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Die Schuld
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eBook398 Seiten5 Stunden

Die Schuld

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Über dieses E-Book

Ein einziger Augenblick verändert radikal und unwiderruflich das Leben des Architekten Michael, das bis dahin wohlgeordnet und gradlinig verlaufen ist. Er vernachlässigt seine Familie, stößt Freunde vor den Kopf und droht auch beruflich ins Abseits zu geraten. Eine Gruppentherapie soll Abhilfe schaffen. Michael gibt seine quälenden Albträume als Grund an, diese zu beginnen. Es ist noch ein weiter Weg, bis er sich endlich mit seinem wirklichen Problem zu konfrontieren wagt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum25. Dez. 2018
ISBN9783742710291
Die Schuld

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    Buchvorschau

    Die Schuld - Reinhold Neef

    Reinhold Neef

    Die Schuld

    Roman

    Buch

    Mit einer feinen Wahrnehmung für menschliche Empfindungen und Beweggründe schildert Reinhold Neef in diesem psychologisch-philosophischen Roman die Konfrontation des Protagonisten mit einem singulären existenziellen Ereignis, das jeden Bewältigungsversuch zum Scheitern zu verurteilen scheint.

    Autor

    Reinhold Neef, Jahrgang 1949 lebt und arbeitet in Frankfurt.

    Nach Fachveröffentlichungen und Kurzgeschichten legt er nunmehr seinen ersten Roman Die Schuld vor.

    Auf dem Weg vom Theologiestudenten zum Lehrer, vom Lehrer zum Berater und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten begleitete ihn das Thema seines ersten Werkes. Berufliche und persönliche Auseinandersetzungen mit existenziellen Themen ließen in ihm den Plan zum vorliegenden Buch reifen.

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    Frankfurt am Main, September 2009

    Umschlagentwurf: Iris Rosebrock, Frankfurt am Main

    Architektonische Visualisierung: Ulrich Domnick, Frankfurt am Main, www.udomnick.de

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    Kapitel 1

    Die Luft, es war einfach zu wenig Luft drin. Da er sich aber nicht ganz sicher war, warf er den Ball noch einmal mit aller Wucht auf den Boden und er prallte unzweifelhaft nicht so zurück, wie Mischa es kannte. Er presste ihn abermals gegen seinen Körper, um sich des genügenden Innendrucks zu vergewissern, aber der Ball gab einfach zu sehr nach. Nun gut, dieses Problem war einfach zu lösen. Er schloss die Haustür auf, ging durch den Flur zur Kellertür, die Treppen hinunter, schaltete noch schnell im Vorübergehen das Licht ein und blieb vor dem Regal stehen, in dem seine Fußballsachen lagen. Aber es war wie immer, er musste einige Zeit suchen, bevor er die Pumpe fand. Sie hatte sich wieder einmal unter seiner schwarz-silbernen Sporttasche versteckt, deren Säume mit neongelbem Kunststoff ummantelt waren. Er war ungemein stolz auf seine Tasche; sie war ein Geschenk seiner Eltern zu seinem zwölften Geburtstag vor zwei Monaten. Nicht nur, dass sie auffällig war und bisher noch jeden aus seiner Mannschaft zu einem schmeichelhaften und neidischen Kommentar herausgefordert hatte, sie trug auch noch in großen nicht zu übersehenden Lettern den Namen des Spielers, der sein Idol war und dem er, seitdem er Fußball spielte, nachzueifern trachtete. Doch da fiel ihm ein, was sein Vater immer sagte: »Die Pumpe versteckt sich nicht von selbst, du bist einfach schludrig!« Und natürlich hatte sein Vater wie so oft recht, er hatte sie in einem großzügigen Bogen vor geraumer Zeit ins Regal geworfen und dann einfach seine Trikots, die Hosen und etliche andere Utensilien darüber gelegt.

