesamtbild, das nicht nach erfülltem Leben aussah. Er war dünn und wirkte ausgemergelt. Dicke, graue Bartstoppeln standen wie kleine Bleistifte von seiner Gesichtshaut ab. Der Graue sah auf Gierings dünne, zigarettenrauchgelben Finger, die sich wie Spinnenbeine um das Bierglas schlangen. Langsam und gluckernd verschwand die strohgelbe Flüssigkeit zwischen den ebenso gelben Zähnen.

    »Dann sind Sie frei? Denken Sie das?« Mit einem deutlich ironischen Unterton kamen die Worte über die Lippen des Grauhaarigen, »Träumen Sie weiter!«

    Frank Giering nervös auf seinem Sessel hin und her. »He, wie meinen Sie das? Wieso soll ich weiter träumen?«, lallte er plötzlich. »Wollen Sie etwa sagen, dass ich dummes Zeug rede?« Sein Ton klang jetzt deutlich gereizt. Der Grauhaarige schüttelte verneinend den Kopf: »Sie missverstehen mich. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, was ich von Freiheit halte.«

    »Aber wenn ich im Ruhestand bin, dann kann ich doch alles tun. Einfach das was ich will. Das ist doch Freiheit, oder nicht?« »Wenn das Ihre Definition von Freiheit ist, dann wird es das auch sein. Aber bitte. Ich möchte jetzt in Ruhe meinen Tee trinken.«

    Der Graue spürte die Streitlust, die in den Worten des Betrunkenen mitschwang. Seine trüben Augen blitzten. »Na dann mal raus damit. Sie Klugscheißer. Was ist für sie Freiheit?« Der Grauhaarige schwieg und schüttelte den Kopf. Er ärgerte sich. Eigentlich wollte er nur etwas trinken. Und nun beleidigte ihn dieser besoffene Affe. Er hatte gut Lust, ihm eine reinzuhauen. Aber dafür war er sich zu schade.

    »Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich genau weiß, wie sich Freiheit anfühlt. Ich habe gespürt, wie es ist, frei zu sein. Und ich weiß wie es ist, in seiner Freiheit eingeschränkt zu sein. Ich kann Ihnen versichern, ich habe alle Facetten dieses Zustands kennengelernt. Und ich wünschte mir, es nicht zu kennen. Ich würde alles tun, um es nicht wissen zu müssen.«

    Erstaunt sah in Giering an. »Das ist doch Blödsinn«, fauchte er betrunken. »Frei ist frei.« »Denken Sie? Wenn es Sie interessiert«, unterbrach ihn der Graue entnervt, »werde ich Ihnen eine Geschichte erzählen.« »Na los! Erzählen Sie. Öffnen Sie mir die Augen«, witzelte der Betrunkene.

    Der Grauhaarige lehnte sich zurück. Er dachte einen Moment nach. Giering winkte dem Barkeeper und bestellte noch ein Bier. »Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen. Gut alles fing mit einem Anruf an. Ein Mann saß in seinem Büro. Und noch heute bete ich zu Gott, dass er damals den Hörer einfach hätte liegen lassen sollen.«

    Kapitel 2

    Die Gegensprechanlage summte und riss ihn aus seinen Gedanken. Gerade noch hatte er sich mit einer schwierigen Erbrechtsproblematik beschäftigt. Dazu brauchte er seine Ruhe. Und nun störte Cavalli, dieser Nervtöter, seine Kontemplation. »Was ist, Cavalli? Ich hab doch gesagt, dass ich nicht gestört werden möchte. Was gibt's denn so dringendes?« »Tut mit leid«, rauschte die Stimme des Sekretärs aus dem kleinen Lautsprecher, Herr van Geerden hat schon dreimal angerufen. Es scheint dringend zu sein. Er bittet Sie, zurückzurufen.« Hartmut Kesselring legte seinen Füllfederhalter auf den massigen Eichenholzschreibtisch. »Sofort«, hörte er die Stimme erneut. »Okay, ich rufe ihn an. Bei ihm ist es etwas anderes.«

    Das Rauschen verstummte. Kesselring sah aus dem Fenster. Draußen zeigten sich die sommergrünen Blätter in ihrer schönsten Pracht. Alles blühte. Und er saß hier im Büro. Den ganzen Tag, teilweise bis spät in den Abend hinein. Ein wahres Opfer. Dabei blieben seine Freunde, seine Frau, selbst sein ganzes Leben auf der Strecke.

