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RUNNING: Eine kriminelle Geschichte
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eBook276 Seiten3 Stunden

RUNNING: Eine kriminelle Geschichte

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Über dieses E-Book

Karl, ehemals Professor der Rechtswissenschaft und im Kollegenkreis anerkannter Jurist, hat durch den Tod seiner Frau einen schweren Schock erlitten. Er gibt sein bisheriges Leben auf und landet schließlich als Obdachloser in Münsters Straßen. Von da aus beobachtet Karl das Leben und gewinnt ganz andere Perspektiven.

Mühsam sucht er einen Weg zurück in die Gesellschaft. Ihm begegnen Freunde von früher, aber auch alte Lügen, familiäre Verstrickungen, politische Dogmen, kriminelle Machenschaften, der lange Arm des Gesetzes sowie sein eigenes Ich, das beständig Entwicklung fordert. Schließlich gerät er selbst in Verdacht …
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum28. Dez. 2015
ISBN9783738059298
RUNNING: Eine kriminelle Geschichte

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    Buchvorschau

    RUNNING - Lillie F. Leitner

    Am Kanal

    Ein fast voller Junimond spiegelt sich im leicht gekräuselten Wasser des Kanals. Ein Feuer am Ufer beleuchtet flackernd einige dunkle Gestalten. Straßenlaternen sind noch nicht in Betrieb, es dämmert allmählich.

    Um das Feuer herum fläzen sich vier Männer – einer liegt lang und stützt sich mit dem Ellenbogen des einen Arms auf, die Hand hält seinen Kopf. Die andere Hand wechselt gekonnt hin und her, mal die Weinflasche zum Mund, während sie eine Zigarette zwischen den Fingern hält, mal die Zigarette zwischen die Lippen, nachdem sie die Flasche abgestellt hat.

    Der Zweite lehnt sich an die Brückenmauer, die Beine weit ausgestreckt. Seine Hände halten eine Flasche, aus der er ab und zu trinkt.

    Ein Dritter sitzt im Schneidersitz. Neben seinem rechten Knie steht unbeachtet eine Flasche, seine Finger schieben kleine Steine auf dem Boden hin und her. Aufmerksam lauscht er dem Gespräch der beiden anderen; den Kopf hält er unbeweglich, während seine Augen hin und her wandern.

    Schräg hinter ihm sitzt ein vierter Mann, unruhig, manchmal steht er auf, geht ein paar Schritte, hockt sich einige Meter weiter wieder hin; auch er scheint den beiden anderen zuzuhören.

    Das Gespräch der beiden erhebt sich deutlich über die begleitende Geräuschkulisse, die aus dem Gemurmel weiter hinten sitzender Menschen und dem Straßenlärm oben auf der Brücke besteht. Gelegentlich donnert ein Güterzug über die nahe liegende Eisenbahnbrücke und lässt alles für die Dauer von Minuten verstummen, bevor nach einem kurzen Taubheitsgefühl in den Ohren die Geräuschkulisse sich wieder erhebt.

    Finch, lang ausgestreckt, zündet sich eine neue Zigarette an der alten an, nicht, ohne den anderen zuvor mit einer Geste eine angeboten zu haben. Den Zigarettenstummel schnippt er ins Feuer. Er nimmt einen Schluck aus seiner Weinflasche, bellt rau die anderen an:

    „Ihr lebt wohl gesund, was!"

    „Mir fällt auf, bemerkt Mickey an der Brückenmauer mit nicht mehr ganz sicherer Stimme, „dass du in letzter Zeit verdammt gut versorgt bist. Unsereins raucht nicht, weil er das Geld dazu nicht hat, aber du ...

    „Ich rauche nicht, weil ich nicht rauche, doziert Bernhard aus dem Hintergrund mit seiner gestelzten Stimme. „Und ich würde auch nicht rauchen, wenn ich's mir leisten könnte.

    „Ja, du!", lästert Finch von unten herauf in Bernhards Richtung. „Du warst ja schon immer was Besseres. Du hast ja sogar studiert!"

