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Das Haus des Architekten: Eine Erzählung aus der Wesermarsch
Das Haus des Architekten: Eine Erzählung aus der Wesermarsch
Das Haus des Architekten: Eine Erzählung aus der Wesermarsch
eBook312 Seiten4 Stunden

Das Haus des Architekten: Eine Erzählung aus der Wesermarsch

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Über dieses E-Book

Der Priester Alfons Montblanc ist Gast bei seinem Bruder, dem großen Architekten Gerald Montblanc, der in der Wesermarsch lebt. An diesem Abend zieht ein Sturm über die auf. Die beiden Brüder und die Frau des Architekten, Elisa, würden wohl ein weiteres ereignisloses Abendessen erleben, bei dem die Geheimnisse der Montblancs unausgesprochen geblieben wären, wenn es nicht plötzlich an der Tür klingeln würde. Tina Berger, eine neue Nachbarin, ist trotz des Unwetters zu ihnen gestoßen. Sie wohnt in einem der Häuser, die Gerald Montblanc mit seinen rätselhaften Fähigkeiten konstruiert hat. Einer Fähigkeit, von der keiner weiß, woher sie kommt und welche Gefahren sie birgt. Denn er vermag Seelenkarten von Menschen zu zeichnen, die es ermöglichen, Häuserpläne sehr genau den Bedürfnissen seiner Kunden anzupassen. Aber was würde passieren, wenn in eines seiner Häuser neue Menschen einzögen. Zum Beispiel in das eines Mörders?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum15. Juli 2018
ISBN9783746742878
Das Haus des Architekten: Eine Erzählung aus der Wesermarsch
Autor

Oliver Peters

Aufgewachsen in Esens (Ostfriesland) und Bad Bederkesa. Seit 2013 lebt Oliver Peters in der Wesermarsch und arbeitet als freier Autor.

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    Buchvorschau

    Das Haus des Architekten - Oliver Peters

    1

    Über der Nordsee türmten sich vor kobaltblauem Himmel dunkle Regenwolken und drängten ins von der schwülen Hitze des Tages eingekesselte Marschland der Unterweser. Der Wind blies heiß vom Meer und beugte die ausgetrockneten Pflanzen der Gärten und Weiden. Ein tieffliegender Schwarm Spatzen zog über eine karge Landschaft, die von fernen Baumlinien eingefasst war - drei kaum sichtbare, dünne, grau-grüne, nach hinten hin im Dunst sich auflösende Reihen wie aus Papier geschnitten, das sich mit Farben des fernen Dunstes mischte.

    Alfons Montblanc stand auf der Terrasse seines Bruders, rauchte und blickte auf die Szenerie. Der Wind nahm zu, bauschte sein volles, schwarzes Haar und zerrte an seinem Priesterkragen. Das metallene Licht blendete ihn und seine fahle Gesichtshaut zeigte Anstrengung. Er kämpfte gegen einen stechenden Schmerz in den müden Augen und schwitzte. Bald würde das Unwetter sie erreichen.

    Vorhin hatte er vom Deich aus gedankenverloren auf den Fluss gesehen. Auf der Deichkrone stehend konnte man bis Bremerhaven blicken. Er war noch kurz am Strand gewesen. Das drohende Gewitter hatte sich schon abgezeichnet. Es war selbst am Wasser so schwül gewesen, dass er seine Jacke über dem Arm getragen hatte. Dann war er zur Villa seines Bruders Gerald gefahren, 8 Kilometer - im Rückspiegel waren die Kräne vom anderen Weserufer immer weiter geschrumpft.

    Er fragte sich, was seinen Bruder Gerald, den großen Architekten, in diese Gegend gezogen hatte. Der Baukünstler aus den einschlägigen Magazinen, dessen Werke die Fachwelt zugleich in Atem hielt sowie vor Rätsel stellte und der gerade in diesem Moment in der Küche werkelte und kochte.

    Alfons sah die Weiden, die sich vom Fluss aus östlich der Strand- und Deichlinie bis 15 Kilometer tief ins Land erstreckten. Ein dem nahen Meer abgetrotztes Stück Erde, ein raues Land, das seinen Ursprung fühlbar machte und in das der Wind ständig das Klima, die Gerüche und Salz der Nordsee trug. Jetzt türmten sich Ambosswolken am Himmel. Noch nie hatte er eine so dunkle Schattierung gesehen, während er noch in der Sonne stand. Blitze zuckten durch Teile der dunklen Wolkenfront.