    Hartmut wählte die Nummer die er im Schlaf auswendig konnte. Es läutete, einmal, zweimal. Dann wurde der Hörer abgenommen. »Van Geerden«, hörte er die Männerstimme. »Hallo Andreas. Ich sollte Dich anrufen. Was hast Du auf dem Herzen?« »Hallo Hartmut. Wie geht es Dir?« »He, Du rufst mich nicht an um mich zu fragen, wie es mir geht. Ich stecke bis zum Hals in einem Fall und komme nicht weiter. Und ich brauche jede Minute um mich vorzubereiten. Also, was gibt es wirklich?« »Stimmt, deshalb rufe ich nicht an. War nur so ne Art Small talk. Ich muss heute noch mit Dir reden. Es ist wichtig. Hast Du heute Abend Zeit für mich?«

    »Eigentlich wollte ich mir mal wieder einen netten Abend mit Karen machen. Was gibt es so wichtiges? Kann das nicht bis Morgen warten?« »Nein, kann es nicht! Es ist wichtig. Außerdem bist Du mein bester Freund.« Hartmut atmete tief durch.

    »Gut. Wenn Du mit der Freundschaftsmasche kommst, ist es sicher wichtig. Wann und wo?« »Schaffst Du es bis zwanzig Uhr? Dann könnten wir uns im Steakhaus in Wiesbaden treffen. Passt Dir das?« »Hab ich eine Wahl? Sicherlich nicht. Also um Acht in Wiesbaden. Jetzt muss ich mir nur noch was für Karen überlegen. Irgendeine Ausrede.« »Danke, Mann. Das werde ich Dir nie vergessen.« Mit einem Klicken endete die Verbindung.

    Kapitel 3

    Einige Minuten vor acht steuerte Hartmut seinen Porsche auf den Parkplatz vor dem Restaurant. Er hatte sich geärgert. Kaum war er in Frankfurt auf die Autobahn gefahren, stand er auch schon im Stau. »Eigentlich müsste ich mich langsam daran gewöhnen«, murmelte er. Aber er war trotzdem pünktlich. Er blieb noch kurz im Wagen sitzen. War es wirklich nur der Ärger, in einen Stau geraten zu sein? Ihm war heute alles auf den Magen geschlagen. Und jetzt hatte auch noch Karen, seine Frau, rumgemault. Er hatte ihr den Abend versprochen. Aber jetzt war es egal. Er war hier.

    Als er das Lokal betrat, sah er Andreas van Geerden schon an einem der hinteren Tische sitzen. Er winkte. Hartmut ging zu ihm, gab ihm die Hand und setzte sich. »Hallo Andreas. Was gibt’s denn so dringendes?« »Hallo Hartmut. Danke, dass Du Dir die Zeit für mich nimmst. Was willst Du trinken?« »Ein Bier.« Andreas winkte dem Kellner und gab seine Bestellung auf.

    »Also?«, erneuerte Hartmut seine Frage. »Wir werden uns heute zu letzten Mal sehen. Ich werde morgen verschwinden.« Stille trat ein. Hartmut kratzte sich nachdenklich am Kinn. Er musterte sein Gegenüber. »Du machst jetzt einen Scherz mit mir! Was heißt verschwinden? Urlaub?« Andreas schüttelte den Kopf.