    Er nahm die Pumpe zur Hand, setzte sie an dem Ventil auf dem Ball an und füllte ihn kräftig mit Luft, bis ihm vor Anstrengung die Puste ausging und sich die Pumpe kaum noch bewegen ließ. Er legte sie zurück auf das hölzerne Regal, dieses Mal neben die Sporttasche, und warf den Ball erneut fest auf den Boden. Dieser prallte fast bis zur Decke hoch, haarscharf an der nackten Glühbirne vorbei, prallte noch mehrmals auf dem Boden auf und Mischa nahm mit Zufriedenheit zur Kenntnis, dass dieses Problem gelöst war – mit einem schlaffen Ball konnte man einfach nicht trainieren. Immerhin war er der Kapitän seiner Mannschaft und für die Pflege und Instandhaltung des Balles zuständig; eine Aufgabe, die er mit seinen zwölf Jahren in einem Maße ernst nahm, die ganz im Gegensatz zu der von seinem Vater permanent bemängelten Unordnung stand. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sein Vater möglicherweise Befriedigung daraus erlangte, dass sein Sohn ihm ständigen Anlass zur Kritik gab und er eigentlich gar nicht wollte, dass Mischa sich die väterlichen Ermahnungen zu Herzen nahm. Dennoch ging ihm die ständige Nörgelei zunehmend auf die Nerven.

    Wenigstens beim Fußball, auf dem Platz mit dem Trainer und seinen Mitspielern, hatte er seine Ruhe; folglich war dies neben der Lust am Spiel und am Training ein weiterer Grund, so oft, wie es nur ging, das elterliche Haus hinter sich zu lassen und zum nahe gelegenen Stadion zu eilen.

    Doch war sein Vergnügen seit einiger Zeit nicht mehr ungetrübt, und er wollte die Erkenntnis beiseiteschieben, dass er auch beim Fußballspielen und im Verein ein größeres Problem hatte, als er wahrhaben wollte.

    Mischa überlegte, wie der ganze Wirrwarr eigentlich angefangen hatte. Er war häufig auf dem Platz gewesen und hatte seine spielerischen Fertigkeiten in einem Maße verbessern können, dass es dem Trainer einfach auffallen musste. Jede freie Minute hatte er dort verbracht, sommers wie winters, sogar bei Regen drehte er mit einem wasserdichten Umhang seine Runden, kämpfte dabei gegen den Wind, der gegen den zu großen und zu weiten Überwurf blies und ihn wie ein Segel aufblähte. Trotz des Regens freute er sich über solche Gelegenheiten, da er gegen ein Hindernis anlaufen und im Spiel mit dem Wind seine Kräfte messen konnte. Oft hatte seine Mutter ihn danach gescholten, weil er triefend vor Nässe nach Hause kam und des Öfteren mit einem Schnupfen im Bett landete.

    Doch es trieb ihn immer wieder zum Spielfeld, er wollte einfach der Beste sein. Stundenlang dribbelte er um lediglich gedachte Hindernisse auf dem Rasen, die seine reichhaltige Fantasie dort hingestellt hatte. Keines davon durfte er berühren, geschweige denn den Ball verlieren. Er hob ihn dann auf, ging wieder an den Anfang seiner unsichtbaren Hinderniskette zurück, begann erneut seinen Lauf und gab sich erst dann zufrieden, wenn er mit großem Geschick und unter dem Beifall der ebenfalls unsichtbaren Zuschauer den Parcours perfekt absolviert hatte.

    Oft ging er zum Abschluss seines persönlichen Trainingsprogramms zu der am Spielfeldrand abgestellten Torwand und versuchte, mit dem Ball durch das kleinere der beiden Löcher hindurch zu schießen. Er nahm sich vor, dass ihm das mindestens fünfmal in Serie gelingen müsse, bevor er zur nächsten Übung übergehen konnte. Nach einem dreiviertel Jahr gelang es ihm endlich und das sogar mehrere Tage hintereinander. So konnte er zum nächsten Schritt übergehen, einen Treffer ins untere Loch der Torwand und einen ins obere, immer abwechselnd. Ein Schuss gegen die Wand ließ ihn von vorne anfangen – solange bis es ihm ebenfalls fünfmal hintereinander glückte. Durch seine Vorübungen gelang ihm das schon nach dreieinhalb Monaten.

    Neben seinen einsam auf dem Platz verbrachten Stunden gab es natürlich auch noch die Zeiten mit der Mannschaft und mit dem Trainer, den er grenzenlos bewunderte. Das war ein Mann, wie er sich seinen Vater gerne vorstellte. Nie nörgelte er an Mischa herum, er glaubte an ihn und er traute ihm etwas zu, er spornte ihn an, führte ihn an seine Grenzen. Sein Standardspruch beim Training mit Mischa lautete: »Das kannst du noch besser!« Und tatsächlich ließen das Zutrauen und die Zuversicht des Trainers ihn zunehmend besser werden.