    „Und nicht nur das", grinst Bernhard, zieht einen Flachmann aus der Innentasche seines für diese Jahreszeit viel zu warmen Parkas und nimmt einen Schluck.

    „Aber wer hier groß rum tut, das bist du!"

    „Ja, das fällt mir auch ständig auf!", ertönt Zustimmung aus dem Hintergrund.

    Karl in seiner Schneidersitzposition am Feuer fängt die steigende Spannung auf, er wird unruhiger, dreht den Kopf von einem zum anderen, bleibt aber sitzen.

    „Was ist mit ihm, lenkt Finch ab, und deutet, da er keine Hand frei hat, mit seinem Kinn auf Karl. „Er trinkt nicht, raucht nie, reden tut er auch nicht. Nicht mal ‘n Gesicht macht er ...

    Mickey murmelt Unverständliches, während Bernhard deutlich erklärt: „Er kann tun was immer er will, noch ist dies ein freies Land!"

    „Ja, freies Land", lallt Mickey, zunehmend angetrunken, und lässt sich heftig nickend am Feuer nieder.

    Karl schaut ihn mit warmem Blick an, sagt aber nichts.

    Es wird dunkel. Während der eine oder andere Satz fällt, rollt sich Mickey für ein Schläfchen zusammen. Er hat offensichtlich genug gehabt heute.

    Bernhard hat mit einer Gruppe anderer das Weite gesucht, nur Karl und Finch sitzen aufrecht am Feuer.

    Karl hat Mickey mit der Jacke, die neben ihm lag, zugedeckt. Mickey bewegt sich leicht im Schlaf, murmelt Unverständliches. Danach hört man nur noch seine langen Atemzüge, manchmal unterbrochen von leisem Schnarchen.

    Finch redet vor sich hin, Karl schiebt Steinchen hin und her und hört mehr oder weniger zu.

    Während er auf das Wasser schaut, springen plötzlich laut schreiend einige Gestalten über das Feuer hinweg und stürzen sich auf Finch. Lautes Gebrüll und Rufe sind zu hören.

    „Mach sie kalt, die Pennersau!"

    „Pennerklatsche, zack zack!", schreit einer lauthals.

    „He, was macht ihr denn hier?", brabbelt Finch gemütlich vor sich hin. Er scheint überrascht, zeigt aber keinerlei Anzeichen von Angst.

    Karl ist entsetzt aufgesprungen und zurückgewichen, er starrt fassungslos auf das, was sich vor ihm abspielt.

    Auch Mickey ist erschrocken zur Seite gesprungen und glotzt verschlafen auf die Szene. Endlich kapiert er, dreht sich um und macht sich eilig davon.

    Zwei Leute haben Finch vom Boden hoch gezerrt und halten ihn fest. Zwei andere schlagen abwechselnd auf ihn ein.

    Weitere Vermummte stehen herum. Grölend feuern sie die beiden an.

    Finch hat inzwischen ein durchdringendes Geschrei angestimmt: Jede Art Flüche, Hilferufe und lautes Gebrüll wechseln sich ab.

    Karl weiß nicht, was er tun soll. Er starrt auf das, was dort vor sich geht. Dann wieder schaut er suchend um sich. Die anderen sind inzwischen verschwunden oder eifrig dabei, sich davon zu machen. Hilfe ist nicht in Sicht.

    Langsam bewegt sich Karl nach hinten auf eine halbhohe Steinmauer zu. Rückwärts stößt er dagegen. Ohne das Geschehen aus den Augen zu lassen, versucht er, mit den Fingerspitzen hinter seinem Rücken einen Stein zu fassen und heraus zu lösen. Schließlich gelingt es ihm, einer der oberen Steine liegt locker, daneben ein weiterer. Mit einem Stein in der rechten Hand und einem in der Linken bewegt er sich zögernd vorwärts auf die Gruppe zu.

    Sein Kumpel blutet aus dem Mund, aus beiden Nasenlöchern und aus dem rechten Ohr. Das Schreien hat er inzwischen aufgegeben. Sein rechtes Bein ist unnatürlich verdreht. Ein breitschultriger Typ hält Finchs linke Hand nach vorn; er versucht, Finch zu zwingen, seine Faust zu öffnen.

