Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Tödliche Täuschungen: Ein Cornwall-Krimi
Tödliche Täuschungen: Ein Cornwall-Krimi
Tödliche Täuschungen: Ein Cornwall-Krimi
eBook318 Seiten4 Stunden

Tödliche Täuschungen: Ein Cornwall-Krimi

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Innerhalb weniger Tage sterben drei Frauen in Cornwall. Die erste Tote wird in einem Stausee im Bodmin Moor gefunden. Niemand kennt sie. Niemand scheint sie zu vermissen. Dann wird die arrogante Anna Russ ermordet, eine deutsche Touristin, die kurz nach ihrer Ankunft in Cornwall spurlos verschwunden war. Dominik, ihr Ehemann, soll sie erdrosselt haben. Hat er auch etwas mit dem Tod von Lavinia Wood zu tun, die dem deutschen Ehepaar ein Cottage vermietet hatte? Mary Shepard, die verbitterte Schwester von Lavinia Wood und eine skurrile Künstlerin, macht es Inspector McKoy nicht leicht, die Todesfälle zu klären. Sie möchte partout nicht, dass die Polizei der tödlichen Täuschung auf die Spur kommt, der sie und andere vor einem Vierteljahrhundert erlagen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum30. Juni 2014
ISBN9783847696049
Tödliche Täuschungen: Ein Cornwall-Krimi

Ähnlich wie Tödliche Täuschungen

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Tödliche Täuschungen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Tödliche Täuschungen - Marcelo Strumpf

    PROLOG

    St. Ives, im Sommer 1973

    Mist, Mist, Mist und nochmals Mist! Er wusste doch, dass ihm die blöde Kuh früher oder später Ärger machen würde. Und jetzt hatte er Ärger, mächtigen sogar. Becky hatte ihn dazu gebracht, sie zu töten!

    Da lag sie: ausgestreckt auf dem Fußboden des alten Strandhäuschens, den Kopf zur Seite gedreht, und atmete nicht mehr. Wahnsinn: Es war fast dieselbe Stelle, an der sie sich beide im letzten Sommer herumgewälzt hatten.

    Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie überrascht er gewesen war, dass Becky noch Jungfrau war. Immerhin hing ihr schon mit fünfzehn der Ruf nach, zu den frühreifen Mädchen an der High School zu gehören. Das war nichts anderes als eine höfliche Umschreibung für „Schlampe". Jeder an der Schule, ob Lehrer, Schüler und Eltern, wusste doch, dass Rebecca Hynes, die von allen einfach nur Becky genannt wurde, praktischen Aufklärungsunterricht betrieb und sich Mitschüler über vierzehn vorknöpfte, zumindest die sportlichen unter ihnen. Man hatte sogar gemunkelt, sie habe es mit Mr. Edwards getrieben, dem Sportlehrer. Aber das alles war wohl nur ein Gerücht, wie er dann herausfand. Becky konnte bis letzten Sommer mit niemandem Sex gehabt haben.

    Es geschah nach einer Sommerparty am Strand, nach zu viel Bier und zu viel Wein. Ob er tanzen wolle, fragte sie ihn, als aus dem scheppernden Kassettenrecorder „Nights in White Satin von Moody Blues erklang. „Wegen mir, antwortete er ihr lustlos. Und dann tanzten sie eng umschlungen, während er Beckys heißen, leicht säuerlich nach Bier riechenden Atem an seinem Ohr spüren konnte und ihren Unterleib, der sich gegen seinen presste. Und irgendwie hatte ihn das sogar ganz schön heiß gemacht, doch dann riefen seine Kumpels nach ihm.

    Er konnte sich noch sehr gut an jenen Spätnachmittag im letzten Jahr erinnern. Die Sonne war schon fast untergegangen und hatte den tagsüber blauen Himmel in ein glühendes Rot getaucht, als Jimmy, Mike und die anderen aus seiner Klasse losrannten. Sie wollten die tolle Brandung ausnutzen und surfen. Da war für ihn kein Halten mehr. Surfen war nun mal seine Leidenschaft. Und so ließ er Becky am Ende des Songs einfach stehen und war seinen grölenden Freunden hinterhergerannt.