    »Nein. Verschwinden heißt so viel wie weg. Weg von hier. Fort von Frankfurt. Einfach verschwinden.« Ungläubig lächelte Hartmut. »Und was sagt Deine Frau dazu?« »Das ist genau der Grund für meinen Anruf. Ute soll es nicht erfahren. Jedenfalls nicht vorher.« »Sag mal, tickst Du noch richtig. Du willst verschwinden und Ute vorher nichts sagen? Was ist in Dich gefahren? Hast Du Dich mal untersuchen lassen. Auf Deinen Geisteszustand, meine ich. Du bist doch durchgeknallt! Wie kommst Du denn auf so einen Unsinn?«

    »Was mich dazu treibt?«, fragte Andreas wie zur Bestätigung, »Ich kann einfach nicht mehr. Ich hab den ganzen Mist hier satt. Ich brauche meine Freiheit. Verstehst Du? Ich will einfach frei sein.«

    »Freiheit, mein Lieber, ist ein Hirngespinst! Es gibt keine Freiheit. Du wirst niemals frei sein!« Hartmut Kesselring nippte an seinem Glas. Einerseits konnte er das Streben seines Freundes verstehen. Aber andererseits konnte er nur den Kopf schütteln.

    »Wir beide«, fuhr er nach einer schöpferischen Pause fort, »wir sind uns doch einig, dass wir fast alles haben, was man sich mit einem normalen Gehalt kaufen kann. Wir sind, und da gibst Du mir sicher auch recht, die Bessergestellten im Leben. Wir beide haben alles. Du hast eine Menge Geld. Du kannst Dich als finanziell unabhängig bezeichnen. Und Deine Familie hat ein riesiges Haus. Dafür müsste ein Normalverdiener bestimmt vier Leben arbeiten. Ist das nicht Freiheit genug. Machen zu können, was Du willst? Warum willst Du dann um Himmels Willen noch mehr Freiheit. Und dann noch eins, Freiheit und Geld vertragen sich nicht. Um die gute finanzielle Situation zu erhalten, musst Du Dich ordentlich verbiegen und dann ist es ohnehin aus mit der Freiheit. Das ist nun mal der Preis, den wir dafür zahlen müssen.«

    Aus dem Dunkel des Raums trat ein Kellner an den Tisch. Behutsam stellte er zwei Gläser Bier auf den Tisch und verschwand. Die beiden Männer sahen ihm nach als wollten sie sich versichern, dass er auch wirklich außer Hörweite war. Andreas van Geerden nickte und schwieg. Er nippte an seinem Glas, nutzte die Gelegenheit um nichts sagen zu müssen. Er redete sowieso nicht gerne. Das spiegelte sich immer in den Gesprächen der beiden Freunde wider. Hartmut war da ganz anders. Er, der Jurist, war ein Redner vor Gott dem Herrn. Aber nun war die Stille das allumfassende und bestimmende Element im Raum. Die beiden Männer sahen sich an und keiner wagte es, die Stille zu unterbrechen.

    Schließlich brach Andreas den Bann des Schweigens: »Vielleicht drücke ich mich unverständlich aus«, versuchte er zu erklären, »Einerseits verstehe ich es ja selbst nicht und zweifele immer wieder an meinem Plan. Aber genau das ist es was mich beschäftigt. All die vielen Jahre seit unserem Studium, all die Augenblicke, die ich darauf verschwendet habe um meinem sogenannten Reichtum nachzurennen, ein Wohlstand der mich glücklich machen sollte und doch nur das Gegenteil davon bewirkte, scheinen mir heute wie ein Trugbild. Nie hat mich mein wachsendes Vermögen befriedigt, manchmal, und das muss ich zugeben, die Jagd auf den Reichtum schon, das schnell gewonnene Geld, dieser kurze Moment nach einem guten Geschäft, haben mich kurze Zeit zufrieden gestellt. Auch die Dinge die ich mir angeschafft habe, erwiesen sich als leicht verfliegende Glücksmomente und mit allem sitze ich nun hier und bin verzweifelt. Und was kann ich schon mit all dem Reichtum machen? Kann ich mir damit meine Freiheit kaufen? Ach Scheiße«, fluchte er plötzlich, »ich will einfach weg hier. Und Du sollst mir dabei helfen.«