    Karl sieht den anderen Kerl daneben mit einer Drahtschere in der Hand. Er begreift: Die Typen sind im Begriff, Finch die Finger abzutrennen!

    Da wird Karl von hinten gepackt. Seine Oberarme werden fest an seinen Oberkörper gepresst.

    Karl windet sich hin und her, um den Angreifer los zu werden. Er lässt die Steine fallen, um sich besser wehren zu können; einer davon fällt dem Kerl direkt auf den Fuß. Der brüllt los.

    Andere werden aufmerksam und stürzen herbei.

    Zwei Riesen kommen auf Karl zu. Sie packen ihn und verdrehen ihm die Arme so, dass er sich nur noch vornüber beugen kann, das Geschehen um sich herum kann er nicht mehr sehen. Ihm wird schlecht vor Schmerzen; vor seinen Augen flimmert es. Gleichzeitig mit Finchs erneut einsetzendem unmenschlichen Schreien hört er ein sattes ‚Klonk‘, das wie eine gedämpfte Glocke klingt. Im nächsten Augenblick wird alles um ihn schwarz.

    Michaela

    Nervös trommelt Michaela mit ihren Fingern auf die Fensterbank, während sie mit der anderen Hand das Telefon fest an ihr Ohr presst. In Abständen hört sie das Tuten als Signal, dass der Ruf durch geht, sich am anderen Ende aber keiner meldet.

    Nun tritt sie vom Fenster weg an ihren Schreibtisch, schiebt unruhig einige Papiere darauf hin und her. Durch die Tür des Büros verschwindet gerade ihre Kollegin Suse, die ihr eben noch freundlich zuzwinkert, dann die Tür hinter sich schließt.

    „Danke, Suse, dass du mir Bescheid gesagt hast!", ruft Michaela hinter ihr her. Sie drückt auf die Aus-Taste des Telefons und legt es auf den Tisch.

    Versunken beginnt sie, in ihrem Büro auf und ab zu gehen, ruhelos, den Blick zu Boden gerichtet. Als das Telefon plötzlich klingelt, erschreckt sie sich fast. Sie stürzt zum Tisch, hebt es hoch und nimmt nach einem kurzen Blick auf das Display das Gespräch an.

    „Gott sei Dank, dass du anrufst, ich dachte schon ..., legt sie gleich los, ohne sich erst noch umständlich mit Namen zu melden. Als ihr Gegenüber etwas äußert, hört sie kurz zu, antwortet: „Nein, entschuldigen Sie, Herr Neugebauer, ich dachte, es sei mein Mann, der zurückruft – ist er denn da? ... Ja, ich warte!

    Michaela beißt nervös auf ihrer Unterlippe herum, blättert fahrig durch umherliegende Unterlagen, geistesabwesend.

    Endlich meldet er sich.

    „Ja, hallo! Gut, dass du da bist! Du, die Polizei hat angerufen, Karl liegt im Krankenhaus, jemand hat ihm mit der Eisenstange eins übergezogen ..., platzt es aus ihr heraus. „Ja, eine Eisenstange! Ich weiß auch nicht ...

    Michaela nimmt ihre Wanderung durch das Zimmer wieder auf.

    „Nö, keine Ahnung ... Ach, diese Leute prügeln sich doch auch ohne Grund, wer weiß ... Nein, Lebensgefahr besteht wohl nicht, haben sie gesagt." Sie lauscht in den Hörer.

    „Nein, brauchst nicht mitkommen, ich wollte bloß Bescheid sagen ... Ja, ist gut. Bis nachher!", beendet sie das Gespräch, legt das Telefon weg.

    Erneut tritt sie ans Fenster, schaut gedankenverloren auf die Straße, von der durch die Scheiben gedämpft leise Verkehrsgeräusche zu hören sind.

    „Verdammt, sagt sie leise. „Verdammt.