    Der sich zum Westen dehnende Deich nur ein stärker gezeichneter Strich. Auf der anderen Flussseite lag ein Hafen- und Industriegebiet. Silos und Containerbrücken ragten keck über die Deichlinie. Brake. Die Berufskollegen seines Bruders lebten allesamt in den großen Städten Europas, die sie inspirierten. Nur er zog Kraft aus diesem kargen Stück Natur.

    War es vielleicht der Fluss? Er vermochte Alfons immerhin zu faszinieren. Gerald sprach manchmal von ihm. Unter dem Einfluss der Gezeiten war sein Anblick stets Veränderungen unterworfen. Und schlängelte doch ruhig bis zum Horizont. An seine Ufer schlugen bei Flut seit Jahrhunderten die Wellen, durchbrachen bei Hochwasser die Schilflinie oder hinterließen bei Ebbe eine komplizierte Struktur aus Schlick und Wasserwegzeichen. Das fesselte Alfons. Die Motive seines Bruders aber blieben ihm verschlossen.

    Gerald, dessen Frau Elisa und er sahen sich alle drei Monate und pflegten - etwas erzwungen - einen Kontakt, der sonst sicher einzuschlafen drohte. Alfons Montblanc musste zugeben, ohne Elisa, die ihm in diesem Moment beim Rauchen auf der Terrasse Gesellschaft leistete, wäre das wahrscheinlich schon längst geschehen. Er überlegte, ob sie nur rauchen durfte, wenn sie Gäste hatte. Es würde zu Gerald passen. Der Hausherr duldete keinen Rauch oder offenes Feuer im Haus.

    Während Alfons durch die Mundwinkel den vom Wind schnell verwirbelnden Tabakqualm entließ, studierte Elisa sein Profil. Mit angewinkeltem rechten Arm, den sie mit der linken Hand stützte, hielt sie ihre Zigarette, lehnte an der Wand und wirkte kokett. Alfons hatte in ihren Augen über die Jahre an Attraktivität nichts verloren. Sie kannten sich seit der Uni, das lag über 25 Jahre zurück. Damals mischten sich seine gleichmäßigen Gesichtszüge mit ernsthafter Zurückgezogenheit, was bei vielen der Kommilitoninnen für Aufregung sorgte. Jetzt hatte die Schwere seiner moralischen Gedanken Furchen in sein Gesicht geschnitten.

    Im Gegensatz zu seinem Bruder war er rasiert und sein breiter Mund verzog sich häufiger zu einem feinen, vielleicht bitteren Lächeln. Und sicher war auch seine Haut durch die Zigaretten schneller gealtert, während Gerald rotbackig die falsche Gesundheit derer ausstrahlte, die durch Büroarbeit geschützt lebten.

    Der größte Unterschied zwischen den Brüdern lag in der katholischen Amtskleidung, die Alfons trug. Elisa rollte nervös ihre Zigarette zwischen den Fingern.

    »Ist Rauchen nicht eine Sünde?«, fragte sie spöttisch. Alfons zeigte einen milden Blick. Sein volles Haar lag nun wirr verkrüselt und der Wind zog mit unsichtbarer Hand an seiner Jacke, als ob er sie öffnen wollte.

    »Es ist komisch. Höre ich mit den Kippen auf, werde ich starrköpfig. Hart. Ich verliere meine Eleganz. Ich bin sicher, der Herr möchte lieber, dass ich mir meine guten Eigenschaften bewahre, um seinen Aufgaben nachzukommen.«

    Elisa lachte. Sie hatte makellose Zähne, deren Weiß sich von der Sonnenstudiobräune ihres Gesichts abhob. Sie war schlank, aber nicht mager. Ca. 50 Jahre alt und trug ihr dunkelblondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, streng nach hinten gekämmt. Sie wirkte sportlich und häuslich zugleich, wozu die legere, weit fallende Freizeitkleidung beitrug. Man konnte ahnen, dass sie in einem Abendkleid atemberaubend auszusehen vermochte. Sie genoss scheinbar den Wind, was ihr etwas Sinnliches gab.