    Dabei war es keineswegs einfach gewesen, Mitglied im Fußballverein zu werden; seine Eltern waren strikt dagegen gewesen. Sein Vater brummelte etwas von der vordringlichen Wichtigkeit der Hausaufgaben und den schlechten Schulnoten. Das wiederum fand Mischa gemein, hatte er doch im letzten Halbjahreszeugnis lauter Dreien vorweisen können. Seine Mutter stimmte – wie so oft und sehr zu Mischas Verärgerung – seinem Vater zu und enttäuschte ihn damit immer wieder aufs Neue; hatte er doch gehofft, dass sie die Strenge des Vaters etwas abmildern würde. Dennoch ließ er nicht locker. Er wollte unbedingt – einem inneren starken Impuls gehorchend – Fußball spielen. Und so versuchte er mit seinen Eltern ein Abkommen zu treffen. Er sei bereit, so schlug er ihnen nach etlichen Auseinandersetzungen, nach Tränen und zugeschlagenen Zimmertüren vor, einen Großteil seines Taschengeldes für den Mitgliedsbeitrag abzuzweigen und einen privaten Stundenplan vorzulegen, in dem genauestens geregelt sei, wie viel Zeit er seinen aus dem Schulbesuch resultierenden Verpflichtungen und wie viel Zeit er seinem Hobby einräumen wolle. Überraschenderweise stimmten seine Eltern – und dieses Mal sogar sein Vater – seinem Plan zu; er glaubte, es seiner Hartnäckigkeit zu verdanken. Gleichwohl war es durchaus auch möglich, dass beide den wochenlangen Streit satt hatten und endlich ihre Ruhe haben wollten. Nicht nur, dass sie in sein Vorhaben einwilligten, sie boten ihm sogar an, dass sie den Beitrag entrichten würden.

    Mischa traute dem ganzen Frieden noch nicht wirklich, aber am nächsten Tag lief er sofort nach Schulschluss zum nahegelegenen Vereinshaus und wollte sich dort anmelden. Kaum hatte er voller Aufregung und vom schnellen Laufen atemlos geworden das Vereinsbüro betreten, wurde er auch schon abrupt in seinem Vorhaben gebremst. Der Mann hinter dem Schreibtisch klärte ihn nämlich erst einmal auf, dass er lediglich seine Daten auf einem Anmeldeformular eintragen könne, zur Rechtsgültigkeit des ganzen Vorgangs jedoch die Unterschrift mindestens eines Erziehungsberechtigten erforderlich sei. Mischa verstand kein einziges Wort, nicht nur, weil der Mann Vokabeln gebrauchte, die er noch nie zuvor gehört hatte, sondern eher, weil es ihm vor Enttäuschung kaum möglich war, auf das zu achten, was sein Gegenüber ihm mitteilen wollte. Ihm wäre es am liebsten gewesen, er hätte sein Geld über den Tisch gereicht und der Mann hätte ihm auf der Stelle seinen Mitgliedsausweis ausgehändigt, so drängend war sein Wunsch. So aber fühlte er sich jäh aus seiner guten Laune gerissen, es rauschte ihm in den Ohren, er verwendete seine ganze Energie darauf, die in ihm aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, nein, er wollte nicht, dass dieser ihm fremde Mann sehen konnte, was in ihm vorging. Nachdem er seine Fassung wiedergefunden hatte, fragte er erneut nach, brachte sein Unverständnis zum Ausdruck und erhielt dieses Mal eine Auskunft, die aus in seinem Vokabular vorkommenden Worten bestand.

    Er griff sich das Formular, rannte einen kurzen Abschiedsgruß über die Schulter werfend zur Tür hinaus und so schnell er konnte nach Hause. Dort präsentierte er voller Stolz den Bogen, füllte ihn zusammen mit seiner Mutter aus. Es geschah in einem ernsthaften Akt voller Bedeutsamkeit und Erhabenheit. Er hatte das Formular sorgfältig auf den Tisch gelegt, kein Knick, kein Fleck durfte seine Schönheit schmälern. Obenauf prangte das weiß-gold-rote Wappen des Vereins und darunter stand in verschnörkelter Fraktur dessen Name. Er holte seinen Füller aus seinem Zimmer, kam zurück in die Küche und probierte auf einem neutralen Blatt Papier aus, ob der Füller einen sauberen Strich hinterließ und auf keinen Fall kleckste. Er schrieb in jede Zeile das Erforderliche. Bei Angaben, die er nicht verstand, half ihm seine Mutter, die zum Schluss den Aufnahmebogen unterschrieb. Er schaute noch einmal darüber, um ganz sicher zu gehen, dass der Bogen sowohl sorgfältig als auch vollständig ausgefüllt war. Als er wieder losgehen wollte, hielt seine Mutter ihn kurz zurück, drückte ihm einen Geldschein in die Hand: »Für deinen ersten Beitrag, der Rest ist für dich.« Überglücklich steckte er den Schein tief in seine Hosentasche und eilte zum Vereinshaus zurück.

