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Tod eines Ruderers: Kommissar Berendtsen
Tod eines Ruderers: Kommissar Berendtsen
Tod eines Ruderers: Kommissar Berendtsen
eBook342 Seiten4 Stunden

Tod eines Ruderers: Kommissar Berendtsen

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Über dieses E-Book

Auf dem Lippedamm beobachtet eine Frau das Kentern eines jungen Ruderers bei seinem Training. Die Wasserschutzpolizei nimmt den Unfall auf. Auf persönlichen Wunsch der Polizeipräsidentin Vera Zimmermann untersuchen die Hauptkommissare Berendtsen und Hallstein den Trainingsunfall dieses Profis, einem Mitglied des Trainingszentrums an der Lippe. Wegen der Strömung wird die Leiche erst drei Tage später gefunden. Es stellt sich heraus, dass ein Fremdverschulden nicht auszuschließen ist.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum12. Nov. 2020
ISBN9783752921953
Tod eines Ruderers: Kommissar Berendtsen
Autor

Gerhard Nattler

Nach naturwissenschaftlichem Studium und Aufenthalten in Süddeutschland, der Schweiz und Münster / Westf. ist der Autor in seine Heimatstadt Dorsten zurückgekehrt und hat 30 Jahre lang einen Betrieb aufgebaut und geführt. Nach dessen Verkauf hat er mit dem Schreiben angefangen.

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    Buchvorschau

    Tod eines Ruderers - Gerhard Nattler

    1. Kapitel – Montag, 9. September

    Dr. Klara Kötter war nicht mehr die Schnellste, auch nicht die Jüngste, aber sie war rüstig und fit und fühlte sich noch lange nicht zum alten Eisen gehörig. Die Hüftoperation hatte sie gut überstanden. Seit einigen Tagen lebte sie wieder in ihren eigenen vier Wänden. Sie hatte einen ersten kurzen Spaziergang unternommen, um den Gang mit ihren neuen Gehstöcken zu testen. Auf einer Bank auf dem Deich unweit der Hervester Brücke hatte sie eine kleine Pause eingelegt und träumte in der warmen Sonne des Spätsommers vor sich hin. Sie stellte fest, dass der Kirchturm der Agathakirche durch den Neubau einer Fabrik mit einem Hochhaus und hoch aufragenden Rohren im Gewerbegebiet von hier aus nicht zu sehen war. Sie hatte noch nie auf dieser Bank Platz genommen. Wenn sie mit ihrem Mann einen Spaziergang machte, wurden es größere Distanzen, wenn sie nicht gerade in die andere Richtung gingen.

    Ihr Haus befand sich an der Blumenstraße auf einem großen, weitläufigen Grundstück, das an die nördlich der Lippe gelegenen Wiesen grenzte. Im Vorgarten grünte und blühte es von Februar bis in den Oktober. Ganz wie es der Name der Straße erforderte. Hinter dem Haus, nach Süden gelegen, verfügte das Anwesen über einen großen, teils der Natur überlassenen Garten. Von der Terrasse aus hatte man freie Sicht über die Lippeauen bis zum Kirchturm der Agathakirche, dessen Turmspitze über den Deich und die ersten Dächer der Stadt hinausragte. Der Ausblick war ihr sehr vertraut, denn sie hatte schon als Kind in diesem Haus gewohnt, das sie nach dem Tod ihrer Eltern behalten hatte, obwohl ihr so mancher Verwandte davon abgeraten hatte. Inzwischen hatte sich der Turm zweimal verändert. Nach dem Krieg stand er lange Zeit ohne Spitze da, aber heute strahlte diese in der Sonne mit ihrer glänzenden Patina. Das Haus war aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und sie stellte die vierte Generation, an der es lag, das alte Gutshaus zu erhalten. Sie würde es ihren beiden Kindern vererben, bei denen sie die Tradition des Anwesens gut verwahrt glaubte. Sie dachte an ihre Kinder. Benedikt und Annalena mochten das Haus. Beide waren fleißig und nicht dumm, hatten ihr Abitur ohne eine Ehrenrunde gemacht und befanden sich im Studium. Zurzeit verfeinerte Benedikt seine Kenntnisse auf dem Gebiet des Ruderleistungszentrums in Dortmund. Seine Schwester war leidenschaftliche Radsportlerin und erweiterte ihren Horizont im Zentrum für Radsport an der Universität in Halle an der Saale.