    »Es scheint, Glaubensfragen sind einfacher, als ich dachte. Mit solchen Argumenten kann man sich gewisse Spielräume schaffen.«

    »Tja. Wir Menschen haben doch alle diesen Hang zur Doppelmoral, Elisa. Wer glaubt, davon frei zu sein, der versündigt sich durch die Vorstellung, selbst ein Gott zu sein.«

    »Oh je, das klingt düster, Alfons. Denkst du denn, ich habe auch eine doppelmoralische Seite?«

    Alfons drückte seine Zigarette aus, schaute nach seinem Bruder und trat dann, als er ihn in sicherer Entfernung wusste, einen Schritt an Elisa heran. Mit einem Finger hob er ihr Kinn und küsste sie fast auf den Mund. Elisa ließ ihre Zigarette fallen und wollte nach Alfons greifen, doch er war zurückgetreten und klopfte etwas Asche von seinem schwarzen Pullover.

    »Die Frage beantwortet?«

    »Warum bist du bloß Priester geworden?«, seufzte sie, drückte mit dem Fuß den Zigarettenstummel am Boden aus, hockte sich hin, hob ihn mit den Fingerspitzen auf und legte ihn in den Aschenbecher. Als hätte sie etwas Schmieriges berührt, rieb sie sich angeekelt die Daumen und Zeigefinger.

    »Das habe ich dir doch erklärt.«

    »Die Suche nach Gott, Alfons? Wie weit bist du damit gekommen?«

    Er steckte die Hände in die Hosentasche und atmete tief ein. Natürlich hatte er ihr nie alles erzählt. Er stieß die Luft geräuschvoll aus.

    »Langer Weg. Braucht viel Geduld. Es scheint, man muss in viele Sackgassen gehen, bevor es was wird. Vielleicht erscheint es dir ja, als stünde ich noch am Anfang. Vielleicht hast du sogar recht damit. Im Moment denke ich sogar, dass die ganze Konzeption ein Irrtum ist.«

    »Konzeption? Du meinst die von Gott?«

    »Vielleicht geht es ja um etwas Mystisches ganz allgemein«, meinte er nachdenklich, als er wieder ins Land blickte. »Dinge, die wir mit unseren Begriffen allein nicht erklären können. Als ob es mehr gäbe als nur diesen Gott. Ich weiß es nicht, Elisa«, sagte er resigniert, schaute zu Boden und schwieg. Er ahnte, dass er mit Andeutungen nicht weiter kam. In ihm drängte es, mehr zu erzählen. Doch er zögerte.

    »Du warst immer ein Grübler. Vielleicht machst du es dir auch doppelt schwer. Und bestimmt ist es nicht klug, mit deinen Zweifeln ausgerechnet zu Gerald zu kommen.«

    Nein, dachte er. Das wäre wirklich nicht klug gewesen. Aber er war ja auch nicht gekommen, weil er von seinem Bruder Hilfe erwartete. Er blickte wieder auf.

    »Obschon er ein tolles Untersuchungsobjekt ist, oder?«, erwiderte Alfons. »Guck mal, all die Jahre habe ich geglaubt zu wissen, woher Geralds Gabe kommt. Aber nicht, ob das, was Gerald mit seinen Häusern treibt, aus theologischer Sicht noch Kunst ist. Oder doch nur ein Trick, ein Spiel mit Kräften der - ja, man kann wohl sagen: Gegenseite. Ein Spiel, das mein Eingreifen erforderlich macht.«

    Elisa lachte erneut und schüttelte den Kopf.

    »Was heißt das, du weißt, woher es kommt?«

    Alfons zuckte mit den Achseln. »Ich bin immerhin mit Gerald aufgewachsen.«

    Sie dachte nach und holte tief Luft. Die Wolkenfront hatte sich weiter genähert, verdeckte nun den letzten Rest des Himmels und verbarg die Sonne. Sie spürte in ihrer leichten Kleidung den Temperatursturz.