    »Du spinnst doch!«, unterbrach ihn Hartmut, »Das ist meine ernst gemeinte Ansicht über Dich und Deinen momentanen Geisteszustand. Überdenke alles noch einmal und denke vor allem an Ute. Deine Frau hat ein Recht auf die Wahrheit. Da bist Du ihr schuldig. Steig eine Weile aus der Firma aus, schaffe Dir einen Freiraum oder flieg an den Arsch der Welt. Aber vergiss diesen Schwachsinn mit der Freiheit. Solche Hirngespinste stehen einem der reichsten Männer Frankfurt's nicht zu Gesicht. Wenn das jemand erfährt, hält er Dich für vollends durchgeknallt.«

    »Ach Hartmut, Du redest solch einen Quatsch. Geh hier durch den Raum und frage die Männer hier. Wenn einer dabei ist, der nicht schon mal so wie ich gedacht hat, nicht schon einen Plan im Kopf hatte, seine Freiheit wieder zu erlangen, bekommst Du von mir ein Bier. Jedem Menschen gehen solche Gedanken im Kopf herum, egal ob arm oder reich, ob Frau oder Mann. Das spielt dabei keine Rolle. Jeder Mann wäre gerne wieder so frei wie er früher war. Da gibt es keinen Unterschied. Der einzige Unterschied ist, manche trauen sich diesen Schritt zu gehen, andere machen sich vor Angst in die Hose. Und jetzt sag Du mir nicht, dass Du nicht auch schon solche Ideen hattest.«

    Wieder entstand eine Pause die sich schier unendlich dahinzog. Schließlich war es Hartmut der mit einem Räuspern den nächsten Satz begann und damit die Stille zerriss.

    »Dann mal raus mit Deinem Plan. Erzähl mir mal von Deinen verrückten Gedanken. Wie willst Du aus der Nummer rauskommen und endlich frei zu sein? Anscheinend bist Du Dir ja ziemlich sicher und hast Deine Entscheidung schon getroffen.«

    Andreas van Geerden nickte nur kurz und Hartmut konnte erkennen, dass sein Gegenüber versuchte, die geeigneten Worte zu finden. »Der Plan ist ganz einfach und unkompliziert. Ich verschwinde von hier und gut ist es.« Hartmut Kesselring sah seinen Freund unverständig an. »Und wo komme ich ins Spiel? Du hast gesagt, du brauchst meine Hilfe. Was ist mein Part?« Lange saßen die beiden Männer zusammen und rauchten, tranken und besprachen das Vorhaben. Da der Anteil Hartmuts nach einer halben Flasche Wein einfach als Freundschaftsdienst abgetan werden konnte, fiel ihm die Entscheidung zur Mithilfe leicht. Schwerer wog Andreas Forderung, auch seiner Frau Ute keine Silbe zu sagen. Es war fast Mitternacht als die beiden Männer mit einem leichten Gleichgewichtsproblem das Restaurant verließen, sich zum letzten Mal in den Arm nahmen und sich schließlich verabschiedeten. Ein Abschied, der für immer sein sollte.