    Er war als letzter in das Strandhäuschen angekommen, dessen weiße Außenfarbe vergilbt war und seit Jahren mehr und mehr abblätterte. Seine Freunde hatten ihre Bretter schon von den Ständern heruntergenommen und rasten an ihm vorbei aufs Meer zu, wo sie auf die perfekte Welle warteten. „Wartet auf mich", rief er ihnen noch hinterher, aber sie hatten ihn nicht mehr gehört. Dafür hörte er, wie die Tür hinter ihm geschlossen worden war und jemand den Riegel zuschob. Erst hatte er geglaubt, einer seiner Kumpel wäre zurückgekommen, um ihm einen Streich zu spielen und ihn einsperren zu wollen. Doch dem war nicht so. Denn als er sich umdrehte, konnte er Becky sehen, die in das Strandhäuschen hereingekommen war und ihn mit vor Lust fiebrigen Augen anschaute.

    „Was ist?", hatte er sie naiv gefragt, obwohl er ja genau sehen konnte, was sie wollte. Er war gerade dabei gewesen, seine Bermudashorts anzuziehen, und stand splitternackt da. Also musterte sie seinen nackten Körper von oben bis unten und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Statt zu antworten, hatte sie dann begonnen, sich wie eine Stripperin zu bewegen und ihre Bluse aufzuknöpfen. Und dann war auch schon ihr Minirock gefallen, und sie hatte nur noch in ihrem Slip vor ihm gestanden. Keine Frage, das hatte ihn ganz schön geil gemacht.

    Es war stickig in dem Strandhäuschen gewesen. Es hatte nach Teer und Schweiß und nach Beckys schwerem Patschuli-Parfüm gerochen, als sie sich auf den Holzdielen am Boden gewälzt hatten und er ungeschickt in sie einzudringen versuchte. Die Nummer hatte nicht lange gedauert, denn er wollte ja surfen gehen. Kaum war er gekommen, hatte er seine Shorts angezogen, sich das Surfbrett geschnappt und war hinausgelaufen. Wahrscheinlich hatte sie ihm wütend nachgeschaut, weil er sie einfach so da liegen ließ, ohne irgendetwas zu sagen.

    Trotzdem hatte sie ihn danach nicht mehr in Ruhe gelassen. War lästig wie eine Schmeißfliege gewesen. War ihm überall hingefolgt. Hatte ihm schwülstige Liebesbriefe geschrieben, die er nicht beantwortete, bis sie ihm dann vor ein paar Monaten erzählte, sie würde mit ihren Eltern aus St. Ives wegziehen. Ihr Vater wäre beruflich nach Devonshire versetzt worden. Leider nicht weit genug von Cornwall, hatte er da gedacht. Und doch: Gott, was war er erleichtert gewesen, als er von ihren Umzugsplänen wusste. Denn das bedeutete, dass sie ihn endlich in Ruhe lassen würde.

    Max schaute wieder hinunter auf den Fußboden, auf dem Becky regungslos lag. Jetzt würde er tatsächlich vor ihr Ruhe haben, denn sie war tot. Mausetot. Das hatte er doch nicht gewollt! Verdammt! Er hätte heute auf sein inneres Gefühl hören und sich nicht nochmal mit ihr treffen sollen. Aber, nein, er hatte sich von ihr weichreden lassen.