    »Sei ehrlich, Alfons. Du glaubst an den Teufel, oder? Und denkst, Gerald hat einen Pakt mit ihm?«

    »Es ist doch so, dass du nicht an Gott glauben kannst, ohne auch an den großen Widersacher. Wenn der Teufel dahintersteckt, müsste ich mich allerdings schon sehr getäuscht haben. Aber wer weiß?«

    Elisa holte stirnrunzelnd eine weitere Zigarette aus einer Schachtel und hielt die Packung Alfons auffordernd hin. Er zögerte kurz, dann griff er zu. Er schätzte ihre pragmatische Sichtweise auf das Leben, die seiner so entgegengesetzt war.

    »Ich weiß nicht. Gerald hat seine Macken, aber ob er mit dem Teufel im Bunde ist, das glaube ich nicht.«

    »Kein Schwefelgeruch manchmal?«

    Elisa lachte. »Nein, kein Pferdefuß.«

    »Sein Kleiderschrank - eine Forke darin? Vielleicht ein Cape?«

    »Hör auf«, kicherte Elisa und blickte Alfons versöhnlich an.

    »Und das ist, woran du glaubst? Ernsthaft?«

    »Nein. Das sind billige Symbole, ganz sicher. Ich glaube, Böses zeigt sich subtiler. Ist versteckt. Genauso wie das Göttliche. Es ist im Alltäglichen getarnt. Manchmal sind beide eng miteinander verwoben. Es braucht einen genauen Blick. Bist du zu nahe dran, erkennst du es nicht. Der ganze Kirchenkrempel, die Meditation, der Gesang, Klosterleben - alles Methoden, um Abstand zu gewinnen und den Blick freizubekommen für diese Erscheinungen von Gott und Satan. Das macht es so schwer«. Er machte eine kurze Pause und schaute wieder auf die Gewitterfront. »Weißt du, was die Leute über die Stürme hier erzählen?«

    »Du sagst es mir bestimmt. Ich kenne nur die Geschichten aus der Zeitung über diesen Landstrich.«

    »Sie sagen, dass bei Stürmen, besonders in der Nacht, die Welt von jetzt mit der des Jenseits durchmischt wird. Unheimlich, oder? Da würde man das Gute und Schlechte gut auseinanderhalten können.«

    »Sicher. Aber es geht um Gerald. Was siehst du bei ihm?«

    »Er ist mein Bruder, Elisa. Allein das verstellt den Blick.«

    Sie nickte. Sie dachte daran, dass sie als Einzelkind aufgewachsen war und keine Expertin für Geschwisterrivalität war. Eigentlich hatte sie immer gedacht, ein Bruder hätte sie schützen können. Sie zog an ihrer Zigarette und erinnerte sich, wie die beiden Brüder vor Jahren in ihr Leben getreten waren.

    »Ich weiß noch, wie wir uns kennengelernt haben. Auf meiner Geburtstagsparty im vierten Semester. Wir saßen im gleichen Seminar, ich habe euch mehr oder weniger zufällig eingeladen und dann brachte Gerald mir dieses unglaubliche Geschenk ...«

    Sie hielt inne und dachte nach. Alfons wandte sich ab.

    »Was ist?«, fragte Elisa besorgt.

    »Und wegen des Geschenks seid ihr euch doch näher gekommen und zum Paar geworden.«

    »Nein«, gab Elisa gereizt zurück. »Ich konnte mich nicht entscheiden, bis du dich dazu durchgerungen hast, Priester zu werden. Und ich wollte nicht auf ein totes Pferd setzten, wenn du verstehst, was ich meine.«

    »Ich meine«, presste Alfons langsam hervor, »die Einladung war sicher kein Zufall. Und er hat genau gewusst, was du dir wünschst. Das hat die notwendige Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt, um dich für sich zu gewinnen. Es war ihm egal, ob ich vielleicht …«

    »Ja?«

    Alfons winkte ab und löschte seine Zigarette. Elisa wurde ernst. »Du redest von Manipulation. Das sehe ich aber ganz anders, mein Lieber.«

    »Es ist die Gabe bei ihm. Er braucht nicht lange, um einen Menschen genau auszutarieren und seine Wünsche zu kennen. Mein Gott, er hat Dinge bei unseren Eltern durchgekriegt, da habe ich mir jahrelang die Zähne dran ausgebissen. Er hat mir einmal erklärt, dass es nicht nur Psychologie sei. Psychologie, meinte er, wäre eine nahezu exakte Wissenschaft im Vergleich zu seiner Veranlagung.«