    Der Mann vom Verein wollte eigentlich schon gehen, hatte den Schlüssel schon ins Schloss gesteckt, konnte jedoch Mischas flehentlichem Blick nicht widerstehen – er hatte trotz dessen vorherigen Versuchs, seine Traurigkeit zu unterdrücken, die Enttäuschung in seinen Augen gesehen – und schloss wieder auf. Mischa folgte ihm in das Büro, der Mann schaltete den Computer an, wartete, bis dieser gestartet war, und gab dann die Daten von Mischas Formular in das Verwaltungsprogramm ein. Dabei hielt er den Bogen auf eine Art und Weise, die Mischa vermuten ließ, dass er um die Besonderheit des Papiers wisse. Zum Schluss druckte er einen einer Scheckkarte nicht unähnlichen Mitgliedsausweis aus, übergab diesen Mischa nahezu feierlich, nahm den Mitgliedsbeitrag entgegen, gab das Wechselgeld heraus und sagte freundlich: »Jetzt aber raus hier!«

    Als Mischa auf der Straße stand, nahm er den Ausweis in die Hand, hielt ihn hoch vor die Augen und besah ihn sich von allen Seiten – jetzt war er am Ziel seiner Wünsche, er war Mitglied der D-Jugend des örtlichen Fußballvereins und die Karte war ein sichtbarer Beweis – er konnte sie jetzt allen zeigen, seinen Eltern, seinen Klassenkameraden, seinen Großeltern – kurz aller Welt. Er war so stolz, dass er sie am liebsten für jeden sichtbar vor sich hergetragen hätte – ja am liebsten hätte er jedem, der ihm auf dem Weg nach Hause begegnete, zugerufen: »Schaut her, ich bin jetzt Fußballer!« Er wusste natürlich noch nicht, dass er damit lediglich den Wunsch zum Ausdruck gebracht hatte, es seinem Idol gleichzutun, doch in seiner Vorstellung war er jetzt schon auf dem Spielfeld und sah sich schon am Ende eines Spiels bei der Überreichung des Siegerpokals. Doch mit seinen zwölf Jahren störte er sich nicht an seiner übersteigerten Phantasie, Vorstellung oder Wirklichkeit, wo war da schon der Unterschied? Er roch an der Karte, beäugte sie von allen Seiten, wollte sie mit allen Sinnen erfassen, solange, dass er mit geschlossenen Augen jedes Detail hätte beschreiben können: das Emblem und den Schriftzug des Vereins auf leicht bläulichem Grund. Und – und das war die Hauptsache – auf der Mitte in großen Lettern seine Mitgliedschaft verkündend: Mischa Hilbart, Mitglied des Turn- und Sportvereins, Abteilung Fußball. Er war so begeistert und so berauscht, dass er jeden an seinem Glück hatte teilhaben lassen wollen; jeden Passanten auf dem Rückweg lachte er offenherzig an, sie lachten zurück, nicht wissend, was der Grund für seine Freundlichkeit war, doch der kleine glückliche Junge ließ jeden Fußgänger aus seinen Gedanken oder aber seiner Monotonie auftauchen.

    Und tatsächlich hielt er die ganze Zeit den Ausweis an fast ausgestrecktem Arm vor sich in die Höhe, stolperte ein paar Mal, weil er die Bürgersteigkante übersehen hatte, wäre fast in ein Auto gelaufen, da er den Blick nicht von seiner Karte wenden konnte, stolperte ebenso die Treppe zum Wohnhaus hinauf. Seine Mutter öffnete ihm die Tür, nachdem er - so schien es ihm jedenfalls - stundenlang auf den Klingelknopf gedrückt hatte und musste auf der Schwelle noch Notiz von seiner neuen »Existenz« nehmen. Ganz aufgeregt hielt er ihr die Karte vor die Nase und drängte sie: »Nun schau doch mal genau hin, schau ganz genau hin, hier steht mein Name, mein Name und mein Nachname, stell‘ dir das mal vor! Ich bin jetzt Mitglied im Fußballverein und ich kann jetzt mit den anderen Jungs spielen und bei den Spielen mitmachen und…..« Und hier versagten ihm vor Aufgeregtheit und Atemlosigkeit die Worte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihren überglücklichen und übersprudelnden Jungen in den Arm zu nehmen und ihn fest an sich zu drücken und ihm auf diese Weise ihre Anteilnahme zu versichern, denn auch ihr fehlten die Worte für ihre Gefühle – sie hatte nicht gelernt, wie man einem anderen Menschen sagte, dass man sich über ihn oder mit ihm freue.