    „Sei kein Frosch, Max, hatte sie zuckersüß ins Telefon geflötet, als sie mittags bei ihm zu Hause anrief. „Du weißt doch, dass ich morgen wegziehe, und wer weiß, ob wir uns jemals wiedersehen. Da wird es doch wohl nicht zu viel verlangt sein, wenn wir uns nochmal treffen und uns voneinander verabschieden. So, wie es sich gehört, sagte sie vielsagend und ein wenig geheimnisvoll. „Außerdem dachte ich, es liegt dir ein bisschen was an mir", hatte sie dann weinerlich wie ein kleines Mädchen gesagt, obwohl sie sonst immer auf selbstbewusste Braut machte.

    Herrje, wie kam die dumme Pute nur darauf, sie würde ihm etwas bedeuten? Er hatte ihr doch klipp und klar gesagt, dass er sie zwar ganz nett fand, aber mehr auch nicht. Nie hatte er ihr etwas vorgemacht oder so getan, als würde er für sie etwas empfinden.

    Noch immer zitterten ihm alle Glieder. Er blickte wieder zu ihr herunter und hoffte inbrünstig, dass sie endlich wieder zu sich kommen und die Augen öffnen würde. Und dann ging er erneut in die Hocke und rüttelte an ihr, aber er konnte rütteln, so viel er wollte: Becky reagierte nicht. Scheiße!

    An allem war nur seine blöde Mutter schuld. Sie war doch ans Telefon gegangen, als Becky angerufen hatte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und konnte seinen Blick nicht von Beckys leblosem und ziemlich blassem Gesicht abwenden. Nur eine Minute später, und sie hätte ihn nicht mehr zu Hause erwischt. Doch das Telefon läutete genau in dem Augenblick, als er gerade zum Strand loswollte, um sein neues Surfbrett einzuweihen.

    „Max, es ist für dich. Becky, hatte seine Mutter gesagt und ihm den Hörer hingehalten. Er hatte Null Bock gehabt, mit ihr zu sprechen, und dies seiner Mutter sehr deutlich zu verstehen gegeben, indem er ihr eindeutige Handzeichen machte und Grimassen zog. Aber sie hatte nicht daran gedacht, für ihn zu lügen. Sie hatte die Augen verdreht, damit er endlich den Hörer nahm, den sie ihm gnadenlos hingehalten hatte. Insofern war es auch zwecklos gewesen, ihr zuzuflüstern, sie solle Becky sagen, er sei nicht da. Seine Mutter hatte ihn in diese Sache reingeritten, als sie sich wieder den Hörer ans Ohr gehalten und zu Becky gesagt hatte: „Warte, Liebes. Einen kleinen Moment. Max kommt gleich ans Telefon.

    Was hätte er tun sollen? Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als mit Becky zu sprechen. Erst hatte er ja noch versucht, Becky abzuwimmeln, indem er ihr vorgelogen hatte, er müsse noch für eine Prüfung lernen.

    „Ein halbes Stündchen wirst du doch wohl abzweigen können, oder?, hatte sie erwidert. „Lass uns im alten Strandhäuschen treffen. Du weißt schon wo, nicht wahr?. Dann hatte sie so albern gekichert.

    Natürlich wusste er nur zu genau, wo. Das Strandhäuschen, in dem sie es nach der Strandfete im letzten Sommer miteinander getrieben hatten. Es lag etwas versteckt hinter den Dünen. Und dort hatte sie ihn heute Nachmittag erneut verführen wollen, obwohl er ihr vor einem Jahr ganz klar zu verstehen gegeben hatte, dass es keine Wiederholung geben würde.

    Nicht, dass Becky unansehnlich war. Ganz im Gegenteil. Sie sah scharf aus in ihren sexy Klamotten. Auch heute war es so gewesen, mit ihrem engen schwarzen Pulli und ihrem Minirock, der ihre schönen Beine in voller Länge zeigte.

    Der Himmel war zugezogen, als er losgelaufen war, das Surfbrett unterm Arm. Ein starker Nordwind hatte geweht und ließ die Wellen des Atlantiks aufschäumen. Genau das richtige Wetter, um zu surfen, hatte er sich gesagt. Er wollte nicht lange bleiben, sondern nur kurz Hallo sagen, Becky alles Gute wünschen, und dann ab ins Meer.