    »Ich weiß nicht, wie er es macht, Alfons. Er ist mir in einigen Dingen ein Rätsel, aber ich liebe ihn trotzdem. Er hat einfach dieses Talent, diesen Dreh, vor allem als Architekt. Du musst doch sehen, was er erschafft! Seine Häuser!«

    Ja, die Häuser von Gerald Montblanc, dachte Alfons bedrückt. Was war ihr Geheimnis? Man könnte vielleicht sagen: Ein rätselhafter Mechanismus. Zahlreiche kunstwissenschaftliche Artikel zu seinem Werk versuchten zu erfassen, wie unvergleichlich er dem Charakter des Auftraggebers auf den Leib geschnittene Domizile zu schaffen vermochte. Sie seien so passgenau, dass ein jeder, der die Harmonie zwischen den Bauwerken und ihren Besitzern erkannte, sofort ausrief: Das ist ein Montblanc!

    Gerald hatte es in einem Interview einmal so beschrieben: Verwinkelte Seelen brauchen verwinkelte Häuser, großzügige Geister ebensolche Räume, ängstliche Wesen verlangten Schutz durch hohe Mauern, kleine Fenster sowie Panikräume, während Draufgänger schließlich gewagte Formen bevorzugten.

    Gerald Montblanc schuf nicht nur statisch durchkalkulierte Unterkünfte und verlieh ihnen eine ästhetische Akzentuierung. Scheinbar bot er den Besitzern einen Spiegel ihrer selbst. Es waren Räume, die ihren verborgenen Träumen, ihrer Formel vom Leben entsprachen und sich mit ihren Bewohnern zu verbinden schienen.

    Erwartungsgemäß musste man für seine Schöpfungen Geld aufbringen wie für andere Kunstwerke auch. Dafür bekam man zweifelsfrei einen Ort geschenkt, der kein geringeres Prädikat als das der Heimat verdiente. Wer sein Haus vom Architekten Montblanc entwerfen ließ, berichtet vom Gefühl, am Ziel zu sein. Sich verstanden zu fühlen. Es ging die Rede vom Glück!

    Wie Diamanten im Dreck lagen die Häuser des Architekten in der Marschlandschaft, hell erleuchtet und vom perlenden Gelächter ihrer Bewohner umspielt, umgeben von der Jahrhunderte alten Landschaft, die sie einkapselte. Leise Feuchtigkeit aufsog, sie in die Gräben tröpfeln ließ. Stück für Stück, Tag für Tag.

    »In seiner Studentenbude«, sagte Alfons, »baute er an einer Art Altar, auf dem er verschiedene Personen ›zergliederte‹, wie er das meinte. Und das sah manchmal verdammt nach Voodoo aus.«

    »Voodoo?«

    »Na ja, komische Rituale halt. Ich bin nicht sicher, ob er das heute immer noch betreibt, um diese unglaubliche Trefferquote bei seinen Kunden zu erreichen. Diese Passgenauigkeit der Häuser, von denen sich keiner trennen mag. Es ist eine Gabe. Aber ist sie von Gott? Ich frage mich das immer wieder!«

    »Was lässt dich dran zweifeln?«

    »Ich hätte erwartet, dass ein Mensch mit seinen Fähigkeiten eher als ich zum Priester wird. Zu einem Wohltäter. Er könnte seine Magie dafür nutzen, den Menschen Orientierung zu geben. Aber er hat sich für die freie Wirtschaft entschieden. Von Anfang an! Und das, obwohl ich häufig genug zu erkennen glaube, er weiß gar nicht, was er da tut!«

    Elisa kicherte. »Das ist doch der schiere Bruderneid, oder?«

    Alfons hob ergeben die Schultern.

    »Ich sage ja, beim eigenen Bruder ist der Blick verstellt.«

    »Was sagt er denn selbst dazu?«

    »Ich habe ihn nie gefragt. Er würde es mir sicher nicht sagen.«

    »Ihr habt beide die Gabe, Menschen glücklich zu machen. Nur du hast dich für den Weg der Kirche entschieden, er macht es als Kreativer und Selbstständiger.«

    »Es ist noch etwas anderes, glaube ich.«

    »Er hat sich für einen Weg mit Frauen entschieden, du für einen Weg ohne Frauen?«

    Alfons spürte einen Stich im Herz. Er flüsterte: »Du bist unverbesserlich.«

    Sie schritt auf Alfons zu und betastete das Revers seines Jacketts.