    Kapitel 4

    Als der Wecker seinen zweifelhaften Dienst antrat, hatte Hartmut das Empfinden, sein Kopf würde gleich zerspringen. Blitzschnell noch im Halbschlaf und trotz der enormen Schmerzen traf seine Hand den Knopf des Weckers. Stille trat ein. Er lauschte in die Dunkelheit. Leise hörte er das Atmen seiner Frau. Karen schlief tief und fest. Sein Blick fiel auf die Kontur ihres Gesichts, das im spärlichen Licht des Zimmers erkennen konnte. Er rollte sich zur Seite und starrte auf das Display der Uhr, deren Leuchtziffern den Raum in ein erotisches, rotes Licht tauchten. Vier Uhr. Eine unwirtliche, zerstörerische Zeit, die dem Normalschläfer Angst und Schrecken einjagen konnte, einem Langschläfer wie Hartmut aber seelische Qualen bereitete. Er hatte gerade drei Stunden geschlafen und spürte noch die Wirkung des Alkohols den sie bis in die späten Stunden getrunken hatten. »So viel zur Freundschaft. Ich muss Dich sehr mögen, Andreas van Geerden, sonst würde ich jetzt nicht so einen Unsinn mitmachen«, murmelte er leise und schwang seine Beine über die Kante des Betts. Nun fielen ihm auch wieder Einzelheiten des dubiosen Vorhabens ein, die seine Mitarbeit nötig machten.

    Minuten später rauschte das Wasser mit mächtigem Druck durch die gemahlenen Kaffeebohnen und bald betörten der Geruch die Sinne Hartmuts. Ungeduscht trat Hartmut um siebzehn nach vier vor die Tür seiner Wohnung, stieg in seinen Porsche und fuhr nach Frankfurt-Sachsenhausen. Leichter Regen machte die Sicht durch die verschmierten Scheiben schwer. Alles schien wie eine späte Rache der getöteten Fliegen, die ihm jetzt, und das im buchstäblichen Sinn, vor Augen führten, dass er seine Scheibe öfter reinigen sollte. Seine trunkenen, alkoholgeschädigten Augen wollten sich partout nicht an die Reflexe, die die Lampen der Straßenbeleuchtung in den Regentropfen zauberten, gewöhnen. Er hatte das Gefühl, Schlangenlinien zu fahren. Dieses Empfinden schob er aber auf seine Angst vor der Polizei die bei einer Kontrolle seinen Cognacdunst sicher einen Meter gegen den Wind riechen würden. Aber trotz aller Schwierigkeiten erreichte er sein Ziel.

    Er parkte den Wagen etwas abseits und ging die wenigen hundert Meter bis zu seinem Einsatzort zu gehen. Der leichte Nieselregen durchnässte sein Haar und er spürte die ersten Tropfen über seinen Nacken rinnen. Er trug trotz des Wetters keine wasserdichte Jacke. Schon bei seiner morgendlichen Vorbereitung war ihm aufgefallen, dass er überhaupt keine richtige Regenjacke besaß. In seinem Leben brauchte er auch kein solches Kleidungsstück. Für die kurzen Strecken, die er zu Fuß ging, diese Distanzen beschränkten sich unter normalen Umständen nur auf den Weg von seinem Auto in irgendein Gebäude, brauchte er keine wasserdichte Kleidung. Da tat es auch ein ordentlicher Schirm.

    Auf keinen Fall wollte er sich auffällig kleiden. Schwarz schien ihm sehr passend und deshalb hatte er instinktiv zu einer schwarzen Jeans, einer Art Kleidungsstück das er eigentlich hasste, und einem dunklen, kurzärmeligen Hemd gegriffen. Eine schwarz-blau gemusterte Strickweste vervollständigte sein Outfit. In seinen Gedanken tauchten Bildfetzen aus billigen, tausendmal gesehenen Agententhrillern auf und mit jeder neuen Erinnerung wurden seine Schritte immer geschmeidiger. Gespenstig still war es um diese Zeit auf den Straßen einer Stadt von der man sagte, dass sie niemals schlief. Niemand kreuzte seinen Weg. Vielleicht lag es an der ungewöhnlichen Kühle, die in diesem August herrschte. Lang anhaltende Regenfälle hatten die Temperaturen sinken lassen, selbst die vorangegangenen Monate hatte das Wetterphänomen ‚El Niño‘ buchstäblich ins Wasser fallen lassen.