    Doch sie hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie war schon da, als er hereinkam, und hatte auf einer alten Holzkiste gesessen und einen Joint geraucht. Zumindest hatte es im Strandhaus ziemlich stark nach Gras gerochen.

    „Schön, dass du gekommen bist. Kannst du dich an diesen Ort erinnern, mein süßer, strammer Max?" Die letzten Worte hatte sie herausgehaucht, um ihm zu zeigen, wie geil sie auf ihn war, aber für ihn hatte es nur dämlich geklungen. Ihre Micky-Maus-Stimme hörte sich nicht unbedingt sexy an, fand er. Dann, als sie von der Holzkiste aufgestanden und auf ihn zugegangen war, hatte sie ihn süffisant angelächelt. Sie war vor ihm stehen geblieben, hatte den Joint auf den Boden fallen lassen und ihn mit ihrer Stiefelspitze ausgedrückt. Und dann war sie über ihn hergefallen.

    Zur Salzsäule erstarrt, hatte er ihre feuchten, heißen Küsse über sich ergehen lassen und ihre Zunge an seinem Hals gespürt, während in seinem Kopf der Gedanke herumschwirrte, dass es sich für ein sechzehnjähriges Mädchen nicht gehörte, sich wie eine Nutte aufzuführen. Er fand das einerseits eklig, denn sie roch nach dem Joint und auch etwas nach Schweiß, aber irgendwie war er auch geil geworden. Doch als sie begonnen hatte, am Reißverschluss seiner Jeans herumzufummeln, war er wieder zur Besinnung gekommen.

    „Lass das, Becky!", hatte er sie angeschnauzt und dabei versucht, sich von ihrer Umklammerung zu lösen. Sie war wie ein Krake gewesen.

    „Komm schon, du willst es doch auch, Max, hatte sie ihm ins Ohr gehaucht. „Ein kleiner Abschiedsfick, damit ich dich in Erinnerung behalte und du mich.

    Aber er wollte nicht. Nein, er wollte keinen Sex mit ihr haben. Weder jetzt noch irgendwann. Vielleicht war es ja nicht normal für einen siebzehnjährigen Jungen wie ihn, dass er mit einem Mädchen nur schlafen wollte, wenn er es liebte, zumindest aber romantische Gefühle für es hegte. Und für Becky hatte er nun mal nichts übrig. Nach der schnellen Nummer im letzten Sommer wusste er, dass er nie wieder nur einfach so Sex haben wollte. Irgendwie fand er sie sogar abstoßend. Nicht ihr Aussehen, nein, dagegen war ja, wie gesagt, nichts einzuwenden. Aber ihre ganze Art und ihre billige Ausstrahlung und auch ihre nasale Stimme. Wahrscheinlich hatte sie Polypen. Und dann ihre ordinäre Art zu sprechen. Die war doch völlig daneben! „Abschiedsfick. Wie konnte sie nur so etwas sagen? Widerlich, ihre Anspielung auf seine Penisgröße, wenn sie ihn „mein strammer Max nannte. Das hatte sie sogar in der Schule getan. Wofür hielt sie ihn eigentlich? Immerhin hatte er sie doch auch nicht auf ihre großen Titten reduziert und Miss Big Tits genannt, so wie es viele seiner Mitschüler taten, die Stielaugen bekamen, wenn Becky in einem ihrer hautengen T-Shirts in die Klasse kam. „Wie kommst du nur darauf, dass ich dich in Erinnerung behalten will", hatte er ihr dann geantwortet, in der Hoffnung, sie würde beleidigt gehen.

    Aber Becky hatte sich auch davon nicht beirren lassen, sondern ihm dann einfach zwischen die Beine gefasst. Als aber ihre Finger spürten, dass er wirklich keinen Bock auf sie hatte, da schaute sie ihn für einen kurzen Moment fast ungläubig an. Und danach hatte sie fies gelächelt.