    »Ich gebe zu, ich war zwischen euch beiden unentschieden und am Ende fiel meine Wahl auf Gerald.«

    »Nein, das ist es nicht ...«, wehrte sich Alfons.

    »Aber vielleicht nicht so sehr, weil er so viel getan hat«, beharrte Elisa, »sondern auch, weil du, wie soll ich sagen … so wenig tatest. Du hattest ihm, denke ich, bereits den Sieg überlassen. Umso mehr, weil du immer meintest, ein Leben im Zölibat verbringen zu wollen. Was denkst du, wie das auf eine Studentin wirkt?«

    Vorsichtig nahm Alfons ihre Hand und führte sie von sich weg. Er seufzte und wirkte plötzlich noch müder als vorher.

    »Brüder haben ohnehin ein enges Band, egal wie das Leben spielt. Ich liebe ihn, was er auch anstellt. Aber das heißt nicht, dass ich übersehe, wie er Menschen für sich einnimmt. Vielleicht hast du recht, vielleicht habe ich damals nicht richtig gehandelt und resigniert. Aber sauber ist sein Spiel nicht. «

    Elisa löschte ihre Zigarette.

    »Ich habe ihn immerhin geheiratet.«

    »Oh ja. Und ich habe euch getraut.«

    »Was meinst du also?«

    Alfons dachte einer plötzlichen Eingebung folgend, dieser Besuch würde vielleicht anders werden als die der zurückliegenden Jahre.

    »Bist du glücklich?«

    Elisa blickte Alfons an. Sein zerzaustes Haar gab ihm sein jugendliches Aussehen von damals wieder. Noch bevor sie antworten konnte, öffnete sich die Terrassentür und Gerald stand im Rahmen, umweht von weißen Vorhängen. Er trug einen grünen Kaschmirpullover und beige Canvas. Missmutig blickte er in den Himmel.

    »Wo bleibt ihr? Das Essen ist fertig.«

    Sie gingen ins Haus. Elisa blieb ihre Antwort schuldig. Alfons blickte, bevor er ins Haus ging, noch einmal zurück. Dunkelheit lag schwer über dem Land. Entfernt sah er die Lichter in einigen Häusern, als er die Tür vor dem Unwetter verschloss. Gleich darauf begann der Platzregen.

    2

    Während sein Bruder und seine Frau sich auf der Terrasse unterhalten hatten, hatte Gerald diverse Gewürze vorbereitet, um ein indisches Massala zuzubereiten. Er folgte einem Rezept von Jamie Oliver. Das Reiben der Ingwerwurzel und des Knoblauchs nahm am meisten Zeit in Anspruch, Koriandersamen hätte er gemahlen kaufen können, bevorzugte aber, sie für ein intensiveres Aroma frisch zu zerstoßen. Auch nahm er mehr Gasam Massala als im Rezept empfohlen und empfand es immer wieder heikel, die Senfkörner im heißen Öl anzubraten, bis sie aus der Pfanne zu springen begannen. Tänzerisch schob er die Körner in die Gewürzmischung und gab, nachdem er alles kräftig verrührt hatte, die Hälfte davon in Naturjoghurt und verrührte die Masse, um die Putensteaks darin 30 Minuten zu marinieren. Den Rest schlug er in die Pfanne, schnitt eine Zwiebel in Scheiben und mischte sie unter die Gewürze. Nach 15 Minuten gab er Wasser, Tomatenmark und geriebene Mandeln dazu, kochte die Sauce sämig und krönte sie mit Sahne, während er die Putensteaks fertig briet. Nachdem er alles mit Reis angerichtet, den Koriander gerupft hatte und in einer extra Schüssel bereitstellte, trocknete er sich die Hände, als ihm die Limetten einfielen, deren Saft er noch schnell auspresste und servierte. Bei allen Verrichtungen schwieg er, hörte keine Musik oder pfiff ein Lied. Er lauschte sich und den Geräuschen und duldete keine Besuche in der Küche.