    Weniger als zwanzig Minuten hatte seine morgendliche Unternehmung gedauert als er Andreas von Geerdens Wagen vor sich stehen sah. Hartmut sah sich um, konnte aber noch immer keine Menschenseele auf der Straße erkennen. Lediglich von ferne rauschte der Verkehr der kilometerweit entfernten Autobahn und zerstörte die friedliche Stille.

    Er drückte auf den Knopf des Wagenschlüssels, den ihm Andreas am Vorabend zugesteckt hatte und mit einem Klicken entriegelte sich die Tür. Er warf seinen Pilotenkoffer auf den Rücksitz und legte seine Weste darüber. Ersatzkleidung hatte er in seinem Koffer dabei, denn so wollte er auf keinen Fall während einer Zugfahrt aussehen. Dieser Teil seiner Hilfe war für ihn sowieso mit der schlimmste. Ein erfolgreicher Anwalt wie er, würde mit dem gewöhnlichen Mob ein Zugabteil teilen müssen. Eine Vorstellung, die ihm Magenschmerzen bereitete. Sicherlich war er ein wenig abgehoben, aber er kannte die Menschen, hatte schon tausendmal Kontakt mit ihnen. Und er wusste, dass es eine dicke Schicht Abschaum in dieser Klasse gab. Diese einfachen Menschen machten ihm Angst. Deshalb versuchte er ihnen so wenige Reibungspunkte wie möglich zu bieten. Schon alleine die körperliche Nähe in den Zugabteilen machte ihm Angst. Natürlich hätte er einen Platz in der ersten Klasse reservieren können, aber Andreas und er hatten beschlossen, so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen. Also musste er sich mit dem gewöhnlichen Volk, den nach Alkohol riechenden Menschen, den pöbelnden Jugendlichen, im gleichen Zug die Zeit vertreiben. Aber wenigstens im Punkt Alkohol konnte er heute mit ihnen mithalten.

    Ein letzter Blick durch die menschenleeren Gassen und er stieg in den Wagen. Innerhalb weniger Sekunden rauschte er die Straße durch den noblen Vorstadtteil entlang. Ein letzter prüfender Blick zur Tür seines Freundes trieb ihm einen Schauer über den Rücken. Hatte Andreas im Schatten des Eingangs gestanden oder war es die sich langsam lösende Anspannung, die ihn schaudern ließ? So eine blöde Idee. Nie hätte er sich auf ein solches Unterfangen einlassen sollen. Kurz vor einer Autobahnauffahrt der A5 hielt er an und begann ins Navigationssystem des Mercedes den Zielort seiner Fahrt einzugeben. Sekunden später wusste er dass er in etwa 4 Stunden sein Ziel erreichen würde, nach 420 Kilometern Fahrt würde er erschöpft aus dem Wagen torkeln und nochmal so lange mit dem Zug zurück nach Frankfurt fahren. Er öffnete das Handschuhfach und sah, dass das Smartphone seines Freundes dort lag. Ein kurzer Druck auf den Bildschirm bestätigte, dass das Gerät eingeschaltet war. Es sollte schließlich, nach dem Verschwinden van Geerdens, der suchenden Polizei die Fahrtroute anhand den Sendemasten in den es sich eingeloggt hatte, preisgeben. Und alles wäre erledigt. Und Andreas endgültig verschwunden. Traurigkeit drückte sein Herz während er bei erstaunlich freier Fahrt die edle Karosse über die nächtlichen Straßen fliegen ließ. Gedankenversunken verrann die Zeit und schneller als er gedacht hatte, waren erste Schilder mit der Aufschrift »Grimma« zu sehen. Während die Menschen dort um ihre Habseligkeiten gegen das Hochwasser kämpften, sollte dies der Befreiungsschlag für seinen Freund sein. Grundsätzlich eine überlegte, trotzdem aber eine dumme Idee, um jemand oder etwas verschwinden zu lassen.