    Träume

    Licht hinter den Lidern, jemand fasst seine Hand. Berührung. Sein ganzer Körper umhüllt von Stoff, riecht wie saubere Laken – ist das ein Traum? Etwas piept fortwährend – eine Maschine? Eine Klinik? Er will sich aufrichten – unmöglich. Festgebunden. Sie haben ihn festgebunden, Panik steigt in ihm auf – und wenn er nun doch in der Psychiatrie gelandet ist? Verzweifelt versucht er, seine Hände frei zu bekommen.

    „Sehen Sie: Er randaliert, stellt eine Stimme nüchtern fest. „Wenn Sie mir garantieren können, dass er liegen bleibt, mache ich ihn los.

    „Nein, das kann ich nicht, kommt zögernd leise die Antwort. „Ich kann gar nichts garantieren, wie soll ich denn. Er war ja immer so wild ...

    Karl hat keine Mühe zu erkennen, wer da spricht: Es ist Michaela, seine kleine Schwester. Sie war zehn, trug ihr braunes Haar zu zwei ordentlichen Zöpfen geflochten und hatte ein Kleid an, und er war – wie alt?

    „Ich will nie so werden wie du, Jungs sind immer so wild", hatte sie zu ihm gesagt.

    Und was macht sie jetzt hier?

    Karl stöhnt; er weiß nicht, ob wegen seiner Schmerzen oder wegen seiner Schwester, verschwommen hofft er, dass das hier nur ein schrecklicher Traum ist.

    „Ich sag es Mama!", gellt es hinter den Schleiern seiner Erinnerung. Seine kleine Schwester ist von jeher eine Nervensäge gewesen, mit wenig Intelligenz ausgestattet, dafür mit einem starken Nervensystem und ebensolchem Willen. Ihre Zähigkeit und Unbeirrbarkeit, wenn sie etwas für richtig hielt, verliehen ihr eine Ausdauer, die weit und breit ihresgleichen suchte. Und alle nervte.

    Dieses Elend ist nun – als Traum oder Wirklichkeit – wieder in seiner Nähe aufgetaucht. Und lässt sich nicht ignorieren.

    Später vielleicht nicht, befindet er, jetzt schon. Er begibt sich auf weitere innere Suche. Saubere Laken, Klinik, Michaela, so weit ist er schon. Aber wie ist er hier hergekommen? Was genau ist seine Situation? Er weiß es nicht, sieht nur gähnende Leere.

    Immerhin weiß er, wer er ist. Auch, was er in seinem Leben getan oder nicht getan hat – oder? Das Meiste jedenfalls, so scheint es ihm. Das ist ja schon mal was. Fürs Erste bleibt er bei sich: Er schweigt. Begibt sich anhand seines Atems leise schwebend zurück in die Tiefe. Erst mal.

    Eingeliefert

    Wie zwei Racheengel erscheinen sie an seinem Krankenbett, Seite an Seite. Der eine ärztlich in Weiß, mit durchaus freundlichem Blick, der andere schwesterlich in grau-braun-lodenem Outfit, ihrem ewigen Trachtenlook. Es kommt Karl vor, als sei sie schon als Fünfjährige in derartiger Uniform herumgestiefelt. Passend gestaltet sich ihr Mienenspiel: Energisch entschlossen, mit besserwisserischen Untertönen.

    Karl ist gerade beim Essen. Eine freundliche Schwester hat ihm das Tablett auf den schwenkbaren Teil des Nachttischs platziert. Karl löffelt Eintopf. Gerade führt er den Löffel zum Mund, nun bleibt der Löffel auf halbem Wege in der Luft stehen.

    „Nun, Herr Dr. Arens, beginnt der ärztliche Racheengel sein Plädoyer, „Sie sind ja wieder erfreulich fit. Alle Gesundheits-Checks ergeben beste Resultate. Alles o.B. – soll heißen: ohne Befund!, fügt er gönnerhaft hinzu. „Haben Sie denn noch Kopfschmerzen?"

    Karl blickt ihn regungslos an.

    „Ja, die werden vielleicht auch noch ein paar Tagen anhalten. Bleibt eben nicht ohne Folgen, wenn einem jemand mit einer Eisenstange auf den Kopf haut. ... Lassen Sie mal sehen: Ein sattes Schädel-Hirn-Trauma. Das ist schon was! Das macht man nicht mal eben in zwei Tagen ab. Fast hätten wir Ihnen Ihre Haarpracht abrasieren müssen, haha."

