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Lehrer Lämpel lebt!
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eBook245 Seiten2 Stunden

Lehrer Lämpel lebt!

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Über dieses E-Book

Nach 150 Jahren Tiefschlaf wird Lehrer Lämpel wieder zum Leben erweckt. Von seinem Schöpfer erhält er den Auftrag, die modernen Spiel- und Spaßschulen zu inspizieren. Als angeblicher Ministerialbeamter mit Sonderauftrag besucht er u.a. die Wilhelm-Busch-Schule, wo er auf die Rektorin Jennifer Wiefelspütz-Trautschmann trifft. Die multikompetente Schulleiterin hat gerade einen Fortbildungskurs 'Self-Assessment zum Kompetenzprofil Schulmanagement' absolviert, nimmt regelmäßig an Feedback- und Coaching-Events teil und besucht Veranstaltungen zur systematischen Unterrichtsentwicklung sowie zum schulischen Qualitätsmanagement.
"Wird an Ihrer Schule eigentlich auch etwas gelernt?", fragt Lehrer Lämpel.
Die Rektorin verzieht angewidert den Mund. "Gelernt?"

"Also lautet ein Beschluß:
Daß der Mensch was lernen muß.
Nicht allein das Abc
Bringt den Menschen in die Höh';
Nicht allein in Schreiben, Lesen
Übt sich ein vernünftig Wesen;
Nicht allein in Rechnungssachen
Soll der Mensch sich Mühe machen,
Sondern auch der Weisheit Lehren
Muß man mit Vergnügen hören."
Wilhelm Busch, 1865

Mit spitzer Feder lässt der Autor von 'NO auf Bildungsreise' und 'Fritz I – ein Knirps wehrt sich' genüsslich die bunten Luftballons der modernen Schulpädagogik zerplatzen.

Dieser amüsante Schelmenroman ist mit ausgewählten Wilhelm-Busch-Zitaten und einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte garniert (denn Lehrer Lämpel kann Agnes einfach nicht widerstehen …).
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Feb. 2015
ISBN9783738016796
Lehrer Lämpel lebt!

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    Buchvorschau

    Lehrer Lämpel lebt! - Bernd Franzinger

    Impressum

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    © 2015 – Ravis-Verlag

    Oberer Rossrück 24, 67661 Kaiserslautern

    Tel.: 0 63 06 / 99 16 45

    Fax: 0 63 06 / 99 16 44

    info@ravis-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    E-Book: Mirjam Hecht, Gmeiner-Verlag

    Umschlaggestaltung: Julia Franze, Gmeiner-Verlag

    unter Verwendung einer Karikatur von: © Garabombo (http://commons.wikimedia.org/wiki/File:L%C3%A4mpel.jpg)

    ISBN 978-3-9815857-4-2

    Gedicht

    Also lautet ein Beschluß:

    Daß der Mensch was lernen muß.

    Nicht allein das Abc

    Bringt den Menschen in die Höh’;

    Nicht allein in Schreiben, Lesen

    Übt sich ein vernünftig Wesen;

    Nicht allein in Rechnungssachen

    Soll der Mensch sich Mühe machen,

    Sondern auch der Weisheit Lehren

    Muß man mit Vergnügen hören.

    Wilhelm Busch, 1865

    1. Kapitel

    Füße – nass, kalt. Mehr brachte Lehrer Lämpels lahmes Hirn nach 150 Jahren Tiefschlaf nicht zustande.

    Irgendwann verspürte er ein unerträgliches Kribbeln in seinen Füßen.

    Maikäfer?, fragte er sich angewidert.

    Vor seinem geistigen Auge tauchte Onkel Fritz auf, dem Max und Moritz gerade einen bösen Streich spielten.

    Lämpel versuchte, seine Beine anzuheben, doch sie bewegten sich keinen Deut.

    Wie bei Sokrates, sinnierte er, eingedenk seiner humanistischen Bildung. Nur eben umgekehrt. Bei Sokrates hat das Gift zuerst die Füße, dann die Beine und schließlich den gesamten Körper gelähmt. Aber ich werde anscheinend von unten nach oben entlähmt.

    Entlähmt? Welch barer Unsinn! Die deutsche Sprache kennt dieses Wort nicht. Das sollte Lehrer Lämpel leichthin wissen! Mir scheint, ich bin noch nicht recht bei Sinnen.

    Wo befinde ich mich eigentlich?

    Er hielt den Atem an und horchte angestrengt. Um ihn herum war es still, totenstill.