    Mischa hielt sich in diesem Augenblick für den glücklichsten Menschen auf Erden.

    Kapitel 2

    Der Trainer konnte tatsächlich nicht umhin, Mischas Fortschritte zu bemerken. Dieser auf den ersten Blick unscheinbare Junge mit seinen dünnen hellbraunen Haaren, den ungelenken Armen und dem lauerndem Blick hatte sich in den letzten zwei Jahren zu einem seiner besten Spieler gemausert. Eigentlich dachte er, Mischa sei sein bester Spieler, doch da er es sich zum Anspruch gesetzt hatte, keinen seiner »Jungs« zu bevorzugen, scheute er sich, ihn auch so zu bezeichnen. Aus dem ehemals kümmerlich anzusehenden Jungen war ein zuverlässiger und ausdauernder, zielstrebiger Stürmer geworden. Auch die anfängliche Ängstlichkeit hatte sich gelegt; Mischa und er waren sich näher gekommen. In den Trainingsstunden hatte er oft Gelegenheit ihn zu beobachten, freute sich über jeden erzielten Fortschritt, lobte Mischa oft und ausgiebig. Gelegentlich ertappte er sich dabei, dass er für ihn väterliche Empfindungen entwickelt hatte. Er wusste um seinen Hintergrund, um den strengen Vater und die willfährige Mutter. Er ahnte, dass Mischa sich bei ihm die Zuwendung und die Anerkennung zu bekommen erhoffte, die er doch so schmerzlich bei seinen Eltern vermisste.

    Er seufzte bei diesen Gedanken, war Mischa doch kein Einzelfall; in diesem östlichen Vorort von Hanau gab es viele strenge Väter, denen die Mütter keinen Einhalt gebieten konnten. Dennoch gab es etwas in Mischa, das ihn von den anderen unterschied: sein fester Wille und seine Beharrlichkeit. Er wunderte sich oft, auf welchem Boden diese beiden Eigenschaften gediehen waren, hatte aber bislang noch keine Antwort finden können.

    Plötzlich zog das Geschehen auf dem Rasen seine Aufmerksamkeit auf sich; er schritt zum Mittelkreis, in dem seine Jungs gerade Manndeckung trainierten. Einer der Spieler lag auf dem Boden und hatte sich verletzt, nichts Ernsthaftes; ein anderer hatte ihn beim Umspielen unabsichtlich an die Wade getreten – sie durften schon Schuhe mit Stollen tragen – und ihm eine leichte Schürfwunde zugefügt. Mischa half dem auf dem Boden liegenden Jungen auf, legte dessen Arm um seine Schulter und ging mit ihm zum Mannschaftsraum. Dort befand sich der Sanitätskasten und die Wunde musste mit einem Pflaster versehen werden. Der Trainer ging hinterher, setzte sich neben die beiden und sah Mischa bei der Wundversorgung zu. Das gehörte mittlerweile zu Mischas Aufgaben, die ihm vor einiger Zeit übertragen worden war. Nachdem der verletzte Spieler den Raum verlassen hatte, bat der Trainer Mischa noch eine Weile sitzen zu bleiben: »Ich möchte etwas Wichtiges mit dir besprechen.«

    Mischa nickte und war gespannt, was ihn jetzt erwartete.

    »Du weißt doch, dass wir ein Problem haben, nicht wahr?«

    Mischa nickte erneut, obwohl ihm nicht ganz deutlich war, worauf der Trainer anspielte.

    »Also, der Arndt ist ja jetzt in die C-Jugend übergewechselt und jetzt haben wir keinen Mannschaftskapitän mehr, nicht wahr?«

    Wiederum nickte Mischa; er ahnte nun langsam, was der Trainer im Sinn hatte. Aber eigentlich konnte das doch gar nicht sein, er war doch nur Mischa, zugegeben ein ganz passabler Spieler, aber mehr auch nicht. Trotzdem gab es eine wenn auch fast unhörbare Stimme in ihm, die sich gegen diese Entwertung zur Wehr setzte. Es könnte doch sein, dass er wirklich gefragt würde, ob er in Zukunft der Kapitän sein wolle, auch wenn er dies für sehr unwahrscheinlich hielt.