    Erst nahm er an, sie würde gleich irgendeine dämliche Bemerkung machen. Doch dem war nicht so gewesen. Statt überhaupt etwas zu sagen, war sie vor ihm in die Hocke gegangen, um wieder am Reißverschluss seiner Jeans zu fummeln. Und genau in dem Moment hatte er sie in ihrem Vorhaben, ihm einen blasen zu wollen, gebremst und sie angeschrien: „Stopp! Lass das, habe ich gesagt. Ich will nicht! Kapier das doch endlich! Ich muss jetzt weg. Mach’s gut." Kaum hatte er sich umgedreht, um aus der Tür zu gehen, hörte er ihre schrille Stimme.

    „Max! Wag es ja nicht, mich hier stehen zu lassen! Du willst nicht? Ich glaube wohl eher, du kannst nicht. Kriegst keinen mehr hoch, oder was? Du elender Schlappschwanz! Bist wohl in Wirklichkeit schwul, oder was? Dann hatte sie ihn ausgelacht. Es war ein schrilles Lachen gewesen, das sich in ein endloses Gackern verwandelte. Sie hatte einfach nicht aufgehört zu lachen, bis sie einen Schluckauf bekam, in den sich ihr keifendes „Schwuli! Schlappschwanz! Schwuli! Schlappschwanz! mischte.

    Sie hatte ihn so wütend gemacht, dass er nicht anders konnte, als wieder auf sie zuzugehen und ihr eine zu brettern. Es war keine kräftige Ohrfeige. Eher wie ein Klapps auf den Po. Becky war aber vor Schreck einen Schritt zurückgetreten und hatte ihn mit ihren katzengrünen Augen erschrocken angeschaut.

    Natürlich hatte er es sofort bereut, ihr eine runtergehauen zu haben, und wollte sich bei ihr entschuldigen, doch dazu war er gar nicht gekommen. Becky fand rasch die Sprache wieder.

    „Ach so… Du liebst also die harte Tour, mein jetzt nicht ganz so strammer Max. Nun, das kannst du gerne haben!" Und dann hatte sie sich erneut auf ihn gestürzt.

    „Aua! Du blöde Kuh!", hatte er schmerzerfüllt gerufen, als er ihre rotlackierten Fingernägel brennend im Gesicht spürte.

    Becky war nicht mehr zu bremsen gewesen. Sie schien, Blut geleckt zu haben, und war dann erst so richtig zum Angriff übergegangen. „Entweder du machst es mir jetzt, oder ich erzähle überall herum, dass du mich vergewaltigen wolltest." In ihrem Gesicht war unverkennbar der Ausdruck von Entschlossenheit gewesen. Sie bluffte nicht. Nein, sie meinte es ernst. Sehr ernst. Und genau das war ihr großer Fehler. Sie hätte ihm nicht drohen dürfen.

    „Du spinnst ja", hatte er geantwortet und sie verärgert von sich weggestoßen, diesmal ziemlich heftig sogar. Er hatte noch mitbekommen, dass sie wohl noch irgendetwas sagen wollte, aber dazu war sie nicht mehr gekommen. Becky war nämlich trotz ihrer Stiefel mit den hohen Plateausohlen ein Kopf kleiner als er und weitaus leichter, so dass sie gestolpert war, als er sie geschubst hatte. Und dann war sie rücklings hingefallen und mit dem Kopf auf die Holzplanken geschlagen. Oder noch schlimmer: auf eine der verrosteten Stangen, die irgendjemand hier hingelegt hatte.