    Schon von weitem konnte Hartmut die Wassermassen erkennen, die das Flüsschen Mulde nun zu einem reisenden, alles verschlingenden Strom anschwellen hatten lassen. Dort sollte er Andreas Wagen in den Fluten versenken und mit ihm sollte Andreas von Geerden von der Bildfläche verschwinden.

    Schon im Vorfeld hatte Andreas alles vorbereitet, sein Terminkalender hatte einen Eintrag im angegebenen Gebiet. Konsequent geplant bis ins kleinste Detail, waren van Geerdens Worte gewesen. Monate hatte er damit verbracht immer wieder kleine Geldbeträge abzuheben, denn nach seinem ‚Tod‘ würden auch die Kontobewegungen untersucht werden.

    Und nach seinem Verschwinden sollte es Ute an nichts fehlen. Sie war die Alleinerbin eines Untoten und wäre finanziell mehr als abgesichert. Alleine seine Lebensversicherung belief sich auf eine halbe Million Euro. Außerdem hatte sie das Haus und ein Ferienhaus in Spanien. Also würde sie den Verlust verschmerzen können. Selbst an seine Unterlagen und seinen Laptop, die ja schließlich mit dem Wagen untergehen mussten, hatte er gedacht. Alles wasserdicht, so makaber das auch klang.

    Selbst den Ort an dem der Wagen untergehen sollte, hatte er festgelegt. Diesen Platz steuerte Hartmut nun an. Schon von weitem konnte er die Einsatzmannschaften erkennen, die ausgerechnet dort versuchten, eine Brücke vom Schwemmgut zu befreien. Er beobachtete die Menschen, den Bagger, der mit einem riesigen Greifer ausgerüstet war und so versuchte das Treibgut vor den wenigen freien Durchgängen der Brücke zu entfernen. Ein Kampf zwischen David und Goliath, wobei eindeutig der Fluss die besseren Karten hatte. Gewaltige Flächen waren von den unglaublichen Wassermassen bedeckt. Er konnte sich nicht erklären, wo so viel Wasser herkam. Masten der Überlandleitungen, Bäume, Zaunpfähle und Schilder ragten wie Mahnmale aus den Fluten und zeugten von der Unwichtigkeit der Menschen und der Allmacht der Natur.

    »So ein Mist« schimpfte Hartmut. Genau von dieser Brücke sollte der Wagen abkommen und in die reisende Mulde stürzen. Aber diese Möglichkeit war nun weg. Als ob das nicht schon dumm genug gelaufen wäre, tauchten auch noch zwei Einsatzfahrzeuge der örtlichen Feuerwehr auf, die mit lautstarkem Sireneneinsatz die Straße von dem Mercedes mit der fremden Nummer befreien wollten. Hartmut wendete den Wagen in einem Feldweg und ließ die Helfer vorbei, achtete dabei aber peinlichst darauf, sein Gesicht abzuwenden um nicht erkannt zu werden. Wie Nadelstiche spürte er die neugierigen Blicke der Sachsen auf seiner Haut. Kaum waren die beiden Fahrzeuge in der Ferne verschwunden, entspannte sich Hartmut wieder. »Na, das ist ja gerade noch mal gut gegangen!« Krampfhaft überlegte er, wie er den Plan doch noch zu einem guten Ende bringen konnte. Er schloss seine müden Augen und dachte nach. Müdigkeit versuchte ihn zu übermannen. Wie gerne hätte er auch nur einige Minuten den Schlaf über sich kommen lassen. Aber dann würde der sorgfältig ausgearbeitete Zeitplan durcheinander kommen.

    Ein Klopfen gegen die Seitenscheibe riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Spaziergänger mit einem über und über mit Lehm beschmierten Hund stand neben dem Wagen. Hartmut drückte den Knopf des Fensterhebers und öffnete die Scheibe. »Na, hier können Sie aber nicht stehen bleiben. Das ist verboten. Hier darf man nicht parken«, sagte der etwa fünfzigjährige Mann in tiefstem sächsisch. Hartmut hatte Mühe ihn zu verstehen. »Oh, danke«, antwortete er, »aber ich habe mich verfahren. Aber gut dass sie mir das gesagt haben!« Er schloss wieder das Fenster und grummelte nur das Wort: »Blödmann!« vor sich hin.