    »Möchtest du in Zukunft unser Mannschaftskapitän sein? « fragte ihn verblüffender weise und eben doch nicht ganz unerwartet der Trainer.

    Mischa blieb die Sprache weg, er konnte nur nicken.

    »Ich meine…«, setzte der Trainer fort, »ich meine, du bist doch einer meiner..., ääh,…, besten Spieler.« Mischas Aufmerksamkeit entging, dass der Trainer zu stottern begonnen hatte, ihm entging das innere Ringen des Trainers, der mit diesem Vorschlag gegen seinen Grundsatz der Gleichbehandlung verstieß, ja verstoßen musste, in ihm hallte nur noch die Frage nach, nichts anderes hatte Platz daneben. Und er nickte erneut und ständig, die Frage mehrmals bejahend, als würde die wiederholte Bestätigung die Gewissheit schaffen, dass die Frage tatsächlich gestellt und dass er tatsächlich gemeint war. Und als er es endlich alles für wahr hielt, sprang er auf, nickte noch einmal und streckte dem Trainer seine Hand entgegen.

    Der wurde durch diese Geste sowohl in seinem Wortfindungsprozess als auch in seiner Erregung unterbrochen, nahm die ihm entgegengestreckte Hand wortlos und dankbar an und schüttelte sie derart heftig, dass einem unbeteiligten Zuschauer die Idee hätte kommen können, er wolle dem Jungen den Arm ausreißen. Mischa zog sie deshalb wieder zurück, stieß noch ein gurgelndes »Ja, danke« hervor, eilte vor Verlegenheit und vor Freude zur Tür und wollte den Raum verlassen.

    Nur das »Halt, stehen bleiben« hielt ihn zurück und er drehte sich um.

    »Ist das jetzt ganz offiziell, Mischa?« fragte ihn der Trainer, der mittlerweile seine Sprache wieder gefunden hatte.

    Dieses Mal rief Mischa ganz laut und deutlich: »Ja, das ist ganz offiziell und noch einmal, danke!« und rannte auf den Platz hinaus.

    Dies war der zweite Moment, in dem sich Mischa für den glücklichsten Menschen auf Erden hielt.

    Kapitel 3

    Er konnte es kaum glauben, schaute noch ein zweites und auch noch ein drittes Mal hin, schaute noch einmal weg und wieder zurück, um wirklich ganz sicher zu sein. Aber sie hing tatsächlich dort. An einem großen Nagel aufgehängt, der gestern ganz sicher noch nicht an dieser Stelle war. Aber er nahm sie nicht gleich herunter, obwohl er sich im Zaum halten musste, weil er genau das sofort und gleich tun wollte. Jedoch beherrschte er sich, er schaute sie sich von allen Seiten an, sie war einfach wunderschön, es war natürlich ein Geschenk seiner Eltern, wer sonst hätte sie an den Nagel hängen können. Sie war noch ganz neu, roch noch nach frischem Stoff, und sie war die Krönung seines neuen Status. Ehrfürchtig und vorsichtig nahm er sie von der Wand, zog sie langsam zu sich heran und konnte sie in all ihren Details bewundern. Sie war aus schwarzem und silbernem Stoff, an den jeweils farblich aneinanderstoßenden Teilen mit einem neongelben Kunststoffstreifen versehen, sozusagen eine farbliche und gestalterische Fortsetzung seiner Sporttasche. Und vorne auf der Stirnseite prangte groß eine weiß-gold-rote wappenartige Form silberfarben umsäumt, jedoch ohne das Emblem des Vereins, und mitten drin befand sich eine neongelbe »8« in der gleichen Schrift wie die auf seinem Ausweis. Er setzte sich die Kappe auf, sie passte perfekt, und er wollte sich sofort im Spiegel ansehen. Er nahm sie noch einmal vom Kopf, drückte den Schirm zusammen, um die Rundung herzustellen, mit der man solche Kappen heute trug, dieser gab zwar nach, nahm aber sofort seine ursprüngliche Form wieder an. Das würde noch eine Weile dauern, bis der Schirm sich wie bei allen anderen Jungs über seiner Stirn wölbte. Er setzte sie erneut auf und sprang die Treppe hinauf, lief außer Atem gekommen ohne Zögern vor den großen Spiegel, der im Flur an der Wand befestigt war. Doch zunächst musste er die ganzen Mäntel, Jacken und was sich sonst noch so dort anstatt in den Kleiderschränken angesammelt hatte, beiseiteschieben, um sein Spiegelbild sehen zu können.