    Erst hatte er sich ja nichts weiter dabei gedacht, als er sah, dass sie sich nicht rührte. Er war sicher gewesen, sie würde sich gleich wieder aufrappeln und ihn noch giftiger als vorher anschreien. Aber Beckys Augen blieben geschlossen. Sie machte keinen Mucks. Da ergriff ihn natürlich Panik. Sofort war er in die Hocke gegangen und hatte ihren Kopf auf äußere Verletzungen untersucht, aber nichts entdecken können. Kein Blut, rein gar nichts. Nicht mal ein Kratzer war zu sehen. Dann schüttelte er sie und rief „Becky, Becky, wach auf!". Doch die blöde Kuh reagierte einfach nicht. Als seine Panik sich in Entsetzen verwandelt hatte, erwog er, loszustürzen und Hilfe zu holen. Aber das erschien ihm dann doch keine so gute Idee. Bestimmt würde sie dann erst recht behaupten, er habe sie vergewaltigen wollen. Und wer würde ihr nicht glauben? Mädchen glaubte man doch immer. Sie waren doch das schwache Geschlecht. Da war es doch besser für ihn, wenn sie tot war. So konnte sie wenigstens keine Lügengeschichten über ihn erzählen.

    Aber, was sollte er tun, wenn man sie fand? Und das würde man ja, früher oder später. Seine Mutter wusste doch, dass er sich mit ihr verabredet hatte. Dennoch: Sollte er jetzt etwa zu seiner Mutter gehen und sagen: „Becky wollte mich verführen, ich habe sie nur geschubst, und dabei ist sie gestolpert, unglücklich gefallen, und nun ist sie tot"? Wer würde ihm diese Geschichte abkaufen? Niemand. Nicht mal seine Mutter. Sie, mit ihrem Gerechtigkeitssinn, würde ihm womöglich in den Ohren liegen, sofort zur Polizei zu gehen und sich zu stellen. Und was dann passieren würde, das konnte er sich ausmalen. Noch dazu mit diesen brennenden Kratzern in seinem Gesicht, die Becky ihm vorhin verpasst hatte. Man würde die Kratzer unweigerlich als Indiz für einen Kampf sehen. Becky habe sich gewehrt, als er sie vergewaltigen wollte, würde man behaupten. Mist! Er steckte ziemlich tief in der Klemme.

    Trotz der Ausweglosigkeit, die für ihn immer bedrohlichere Ausmaße annahm und die mit einem Gefühl der Beklemmung einherging, hatte er plötzlich eine Idee. Der Stress ließ ihn auf einmal ganz klar denken und verwandelte sich in eiskaltes Kalkül. Sein noch immer von der Aufregung gerötetes und verschwitztes Gesicht bekam jetzt einen gelösten, ja, fast entspannten Ausdruck. Er wusste, was er jetzt tun musste.

    Mit einem siegesbewussten Lächeln, das zugleich Zufriedenheit und die Überzeugung ausdrückte, das Richtige zu tun, und einem genialen Plan im Kopf verließ Max das Strandhaus, in dem Rebecca leblos auf dem Boden lag. Vorher aber sollte noch sein neues Surfbrett zum Einsatz kommen.

    Tag 1

    Samstag, den 2. Mai 1998

    Seit sie die Autovermietung am Flughafen von Plymouth verlassen hatten, war aus den neu entfachten Spannungen eine unüberwindbare Mauer aus unterdrückten Aggressionen gewachsen. In Dominik rumorte der Groll, vor allem auf sich selbst, weil er Anna nachgegeben und dann doch den protzigen Jaguar genommen hatte, statt den von ihm ursprünglich reservierten Mittelklassewagen. Das war typisch für sie, dachte er. Sie war immer so auf Äußerlichkeiten bedacht. Und er durfte das ausbaden und jetzt zusehen, wie er mit so einem Schlitten auf den einspurigen Landstraßen zurechtkam, noch dazu bei dem für ihn ungewohnten Linksverkehr.

    „Bist du sicher, dass dies der richtige Weg nach Cornwall ist?. Anna, die auf der Rücksitzbank saß und die ganze Zeit über laut raschelnd in ihrer Modezeitschrift geblättert hatte, während sie nur einmal zynisch die „ach so zauberhafte Gegend kommentiert hatte, meldete sich wieder zu Wort. Mit ihrem arroganten Tonfall, den er auf den Tod nicht ausstehen konnte.