    Liege ich etwa in einem Sarg, tief verborgen in der Mutter Erde feuchtem Schoß?

    Plötzlich zuckte es in seinem linken Daumen. Nach und nach kehrte das Leben in jeden einzelnen Finger zurück. Er drückte die Knöchel nach oben und zog die Fingerkuppen zur Handwurzel. Der Untergrund war kalt und glitschig.

    Eis und Tauwasser?, grübelte er.

    Lämpel schob die Hände nach außen. Die Finger ertasteten senkrechte, eisige Wände.

    Ich liege in einem frostigen Grab, aus dem ich nicht entfliehen kann. Nie mehr werde ich die Sonne sehen, jammerte er in Gedanken.

    Panik erfasste ihn. Sein Körper verkrampfte sich und die Lippen zuckten wild. Er versuchte zu schreien, brachte jedoch nur ein ersticktes Krächzen hervor. Blinzelnd öffnete er die Augen.

    Nichts als rabenschwarze Dunkelheit, stellte er resigniert fest.

    Lämpel seufzte tief.

    Ist ja auch kein Wunder, wenn man sich in einem Sarg befindet.

    Er stieß ein grunzendes Geräusch aus, das jedem Wildschwein zur Ehre gereicht hätte.

    Wieso liege ich eigentlich in einem Gletschergrab und nicht zu Hause in meinem warmen Bett?

    Ein dezentes Schmunzeln huschte über sein Gesicht.

    Wahrscheinlich bin ich ja dort und träume alles nur.

    Erleichtert schlummerte er ein.

    Viele Stunden später erwachte er mit hämmernden Kopfschmerzen. Er drückte die eiskalten Fingerspitzen auf die Schläfen und massierte sie. Das half ein wenig. Als er die Hände herabsinken ließ, klatschen sie ins Wasser. Frostige Schauer jagten seinen Rücken hinunter.

    Um Himmels Willen, das Eis taut! Ich werde ertrinken!, pochte es unter seiner Schädeldecke.

    Lämpel streckte die Arme nach oben. Die Fingerspitzen stießen auf einen Widerstand. Wie Stützpfeiler schob er beide Hände unter die eisige Platte und presste fest dagegen. Mit einem schmatzenden Geräusch schnellte der Sargdeckel zwanzig Zentimeter in die Höhe. Doch gleich darauf fiel er zurück auf die Handflächen.

    Da ein Schulmeister selbst in Extremsituationen nicht von humanistischen Bildungsgütern verschont bleibt, dachte er unweigerlich an Atlas, den Zeus als Strafe für seine Teilnahme am Kampf der Titanen gegen die Götter dazu verdammt hatte, für alle Zeit den Himmel auf seinen Schultern zu tragen.

    Aber du, mein lieber Lehrer Lämpel, sollst nicht bestraft, sondern belohnt werden, ertönte plötzlich eine tiefe Männerstimme in seinem Kopf.

    »Wofür?«

    Für den vorbildlichen Einsatz, den du vor 150 Jahren in deiner Schule geleistet hast.

    »Womit soll ich belohnt werden?«

    Mit nichts Geringerem als einem neuen Leben, antwortete die geisterhafte Stimme.

    »Danke.«

    Keine Ursache. Allerdings hat die Sache einen Haken.

    »Und welchen?«

    Du musst einen Auftrag erfüllen.

    »Und welchen?«, fragte Lämpel noch einmal.

    Du sollst die Schulen des 21. Jahrhunderts inspizieren und mir ausführlich darüber Bericht erstatten.

    »Und wie soll ich das machen? Ich meine …«

    Um die Übermittlung deiner Beobachtungsergebnisse musst du dich nicht kümmern, unterbrach die Stimme.

    Du gehst einfach in die Schulen und schaust sie dir genau an. Außerdem redest du mit allen, die etwas mit dem modernen Bildungswesen zu tun haben, also mit Lehrern, Schülern, Eltern, Ministerialbeamten et cetera. Anschließend ordnest du deine Gedanken, indem du diese Beobachtungen feinsäuberlich in einem Tagebuch notierst.

    »Und das bringe ich dir dann.«

    Nein, das brauchst du nicht. Jedenfalls noch nicht.

    »Wieso?«

    Weil es mir vorläufig reicht, deine Gedanken zu lesen.

    »Das kannst du?«

    Sicher.

    »Dann musst du Gott sein.«

    Ein sonores Lachen dröhnte in Lämpels Kopf. Nein, der bin ich nicht.