    Das Rattern eines Motorrades riss sie aus ihren Träumen. Das gleißende Sonnenlicht blendete sie einen Moment. Sie zog die Sonnenbrille, die sie wie einen Haarreif in ihrer Frisur stecken hatte, vor die Augen und erschrak bis ins Mark. Unter der Brücke trieb ein Kanu kieloben und dahinter rang ein Mensch um sein Leben. Er versuchte, sich mit letzter Kraft an seinem Boot festzuklammern, aber er schaffte es nicht. Es war glatt und bot keine Angriffsfläche. Er trieb mit dem Strom. Das Kanu gewann Abstand.

    Eine Person mit einem Motorradhelm knatterte mit einer Vespa auf dem Leinpfad von der Brücke in ihre Richtung. Sie blickte zu ihr hoch, fuhr vorüber. Ein Gesicht war unter dem dunklen Visier nicht zu erkennen.

    Die Person im Fluss war ein Mann. Als er an ihr vorübertrieb, erkannte sie Blut und ahnte als erfahrene Ärztin, dass er es nicht schaffen würde. Sie suchte instinktiv nach ihrem Handy, das sie jedoch nicht bei sich trug, weil sie wegen der Gehhilfen auf ihre Handtasche verzichtet hatte. Sie hastete so gut es ging nach Hause. Trotz aller Anstrengungen brauchte sie zwanzig Minuten. Sie hatte Mühe, auf ihren Krücken stehend die Terrassentür aufzuschieben. Theo hatte sie vollständig zugezogen.

    »Polizei! Theo, wir müssen die Polizei anrufen!«, hustete sie außer Atem. Draußen kämpft jemand um sein Leben! Er treibt in der Lippe.«

    Theo hatte von all dem nichts mitbekommen. Er telefonierte mit der Uni. Sie bedeutete ihrem Mann, den Hörer aufzulegen, aber er winkte ab, zeigte mit verkniffenen Augen an, dass er Mühe hatte, das Gespräch zu verfolgen. Daher griff sie in das Seitenfach der kleinen braunen Handtasche, die auf der Garderobe lag und fischte ihr Handy heraus. Sie drückte auf Notruf und regte sich über die Frage des Telefons auf: »Soll der Notruf gewählt werden?« Sie bestätigte.

    »Notruf der Polizei. Mein Name ist Rosemarie Günther«, meldete sich eine Frauenstimme.

    »Hier spricht Dr. Klara Kötter aus Dorsten«, begann sie mit ihrer Ausführung, gab ihre Adresse durch und beschrieb ihre Beobachtung.

    Sie solle sich beruhigen und zur Verfügung halten, mahnte die Stimme. »Ich werde sofort zwei Kollegen zu Ihnen schicken! « Sie wiederholte noch einmal die Adresse. Klara Kötter stimmte zu.

    ****

    Es vergingen zwanzig Minuten bis zwei Leute der Wasserschutzpolizei eintrafen.

    Sie schellten an. Es öffnete eine gepflegte Dame in einer Jeans, grünem Poloshirt und einer dunkelgrauen, ärmellosen Strickweste. Die mit weißen Strähnen durchwachsenen üppigen Haare waren locker zu einem Dutt zusammengebunden und mit einer Sonnenbrille geschmückt. Auf Gehstöcken aus Aluminium gestützt, begrüße sie mit sorgenvoller Miene ihren Besuch.

    »Guten Tag, meine Herren. Sie sind von der Kripo?«

    »Wehling, mein Kollege Tracke.« Sie zeigten ihre Ausweise. »Wir sind von der Wasserschutzpolizei.«

    »Klara Kötter.«

    Sie führte die Herren durch den Flur, das Wohnzimmer, über die Terrasse durch den Garten. Bis endlich die Natursteintreppe erklommen war, dauerte es eine Weile. Klara merkte ihre Hüfte. Sie wollte nur einen kleinen Spaziergang versuchen und nun war die ganze Angelegenheit zu einem Ereignis ausgeartet. Leicht außer Atem durch die mangelnde Bewegung während des Krankenhausaufenthaltes entschuldigte sie sich:

    »Es tut mir leid, meine Herren. Ich bin im Augenblick nicht gut zu Fuß. Bin mit einer neuen Hüfte unterwegs. Die Reha wird mich wieder in Schwung bringen.«