    „Ja, Milady, das ist der richtige Weg", sagte er sarkastisch und kam sich tatsächlich wie ihr Chauffeur vor. Wie ein Bediensteter. Ein Lakai.

    „Also, ich weiß ja nicht, sagte sie noch immer von oben herab. „Mir scheint, du hast dich verfahren. Wir hätten doch schon längst da sein müssen – Miss Wilcher. Sie lachte laut und gekünstelt. Es klang scheppernd, wenn sie lachte.

    Auch dafür hasste er sie. Seit er ihr vor Jahren erzählt hatte, er würde sich wegen der tollen Landschaften Cornwalls gerne die Fernsehfilme anschauen, die nach Rose Wilchers Erzählungen in Cornwall gedreht wurden, verspottete sie ihn damit. In letzter Zeit hatte sie nicht mal gezögert, vor den wenigen gemeinsamen Freunden ihn Rose oder – wie jetzt eben – Miss Wilcher zu nennen.

    „Anna, lass dir mal was Neues einfallen. Dieser Gag ist mittlerweile so fahl wie abgestandenes Bier", sagte er und konzentrierte sich wieder auf das Fahren. Vielleicht stimmte es sogar, und er hatte sich tatsächlich verfahren. Gut möglich, dass er irgendwo ein Hinweisschild übersehen hatte.

    Die Besitzerin von »Lavinia’s Cottages«, einer Agentur, die Urlaubsdomizile in Cornwall vermietete, hatte ihn mit einer Wegbeschreibung versorgt und erklärt, er würde mit dem Auto von Plymouth höchstens eine halbe Stunde bis zum Cottage an der Bucht von Talland Hill benötigen. Jetzt waren sie schon fast eine Stunde unterwegs. Und mindestens genauso lange regnete es schon.

    Der Mai-Himmel war so grau und wolkenverhangen wie heute früh, als sie von Berlin losgeflogen waren, und schien die Landschaft gänzlich verschluckt zu haben. Nur ab und an sah man vereinzelt Häuser und dahinter sanft geschwungene grüne Hügel, während sie durch einen milchig undurchsichtigen Schleier aus Nebel und Nässe fuhren.

    „Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich von dir habe breitschlagen lassen, ausgerechnet in England Ferien zu machen, in einem Land, in dem es ständig regnet, es das schlimmste Essen auf der Welt und die am schlechtesten gekleideten Menschen gibt", stichelte sie von neuem. Annas gehässiger Tonfall machte deutlich, dass sie partout streiten wollte. Sie hatte ihre Zeitschrift zur Seite auf den Sitz gelegt und beschlossen, ihn auf die Palme zu bringen. Und sicherlich hätte sie sich ins Fäustchen gelacht, wenn sie seine angeschwollene Stirnader gesehen hätte. Denn das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass er, ein, wie sie fand, immerfort beherrschter Langweiler, kurz davor stand, aus der Haut zu fahren. Aber sie bekam es nicht mit. Sie war auf einmal damit beschäftigt, ihr sowieso schon tadelloses Äußeres nachzubessern. Daher sah sie auch nicht seine dunkelbraunen Augen, die im Rückspiegel jede ihrer Handbewegungen beobachteten. Wie sie ihr leuchtend kupferrotes Haar kämmte, das sie schulterlang trug und einen perfekten Kontrast zu ihrem blassen Teint und ihren smaragdgrünen Augen bildete. Und wie sie dann ihre langen Wimpern dick tuschte. Seine Wut auf Anna begann sich in Ratlosigkeit und in Erstaunen zu verwandeln.