    Unwillkürlich hat Karl den Löffel zurück in den Teller sinken lassen, nun greift er automatisch in seine langen, dunklen, ordentlich gekämmten Haare.

    Der Doc schaut in seine Akte: „Nun – das EEG, Kernspin, Ihre Blutwerte, Blutdruck usw., alles bestens, auch gucken können Sie wie ein Adler, haha. Das sieht doch gut aus! Da schicken wir Sie morgen nach Hause!"

    Karl spürt, wie seine linke Augenbraue in Richtung Scheitel wandert. Wie jetzt – nach Hause. Karl schaut vom Doktor zu seiner Schwester und wieder zurück.

    „Na ja, beeilt der weiße Engel sich nachzubessern, „sprechen wollen Sie ja mit uns nicht, und wie wir hören, haben Sie wohl auch vorher schon lange Zeit kein Wort mehr geredet, um genau zu sein ..., er nimmt wieder seine Unterlagen zu Hilfe, „äh, um genau zu sein: Rund 15 Monate."

    Und als die Augenbraue oben bleibt: „Ihre Schwester ..., ein Blick hinüber zum schlammfarbenen Engel, „tja, Ihre Schwester hat gemeint, Sie sollten erst mal zu ihr kommen, eine Wohnung haben Sie ja derzeit wohl, äh, nicht ...

    „Ja!, springt ihm der Trachtenengel zu Hilfe: „Ja, du kommst erst mal zu uns, da hast du ein Dach über dem Kopf, und wir haben doch sowieso ein Zimmer leer stehen, da kannst du bleiben. Wenn es dir wieder gut geht, finden wir schon was für dich!

    Karls rechte Augenbraue wandert ebenfalls dem Scheitel zu. Er schiebt das Tablett mitsamt Tisch zur Seite.

    „Ich meine ..., fährt sie fort, „ich meine, wir sind doch eine Familie. Da muss man zusammenhalten und sich helfen. Stimmt doch!, schließt sie fast trotzig, und ihre Haltung lässt eine Widerrede sowieso nicht zu, selbst wenn er widersprechen wollte – und könnte.

    „Tja, unterstützt nun der Arzt den Trachtenengel, beide treten auf wie ein gut geöltes Fernseh-Duo: „Ich finde, Sie sollten das Angebot Ihrer Schwester ruhig annehmen. Zunächst mal jedenfalls. Später kann man weiter sehen.

    Es ist nur zu deutlich. Hier möchte man ihn loswerden, wahrscheinlich wird sein Bett gebraucht, er wird zu teuer, er ist zu asozial – oder was auch immer. Auf die Straße setzen will man ihn in seinem noch halbkranken Zustand auch nicht. Da ist die Schwester eine willkommene Lösung. Ihn fragt man nicht. Er wehrt sich nicht und sagt auch nichts.

    Ganz erstaunlich, wie wehrlos Menschen werden, wenn man nichts sagt, wenn man einfach schweigt. Auf Widerspruch sind sie gefasst und haben sofort Argumente parat, bei Zustimmung gibt es ohnehin kein Problem. Aber wenn man schweigt, bringt man sie völlig aus dem Konzept.

    Das ist ihm nicht neu. Er hat jetzt bereits lange erprobt, was er mit Nichtsprechen, mit der Sprache der Augen, mit verschiedenen Gesichtsausdrücken bewirken kann. Es ist fast überall gleich: Je deutlicher er schweigt, desto mehr quatschen die anderen. Es ist, als meinten sie, für ihn mitreden zu müssen. Freiwillig und ganz ungebeten übernehmen sie seinen Redeanteil. Manchmal sogar seine Argumentation, oder besser gesagt, das, was sie denken, dass er denkt. Grandios.

    Die meisten Angelegenheiten erledigten sich ohne sein Zutun. Die anderen fochten alles mit sich selber aus, fanden Argumente und Gegenargumente; am Ende drehten sie das Ding so, wie sie es haben wollten.