    In ihm wohnten zwei Extreme. Die Intensität des kreativen Schaffens, die von seiner Durchlässigkeit für die inneren Stimmen der Menschen getragen war. Dieser Teil war beunruhigend, chaotisch und für ihn nur schwer beherrschbar. Er glich einem Feuer, das den erdrückenden anderen Teil in ihm zurückdrängte. Die tiefe, dunkle, schwarz-grün oszillierende, alles durchmessende Leere. Aus der er gekommen war. Und in das er wieder eingehen würde. Beim Kochen war er in Balance. Seine unruhigen Gedanken standen still. Er war weit genug vom Feuer, um von dessen unruhigen Flammen nicht versengt zu werden, doch nah genug, um nicht in die Leere zu stürzen. Es fiel ihm schwer, diesen Zustand herzustellen, der es ihm ermöglichte, mit Menschen in gutem Kontakt zu sein. Kochen war eine Möglichkeit, ins Gleichgewicht zu kommen. Der gebürstete Stahl der Küche erdete ihn. Wenn er kochte, sprang eine schmale Tür zu seinem Inneren einen Spalt auf. Er war dankbar für Alfons Besuche, um ihn in Übung dazu bleiben zu lassen.

    Gerald Montblanc hatte es aus diesen Gründen auch zu einer gewissen Meisterschaft in der Küche geschafft! Alfons meinte, ein Teil seiner geheimnisvollen Gabe floss sicher auch in die Kochkunst und er konnte sich - ansonsten eher zurückhaltend beim Essen - auf ein sinnliches Erlebnis freuen. Gerald wirkte beschäftigt und konzentriert, als er seine Frau und seinen Gast zu Tisch bat. Dieser Kontrast, dachte Alfons. Der Muffel würde es in einer überfüllten Straßenbahn schaffen, dass sich niemand neben ihn setzte. Und doch schuf er immerfort wunderbare Dinge.

    Alfons war in Gedanken noch beim Gespräch auf der Terrasse. Was wusste er wirklich über Geralds Arbeit? Über die Aufgaben eines Architekten? Der durchschnittliche Vertreter seines Standes berechnete Häuser auf dem Papier, schuf zweidimensionale Schemata für dreidimensionale Träume, zog Strich für Strich spätere Anweisungen für Baufirmen. Die eigentliche Kunst lag doch darin, zwischen menschlichen Wünschen, ihren noch unformulierten Bedürfnissen, baulichem Zwang und gesetzlichen Vorgaben zu vermitteln.

    Gerald aber hielt sich sicher nicht mit den üblichen Aufgaben seines Berufs auf. Er tat unendlich viel mehr und erstaunte die Fachwelt, indem er sich einer Fähigkeit bediente, die sein gut gehütetes Geheimnis blieb. Die Alfons kannte und nicht begriff. Gerald blickte mit ihr tiefer in die Wunschwelt der Menschen als jeder andere. Gerald verflocht die Arbeit eines Architekten mit einer hochabstrakten Technik. Ein Kultus, dessen Vervollkommnung Alfons seit ihrer gemeinsamen Jugendzeit verfolgte. Es war etwas, was mittlerweile tiefstes klerikales Unbehagen bei ihm auslöste.

    Sie setzten sich an den großen Tisch und Alfons fragte sich, während er seine Serviette ausschüttelte und Elisa zulächelte, ob Geralds Talente das Einzige waren, was sie trennte; ihn, den unsicheren Kleriker und Gerald, den völlig von sich überzeugten Architekten. Und während Gerald etwas unbeholfen einen Kellner mimte, der seine Gäste bewirtete, rekapitulierte Alfons, was er über die Methoden seines Bruders sagen konnte.

    Womit begann es? War es der hohe Preis der Auftraggeber, über das Geheimnis seiner Häuser schweigen zu müssen? Die Kunden bekamen als Antwort auf das Vorgespräch die Konstruktion des Hauses auf Papier und im Modell. Nur eine vorwegnehmende Andeutung auf die Glückseligkeit, aber für die meisten Kunden schon eine unwiderstehliche Verheißung. Gerald nannte die Basis seiner Berechnungen seine Seelenkarten. Immer stimmten die

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