    »Wer bist du dann?«

    Wilhelm Busch.

    »Ach so«, murmelte Lämpel enttäuscht.

    Was in deinem speziellen Fall wohl auf dasselbe hinauslaufen dürfte, gab die Männerstimme pikiert zurück.

    Denn ich habe dafür gesorgt, dass du wieder zum Leben erweckt wirst. Abermals erklang dieses dumpfe Lachen.

    Trotzdem musst du mich nicht Gott nennen. Das wäre wahrlich ein wenig zu viel der Ehre.

    »Warum soll ich mir eigentlich die Schulen anschauen?«

    Weil mich brennend interessiert, wie sich das deutsche Bildungssystem in den letzten 150 Jahren verändert hat.

    »Und wie …«

    Folge einfach den Pfeilen.

    »Welchen Pfeilen?«

    Lämpel wartete geduldig auf eine Antwort. Doch sein imaginärer Gesprächspartner war verstummt. Mit gekrümmtem Rücken setzte er sich auf die Fersen, krallte seine Finger in den Spalt und hievte sich ruckartig in die Höhe. Der Sargdeckel klappte nach hinten und schlug mit einem dumpfen Geräusch irgendwo dagegen. Nur einen Sekundenbruchteil später flammte grelles Licht auf.

    Reflexartig kniff Lämpel die Lider zusammen und warf die Hände vors Gesicht. Nach ein paar Sekunden öffnete er die Augen, spähte durch die gespreizten Finger. Doch seine Nickelbrille war beschlagen und er sah nichts als eine milchigtrübe Nebelwand.

    Lämpel zog die Brille ab und schaute sich um. Unzweifelhaft befand er sich in einem aus Bruchsandsteinen gemauerten Gewölbekeller. Der fensterlose Raum war mit einer Hobelbank, Werkzeug, Bauholz, Dachziegeln und allem möglichen Gerümpel vollgestopft. Die Gegenstände waren mit einer dicken Staubschicht und Spinnweben überzogen.

    Mit einem kräftigen Zug blähte er die Lungen auf. In diesem Keller roch es ziemlich modrig, trotzdem war die Luft bei weitem frischer und angenehmer als diejenige in seiner eisigen Gruft.

    Er kletterte aus dem Sarg und entdeckte die Pfeile, von denen die ominöse Stimme in seinem Kopf gesprochen hatte. Irgendwer hatte sie im Abstand von zwei Metern mit Kreide auf den Kellerboden gezeichnet.

    Dort, wo er gerade stand, bildete sich in Windeseile eine Wasserpfütze. Ungelenk stampfte er los und hinterließ eine Spur nasser Fußabdrücke. Kraftlos schleppte er sich die Kellertreppe hinauf. Vor der Abschlusstür hielt er inne.

    Was, und vor allem wer, erwartet mich wohl hinter dieser Tür?, überlegte er mit bangem Blick. Was soll ich denn nur antworten, wenn man mich fragt, wer ich bin und wo ich herkomme? Soll ich vielleicht sagen:

    »Guten Tag, ich bin Lehrer Lämpel und habe 150 Jahre lang in Ihrem Keller in einem Eissarg geschlafen.«

    Nervös knetete er sein unter einem Vollbart verstecktes Kinn. Das glaubt mir doch kein Mensch. Die werden mich bestimmt sofort ins Irrenhaus einliefern.

    Du alter Hasenfuß, frotzelte die Stimme in seinem Kopf. Du brauchst keine Angst zu haben, das Haus ist leer.

    Lämpel zögerte noch einen Moment, dann kratzte er allen Mut zusammen und drückte die Metallklinke herunter. Zentimeter um Zentimeter schob er das Türblatt nach vorne. Dann streckte er den Kopf durch den Türspalt und schaute sich vorsichtig um. Der Flur war hell erleuchtet. Er schloss die Augen und horchte konzentriert. Kein Geräusch, nichts, aber auch rein gar nichts war zu hören.

    Auf Zehenspitzen schlich er über knarzende Holzdielen hinweg zur Haustür und blickte nach draußen. Nichts als rabenschwarze Dunkelheit. In der Ferne bellte ein Hund. Lämpel wandte sich um, ging zurück zur Kellertür und folgte den Pfeilen.

    Sie geleiteten ihn in eine gemütlich eingerichtete Küche, vor deren einzigem Fenster die Vorhänge zugezogen waren. Auch dieser Raum wurde von einem sonnenartigen, gleißenden Licht erleuchtet, wie er es noch niemals zuvor gesehen hatte. Zudem entdeckte er Gegenstände, die er nicht kannte und für die er auch keine Namen parat hatte.