    Das kennt Karl schon.

    „... und letztlich, bringt der Arzt seine Rede zum Abschluss, „können Sie froh sein, eine solche Schwester zu haben! Also: Alles Gute, unseren Abschlussbericht schicken wir dann Ihrem Hausarzt zu – oder, äh ...?, wendet er sich hilfesuchend an die andere Hälfte seiner Mannschaft.

    „Ja, die Adresse reiche ich noch rein", vollendet seine Schwester beflissen.

    „Ja, also noch mal: Alles Gute! Und sollten Beschwerden auftreten, Erbrechen zum Beispiel, oder falls die Kopfschmerzen nicht aufhören: Schön den Arzt aufsuchen!"

    Der weiße Engel verabschiedet sich mit einem Händedruck von seiner Hilfs-Schwester. „... und kommen Sie bloß nie wieder hierher", zieht er den Nachsatz hinter sich her.

    Karl weiß im Moment nicht: Hat der das wirklich gesagt, hat er das nur gemeint zu hören, oder entwickelt er seit Neuestem telepathische Fähigkeiten?

    Sowie ihr Counter-Part aus der Tür ist, instruiert Michaela ihn noch, sich am nächsten Morgen ein Taxi zu nehmen. Einen Zettel mit Adresse und Geld legt sie ihm auf den Nachttisch. Verschwindet.

    Karl lehnt sich zurück und schließt die Augen. Appetit hat er jetzt keinen mehr. Das bewahrt ihn allerdings nicht vor einem Vortrag seines Zimmergenossen über sein großes Glück, eine solche Schwester zu haben, über die Freundlichkeit der Ärzte, und ...

    Ein unter halb geschlossenen Lidern hervorgeschossener, gut gezielter Blick voller Verachtung bringt den anderen abrupt zum Schweigen.

    Max

    Max legt den Hörer auf: Na super, der Tag fing ja gut an – gleich am frühen Morgen ein Anpfiff von einem Kollegen. Nun gut, Zusammenarbeit mit egobeladenen Juristen klappte nicht immer so wie man es sich wünschte.

    Stirnrunzelnd wendet sie sich der aufgeschlagenen Akte zu, die vor ihr liegt, tippt die Aufforderung an ihren Sekretär in ihr iPad, er möge den nächsten Mandanten hineinbitten.

    Zügig öffnet sich die Tür, und herein kommt ein asiatisch aussehender Mensch mit zwei weiteren asiatisch aussehenden Menschen im Schlepp, alle drei tadellos in Maßanzüge gekleidet.

    Max wuchtet ihr nicht unerhebliches Gewicht aus dem bequemen Stuhl, den sie extra für ihre Bedürfnisse hat anfertigen lassen. Sie geht dem Klienten und seinen Begleitern entgegen. Sie begrüßt alle drei mit Handschlag und fordert sie mit einer Geste auf, in der rotledernen Sitzgruppe, die sich in einer Ecke ihres geräumigen Büros befindet, Platz zu nehmen.

    Platz nimmt jedoch lediglich der Chef; seine zwei Lakaien stellen sich in gebührendem Abstand hinter ihm auf.

    Max holt Unterlagen und Stift dazu und setzt sich ihrem Mandanten gegenüber. Sie lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie bietet Kaffee und Tee an, er lehnt mit einer herrischen Geste ab.

    „Was du gemach um mich frei zu mache von Gefängnis?", erkundigt er sich höflich.

    Max senkt den Kopf ein wenig, weiterhin bleibt sie freundlich, runzelt jedoch fragend die Stirn – ein sicheres Verfahren, um ihrem Gegenüber zu signalisieren, dass er sich auf dem Holzweg befindet.

    „Was hast du gemach um mich frei zu mache von Gefängnis?", rattert der Mann im selben Tonfall.

    „Herr Chang, ich verstehe nicht recht?"

    Max zieht die Augenbrauen zu einer steilen Falte zusammen, jetzt nicht mehr ganz so freundlich.

    „Was du gemach?", fragt Herr Chang erneut, nun auch nicht mehr ganz so freundlich.

    Max setzt

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