    Er startete den Motor und fuhr langsam rückwärts. Der Sachse blieb neben seinem klebrigen Hund stehen und sah ihm nach. Immer wieder drehten die Räder der Limousine durch, rutschten auf dem lehmverschmierten Asphalt des Feldwirtschaftsweges wie auf Glatteis hin und her. Angestrengt erreichte er die Straße die nach Naunhof führte und war froh, den Wagen wieder rollen lassen zu können.

    Nach zwanzig Minuten fand er schließlich eine geeignete Stelle. Verwundert sah er den Gegenständen nach die der Fluss mitgerissen hatte. Bäume, von denen noch die grüne Krone aus dem Wasser herausschaute, Holz und Möbel aus den überschwemmten Gebieten, ja selbst ein Wohnwagen hatten die Wassermassen mitgerissen. Langsam wurde es Zeit den Plan in die Tat umzusetzen und hier war nun der geeignete Platz dafür. Hier war das Ufer flach genug. Auch die Landstraße die hier in einiger Entfernung vorbeiführte, lag noch teilweise im überfluteten Gebiet. Und was mit am wichtigsten war, hier gab es weit und breit keine Menschen. Er hielt und atmete erst mal tief durch. Wieder kamen Gedanken an Andreas, Ute und an seine Operation in ihm auf. Operation, ja das hörte sich gut an. Sorgfältig wischte er alle Fingerabdrücke vom Lenkrad und nahm seine Sachen aus dem Wagen. Jetzt nur keine Spuren hinterlassen.

    Er stellte den Tempomat auf eine geringe Geschwindigkeit ein und stieg aus dem langsam fahrenden Wagen aus. Noch während das Fahrzeug langsam rollte, öffnete er die hintere Tür, griff nach seiner Jacke und dem Pilotenkoffer und schlug mit dem linken Bein die Tür wieder zu. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, folgte der Mercedes dem matschigen Feldweg. Nach etwa fünfzig Metern verließ er gemächlich seine Spur, geriet immer mehr auf das abschüssige Ufer und schließlich rutschte das Auto ins Wasser. Nie hätte Hartmut gedacht, dass das riesige Fahrzeug so schnell von den Wassermassen mitgerissen werden könnte und nach nur wenigen Sekunden war die ganze Fuhre in der Mulde verschwunden. Hartmut atmete erleichtert auf. Die Erleichterung dauerte aber nur wenige Augenblicke an, wich schlagartig aufkommender Panik als das Fahrzeugdach wie Phönix aus der Asche nun wieder aus den Wellen auftauchte.

    »Scheiße, ich hab vergessen die Fenster aufzumachen!« dachte er noch, während er dem schwimmenden Auto nachsah. Vor allem, wie konnte bei einem Unglücksfall der Fahrer aus dem Wageninnern heraus geschwemmt werden? Ein fataler Fehler im sonst so perfekten Plan.

    Ohne zu zögern griff sich Hartmut einen der umherliegenden Feldsteine und spurtete dem davon schwimmenden Wagen nach. Atemlos gelang es ihm auf die gleiche Höhe zu kommen, aber immer wenn er zum Werfen stehen bleiben musste, legte der Wagen scheinbar schlagartig an Fahrt zu und verschwand aus der Wurfdistanz. Resigniert blieb Hartmut stehen und blickt dem Wagen nach. Aus lauter Frust über seine fehlende Sportlichkeit schleuderte er den mehr als faustgroßen Stein in Richtung Auto und erstarrte. Unter mächtigem Geklirre zersprang die Rückscheibe in tausende, blinkende Stückchen und

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1