    Träume ich das alles?, fragte er sich nun schon zum wiederholten Male. René Descartes hat behauptet, dass niemals Wachen und Träumen nach sicheren Kennzeichen voneinander unterscheidbar seien. Und zwar deshalb, weil die Traumerlebnisse eine Intensität erreichen könnten, die denjenigen im Wachzustand erlebten, gleichkämen.

    Das hat der alte Schlawiner den Vorsokratikern geklaut, monierte der Mann, der behauptete, Wilhelm Busch zu sein.

    Zum Beweis ein Zitat von Heraklit, zweitausend Jahre vor Descartes: ›Es ist immer ein und dasselbe, Lebendiges und Totes, das Wache und Schlafende, Jung und Alt.‹ Wie du siehst, geht doch nichts über eine humanistische Bildung.

    »Die habe ich ebenfalls genossen«, betonte Lämpel.

    Ja, ich weiß. Aber mal was anderes: Meinst du nicht, du solltest endlich deine nassen Kleider und Schuhe ausziehen? Du bibberst ja schlimmer als Schneider Böck, nachdem ihn damals die Gänse aus dem Bach gezogen hatten.

    Erst jetzt wurde Lämpel bewusst, dass er tatsächlich wie Espenlaub zitterte. Ängstlich blickte er sich um.

    Du brauchst dich nicht zu zieren. Ich hab dir doch schon gesagt, dass niemand im Haus ist.

    In der Ecke entdeckte Lämpel einen mit Kleidern und einem Handtuch bestückten Stuhl. Darunter standen dunkle Halbschuhe, in denen schwarze Socken steckten.

    So, und nun marsch, marsch an die Arbeit!, befahl die Stimmen.

    Alles, was du brauchst, um in deinem neuen Leben zurechtzukommen, findest du in dem Ordner auf dem Tisch. Studiere ihn Zeile für Zeile und befolge strikt die darin enthaltenen Anweisungen. Du musst unbedingt alles daransetzen, in deiner neuen Umgebung so wenig wie möglich aufzufallen.

    Lämpel fiel spontan kein anderer Ort ein, an dem er seine triefende, altmodische Bekleidung deponieren konnte. Also legte er Frack, Hose, Hemd, Schnürschuhe und Kniestrümpfe einfach in die Edelstahlspüle. Nun trug er nur noch seine graue Leinenunterwäsche am Körper.

    Auf der Suche nach einem adäquaten Ersatz für seine pitschnasse lange Unterhose durchstöberte er die neuen Sachen, doch er entdeckte lediglich eine Feinripp-Garnitur. Während er ängstlich die Küchentür im Auge behielt, zog er die nasse Unterwäsche aus, trocknete sich geschwind ab und sprang förmlich in die kurze Unterhose. Ansonsten hatte der unbekannte Kleiderspender mit seiner Wahl genau ins Schwarze getroffen, denn Sakko, Hemd, Hose und Schuhe passten wie angegossen.

    In den trockenen Kleidern fühlte sich Lämpel wie neu geboren. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und stolzierte pfeifend durch die Küche. Er fühlte sich rundherum wohl, seine zeitweiligen Ängste hatten sich verflüchtigt, und er war sehr neugierig auf das, was ihn außerhalb dieser vier Wände wohl erwarten würde. Vor einem neben dem Fenster aufgehängten Bild blieb er stehen. Die Fotografie zeigte ein altes Fachwerkhaus.

    Dieses Haus kenne ich doch, sagte er zu sich selbst. Ja, sicher, das ist unzweifelhaft Wilhelm Buschs Elternhaus.

    Nun erinnerte er sich auch wieder an die Haustür mit dem rautenförmigen Fensterchen, den dunklen Dielenboden im Flur und die verzierte Eckvitrine in der Küche, die noch am selben Platz stand.

    Hier in dieser beschaulichen Gemeinde hatte der Schüler Heinrich Christian Wilhelm Busch drei Jahre lang Lehrer Lämpels Dorfschule besucht. Und hier in diesem Haus war Lämpel anno 1841 mehrmals zu Besuch gewesen. Aber nicht etwa, weil der kleine Wilhelm Anlass zur Besorgnis oder gar Beschwerde gegeben hätte. Nein, mit ihm gab es keine Probleme.