    Wie wenig doch ihr hässlicher Charakter zu ihrem schönen Äußeren passte, dachte er. Obwohl er sich auf die Fahrtrichtung zu konzentrieren versuchte, sah er im Rückspiegel, wie sie ihren Lippenstift aufdrehte und eine frische Schicht auflegte. Vor Jahren, als er sie auf einer Party bei gemeinsamen Freunden kennengelernt hatte, hatte sie kaum Make-up benutzt, bis auf den feuerroten Lippenstift, der ihren sinnlichen Mund betonte. Wann hatte er ihre Lippen eigentlich das letzte Mal geküsst? Er wusste es nicht mehr, und es spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Denn er hatte ohnehin keine Lust, Anna zu küssen. Am liebsten hätte er jetzt eine Vollbremsung gemacht. Es hätte ihm bestimmt gut getan, sich anschließend zu ihr umzudrehen, um in ihr vom Lippenstift verschmiertes Gesicht zu blicken und sie an den Grund dieser Reise zu erinnern.

    „Nicht du hast dich breitschlagen lassen, mit mir in England Urlaub zu machen, hätte er zu ihr gesagt, „sondern ich habe mich von dir überreden lassen. Du warst es, die eine gemeinsame Cornwall-Reise vorgeschlagen hatte. Diese Reise sollte dein Liebesbeweis sein. Eine Wiedergutmachung für deinen Seitensprung vor einem halben Jahr. Das hast du wohl schon wieder vergessen, nicht wahr, liebste Anna?.

    Dass sie ihn betrogen hatte, hatte er mehr oder weniger durch Zufall herausgefunden. Wie in einem schlechten Film war er sich damals vorgekommen.

    Er sollte für sie einige Kleidungsstücke in die Reinigung bringen, und dort hatte die Angestellte in der Seitentasche einer Kostümjacke von Anna ein Blatt Papier gefunden und es ihm gegeben. Zunächst hatte er sich nichts weiter dabei gedacht, als er sah, dass es sich um eine Hotelrechnung handelte. Anna war ja beruflich viel unterwegs und übernachtete daher oft in Hotels. Als Gebietsleiterin im Außendienst eines Schweizer Pharmaunternehmens besuchte sie Apotheken und Arztpraxen in Berlin und im Norden Deutschlands. Doch die Rechnung war von einem Hotel in Weimar. Und Weimar lag ja bekanntlich in Thüringen, also im Süden. Wieso war sie in Weimar gewesen? Und wenn der Trip dienstlich gewesen war, dann hätte sie keine Rechnung bekommen, sondern die Swiss Pharma, die für ihre Außendienstmitarbeiter die Zimmer buchte und bezahlte. Was ihn vor allem stutzig gemacht hatte, war, dass die Hotelrechnung nicht nur auf den Namen Anna Russ ausgestellt worden war, sondern auch auf seinen eigenen Namen. Auf der Rechnung stand Dominik und Anna Russ. Anna und er waren aber nie zusammen in Weimar gewesen.

    Noch am selben Abend, als sie von einer Tagung nach Hause zurückgekommen war, hatte er sie zur Rede gestellt. Zuerst war sie patzig geworden und schnauzte ihn an. Was ihm denn eigentlich einfiele, ihre Kleidung zu durchsuchen. Ob er schon mal etwas von Privatsphäre gehört hätte. Sie war in Fahrt gekommen und hatte ihm eine ihrer berühmten Szenen machen wollen, doch er nahm ihr schnell den Wind aus den Segeln, indem er ihr seelenruhig erklärte, wie und wo er die Rechnung gefunden hatte. Und da war sie sofort kleinlaut geworden und hatte ihre Strategie geändert. Sie begann eine Show abzuziehen und zu weinen. Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich, denn Anna gehörte nicht zu den Frauen, die nah am Wasser gebaut waren oder zu Hysterie neigten. Daher hatte er keinen Zweifel, dass ihre Tränen Ausdruck aufrichtiger Reue waren.

    Heute wusste er, dass er sich nicht von

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1