    Erstaunt stieß er die Luft aus, dort war er zu sehen, Mischa, der Kapitän seiner Mannschaft, jetzt auch noch mit einer seine Nummer verkündenden Kappe. Die Acht darauf gefiel ihm besonders, hielt er sie doch für seine Glückszahl, er hatte am achten März Geburtstag, er wohnte im Haus Nummer acht, er musste mit der Buslinie acht zum Stadion fahren. Niemand wusste von seiner Vorliebe für diese Zahl, sie war sein Geheimnis, auch wenn er schon des Öfteren den Impuls verspürt hatte, es mit seinen Freunden zu teilen.

    Er sah vorteilhaft aus. Er gefiel sich ausnehmend gut. Er setzte die Kappe wieder ab, schaute sich dabei zu, wie er einem imaginären Publikum zuwinkte, stellte sich vor, wie er den anderen Jungs kurz vor dem Spiel auf dem Rasen stehend noch ein paar kämpferische, aufmunternde Worte zurief und wie die Kappe seiner Autorität den richtigen Schliff gab, er sah sich nach dem Sieg aus dem Stadion laufend, die Kappe im Freudentaumel wieder und wieder in die Luft werfend. Halt – das ging natürlich nicht, sie könnte dann zu Boden und in den Staub fallen. Er setzte sie erneut auf, drehte sich langsam um die eigene Achse, den Kopf immer Richtung Spiegel gewendet, um sich von allen Seiten in seiner Pracht sehen zu können. Er nahm verschieden Haltungen ein, drückte die Brust heraus, hob die Hand, um den imaginierten Beifall winkend entgegenzunehmen. Kurz: Jetzt erst sah er wie ein richtiger Fußballer aus und ihm stiegen die Freudentränen in die Augen.

    »Na, die gefällt dir wohl?«

    Mischa hatte gar nicht bemerkt, dass seine Mutter ihn an der Wohnzimmertür lehnend wohl schon längere Zeit beobachtet haben musste und er drehte sich erschrocken um. Es war ihm peinlich, nicht nur, dass seine ganze Tanzerei vor dem Spiegel ihm plötzlich wie ein unangemessenes Imponiergehabe erschien, auch die Tränen waren seiner Mutter offensichtlich nicht entgangen. Er versuchte, sie sich unbemerkt mit dem Ärmel aus dem Gesicht zu wischen, doch seine Mutter lachte ihn nur an: »Na, ist es meinem Großen nicht recht, wenn ich ihn mit feuchten Augen sehe. Aber weißt du, ich finde das gar nicht so schlimm. Schlimm finde ich lediglich, dass du mich schon so schnell bemerkt hast. Dabei habe ich dir doch so gerne zugeschaut. Das war richtig schön, mal mit zu bekommen, dass du dich auch einmal bewunderst. Das hat mich sehr gefreut!«

    »Ach, Mama, ich weiß gar nicht, was du meinst. Ich finde mich einfach nur albern damit, richtig lächerlich.«

    »Komm mal her, Mischa«, forderte sie ihn auf, »komm mal her und lass dich mal in den Arm nehmen.«

    Mischa war das gar nicht so recht, er war immerhin schon zwölf Jahre alt und nur Muttersöhnchen ließen sich dann noch von ihren Müttern umarmen. Doch da ihm niemand zuschaute, ging er auf sie zu und schlang seine Arme auch um sie.

    »Du bist halt mein Großer, und ich habe doch nur dich. Und ich freue mich, dass dir die Kappe so gut gefällt.«

    »Wieso, du hast doch nicht nur mich, du hast auch noch Papa!«

    »Ach, Mischa, du weißt, wie ich’s meine. Ich habe doch nur dich als Kind, meinen Großen, das wollte ich damit sagen. Und ich freue mich für dich, und ich bin stolz auf dich. Du bist der Kapitän deiner Mannschaft und der Trainer hält große Stücke auf dich.«

    »Ach, der Trainer, was weiß der denn schon?« wollte Mischa abwiegeln.