    Mit seinem störrischen, uneinsichtigen Vater hingegen schon, denn dieser puritanischen Krämerseele genügte die Dorfschule nicht. Deshalb meldete der alte Busch seinen erst neunjährigen Sohn von Lämpels Bildungsanstalt ab und schickte ihn zu seinem Schwager, einem hunderte Kilometer entfernt lebenden Pastor, der Wilhelm fortan privat unterrichtete.

    Lehrer Lämpel litt unter diesem Affront so sehr, dass er nächtelang nicht schlafen und tagsüber nur schwerlich seine Lehrtätigkeit verrichten konnte. Bei seinen Hausbesuchen zog er alle Register: Wechselweise redete er mit Engelszungen auf Wilhelms Eltern ein oder er warnte vor der Entwurzelung und Entfremdung ihres sensiblen Zöglings. Ein andermal drohte, schimpfte und fluchte er. Ja, er mobilisierte sogar den Pfarrer und den Arzt zur Unterstützung. Aber nichts half, der alte Sturkopf rückte keinen Millimeter von seinem Entschluss ab.

    Bei meinem letzten Auftritt habe ich diese Haustür wutentbrannt zugeworfen und seitdem das Anwesen der Familie Busch nie mehr betreten, erinnerte sich Lämpel. Jedenfalls wissentlich, ergänzte er in Gedanken. Denn an der Tatsache, dass ich ausgerechnet hier aufgewacht bin, besteht ja wohl kaum ein Zweifel. Wieso bin ich überhaupt in diesem Haus gelandet?

    Frag nicht so viel, sondern setz dich endlich an den Tisch und lies den Ordner!, polterte die Geisterstimme.

    Lämpel tat wie ihm geheißen. Unmittelbar vor ihm lag ein dicker Aktenordner. Rechts daneben stand ein Glas und eine Flasche Mineralwasser. Er schenkte sich ein und trank einen Schluck. Als er das Kribbeln der Kohlensäure auf der Zunge spürte, leckte er sich verdutzt die Lippen. Erst jetzt bemerkte er die aufsteigenden Gasperlen in seinem Glas. Kopfschüttelnd faltete er die Hände zu einem stillen Gebet. Anschließend klappte er den Deckel auf.

    Wirf mal einen Blick in die Schublade!

    Lämpel nahm den Oberkörper zurück und zog die Tischschublade bis an seinen Bauchnabel heraus.

    »Du hast wirklich an alles gedacht. Danke«, sagte er in die Stille hinein.

    Diesmal antwortete die Stimme nicht. Staunend entnahm er eine Meerschaumpfeife, Tabak, Zündhölzer, einen Pfeifenstopfer sowie einen Aschenbecher.

    »Ist zwar leider nicht meine alte«, murmelte Lämpel, als er die Pfeife begutachtete. »Die hier ist ganz neu, das Tonmaterial ist noch marmorweiß, richtig jungfräulich.« Er kicherte hinter vorgehaltener Hand.

    »Aber sie liegt ausgesprochen gut in der Hand. Meine alte wäre mir zwar lieber, aber die ist mir ja damals bei dem heimtückischen Anschlag dieser Lauselümmel um die Ohren geflogen.«

    In aller Ruhe stopfte er seine Pfeife, zündete sie an und schmauchte genüsslich ein paar Züge. Dann blätterte er um.

    Sehr geehrter Herr Lehrer Lämpel,

    wenn Sie diese Zeilen lesen, habe ich bereits meine letzte Reise angetreten. Mein Name ist Theodor Busch. Ich bin der Urenkel des berühmten Schriftstellers, Malers und Satirikers Wilhelm Busch. Seit fünf Generationen bewohnt unsere Familie dieses schmucke Fachwerkhaus.

    Da ich keine Nachkommen habe, ist es nun an mir, das Vermächtnis meines Urgroßvaters in die Tat umzusetzen und Sie zum Leben zu erwecken. (Das war nebenbei bemerkt nicht sonderlich schwer, schließlich musste ich mich dazu lediglich neben die Tiefkühltruhe stellen, Ihnen den 4. Streich aus ›Max und Moritz‹ vorlesen – und den Stecker ziehen.)

    Bis zum heutigen Tag haben wir unser Familiengeheimnis wie einen Schatz gehütet. Die Biographen meines Urgroßvaters behaupten zwar immer noch unverdrossen, dass er für seine mit schwarzem Humor gespickten Geschichten fiktive Figuren verwendet habe. Dem ist aber definitiv nicht so. Alle in ›Max und

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