    »Ich weiß gar nicht, von wem du das hast, dieses ständige Zurückweisen, ich habe das Gefühl, du willst es gar nicht wirklich hören, wenn man dich lobt.«

    »Loben, wer lobt mich denn schon? Du vielleicht, aber Papa, der meckert doch ständig nur an mir rum.«

    »Ja, das stimmt. Ich kann es ja auch nicht ändern. Du weißt doch, wie er ist. Er hat immer Stress auf der Arbeit, der Schichtdienst« – Mischas Vater war Busfahrer bei den städtischen Verkehrswerken – »da ist er halt immer müde und genervt.«

    »Aber das muss er ja nicht an mir auslassen. Ich kann ja schließlich nichts dafür, aber immer meckert er rum, er findet nichts gut. Noch nicht einmal, dass ich jetzt Fußball spiele und zwar recht gut!«

    »Na, wenn du dich da mal nicht täuschst. Immerhin war die Mütze seine Idee. Er hat sie ausgesucht. Er hat so lange gesucht, bis er die passende gefunden hat. Eine, die zu deiner Tasche passt. Und eine, die einen langen Schirm hat, das war ihm besonders wichtig. Und er ist in der Stadt rumgelaufen, bis er einen Laden gefunden hat, in dem er die ‘8‘ rein gestickt bekam. Also, bitte. Wenn das nicht zeigt, das er dich lieb hat, dann weiß ich nicht.«

    Für Mischa hörte sich das Ganze wie aus einem Film an. Er konnte es kaum glauben, dass sein Vater liebevolle Seiten besaß, dass sein Vater sich Zeit für ihn nahm, wenn auch für ihn unbemerkt. Sein Vater, der genau wusste, welche Art von Kappe er sich immer wieder ausgemalt hatte. Mischa konnte sich das kaum vorstellen. Er schluckte, weil er wohl oder übel zur Kenntnis nehmen musste, dass seine Mutter ihn nicht beschwindelte.

    Aber sein Vater war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Er wusste nie genau, was er von ihm halten sollte. Meistens war er brummig, tadelte Mischa sehr oft. Mischa hatte mehr schlecht als recht gelernt, es hinzunehmen, dass sein Vater anders war, als er die Väter seiner Freunde erlebte.

    Und dann war er wieder für Überraschungen gut. Manches Mal, vor allem, wenn er Spätschicht hatte und Mischa schon aus der Schule gekommen war, lud er ihn ein, mit ihm auf Tour zu gehen, wie er es nannte. Er ging dann mit ihm zum Depot und bestieg den Bus. Aus dem Kasten neben der Kasse holte er eine Kurbel, steckte sie in ein Loch ganz oben über der Windschutzscheibe und drehte die hinter der Verdeckung liegende Rolle solange, bis von außen in großen Buchstaben Linie 1 Schwimmbad – Kastanienviertel zu sehen war. Diese Strecke war Mischas Lieblingsstrecke, durchmaß sie doch die Stadt von einem zum anderen Ende und war nicht so langweilig wie die Linie 6, die nur den Innenstadtring fuhr und schon nach zwanzig Minuten wieder am Ausgangspunkt angelangt war. Aber die Linie 1 brauchte über eineinhalb Stunden, und sie führte an den lebhaftesten Plätzen der Stadt vorbei. Es gab immer etwas Spannendes zu sehen.

    Mischa setzte sich dann immer ganz vorne auf die erste Bank, weit nach vorne gelehnt, sich auf die dort befindliche Stange aufstützend. Von dort hatte er den besten Blick, sowohl auf die Menschen ohne Fahrschein, die den Bus von vorne besteigen mussten, als auch durch die großen Fenster auf die Fahrbahn, die Menschen, die Häuser, die Autos, als auch auf seinen Vater. Häufig stellte er sich vor, er führe mit seinem Vater ganz alleine im Bus durch die Stadt und weiter über die Stadtgrenzen hinaus, immer weiter, aus Deutschland hinaus, durch die Alpen und nach Italien. Lediglich das Anfahren der Haltestellen holte ihn aus seinen Träumen zurück und plötzlich verwandelte sich dann die eben noch strahlende Sonne in eine dichte Stratuswolkendecke. Trotzdem genoss er die Fahrt, schaute gelegentlich zu seinem Vater hin, der in seiner blauen Uniform mit der Mütze, die aussah als wäre sie eine Kapitänsmütze, hinter dem riesigen Lenkrad ruhig und gelassen den Niederflur-Gelenkbus – das hatte er Mischa ausführlich erklärt – durch den ihn umtosenden Verkehr steuerte, so nahm es

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