    Wehling sah sich um. »Nun erzählen Sie uns bitte, was sie beobachtet haben.«

    »Ich habe mir etwas Bewegung verschaffen wollen und bin hier auf dem Deich bis dort hinten zur Bank, ungefähr auf halbem Weg von hier bis zur Brücke. Dort habe ich mich ein wenig in die Sonne setzen wollen, um dann wieder umzukehren. Leider bin ich etwas eingenickt, bis mich dieser Vespafahrer mit seinem Geknatter aufgeweckt hat. Ich erschrak über den blutenden Mann in der Lippe neben seinem Kanu, der sich verzweifelt bemühte, sich an seinem Kanu festzuhalten, aber er schaffte es nicht. Es war schier nicht möglich. Wenn er schon nicht ans Ufer gelangen konnte, hätte er unter das Boot tauchen sollen. Dort hätte er Gelegenheit gehabt, sich festzuhalten. Und Luft hätte er auch gehabt, bis das Kanu irgendwo zu Stillstand kommt. Aber das hat er anscheinend nicht bedacht. Oder er hatte nicht die Kraft dazu. Deshalb denke ich, dass er verletzt war. Warum konnte er sich nicht ans Ufer retten? Wir sind als Kinder schon durch den Fluss geschwommen. Es gab sogar weiter in Richtung Stadt eine Badeanstalt.«

    Tracke rutsche mehr als er lief die Böschung zum Leinpfad hinunter und lief ein Stück in Richtung Brücke. Dabei schoss er mit seinem Smartphone einige Bilder.

    »Das sind Reifenspuren von einem Kleinmotorrad,« rief er von unten hoch und hielt dabei die Aufnahmen in Richtung seines Kollegen Wehling und Frau Kötter.

    »Konnten Sie Details der Kleidung erkennen, die der Kanute getragen hat?«, fragte Wehling.

    »Es war ein Trikot mit kurzen Ärmeln, blutverschmiert. Viel mehr war nicht zu erkennen. Er trieb mehr unter als auf dem Wasser. Von Schwimmen kann man nicht reden, eher von unkoordinierten Armbewegungen.«

    »Können Sie die Person beschreiben, die das Mofa gefahren hat?«

    »Es war eine Vespa. Ich kann Ihnen die Person gern beschreiben: Jeans, schwarzes T-Shirt, Integralhelm. Das ist alles. Es wird Ihnen nichts nützen. Aber … ich erinnere mich an die Ziffern des Nummernschildes. Es war drei, drei, drei.«

    »Wunderbar!«, lobte Wehling. Haben Sie vielleicht eine Erinnerung an die Farbe?«

    »Blau, glaube ich, ja stahlblau mit diesem Kofferraum hinter dem Sozius.«

    Wehling gab die Daten an die Verkehrspolizei durch. »Wehling, WSP Dorsten, ich benötige eine Halterabfrage für ein Motorrad. Es handelt sich um eine blaue Vespa mit Topcase. Recklinghäuser Nummer. Die dreistellige Ziffernfolge wird mit drei Dreien angegeben. Die mittleren Buchstaben sind unbekannt. Schicken Sie mir bitte die Daten auf mein Phone.« Wehling kratzte sich ausgiebig den Scheitel.

    »Können Sie auch das Kanu beschreiben? Hatte es eine besondere auffällige Lackierung?«

    »Rot. Der Rumpf des Kanus war überwiegend rot. Der Kiel war schwarz. Das Deck konnte ich aus bekannten Gründen nicht sehen. Über die ganze Seite zog sich ein grün-weißer Streifen hin.«

    »Sie haben eine gute Beobachtungsgabe und ein Gedächtnis, das auch nach einem Schrecken noch funktioniert«, lobte Wehling.

    Tracke blickte auf seine Uhr. »Sie haben den Notruf um 10:31 Uhr abgesetzt, wie ich aus dem Protokoll ersehe. Wir waren um 10:50 Uhr hier vor Ort. Jetzt ist es 11:15 Uhr. Wir sind zehn Minuten hier. Wann haben Sie den Mann entdeckt?«

    »Es war kurz nach zehn Uhr. Die Schläge von Paulus habe ich noch gehört und die Zeit mit meiner Armbanduhr verglichen. Dann bin ich wohl eingenickt. Zwanzig Minuten habe ich gebraucht, bis ich zuhause war und telefonieren konnte.« Klara verwies auf ihre Gehhilfen.

    »Wer ist Paulus?«, fragte Tracke

    »St. Paulus ist die Kirche hier im Dorf.«

    Tracke wurde ein wenig verlegen.

    »Es ist leider viel Zeit verstrichen. Mehr als anderthalb Stunden.« Mit Blick auf den Fluss fuhr er fort: »Bei dieser Strömung ist er schon eine Strecke unterwegs. Wir müssen einen Suchtrupp anfordern.«

    »Am besten mit Unterstützung eines Bootes. Tracke, würden Sie das bitte veranlassen?«

    Tracke hatte die Rufnummern der Einsatzkommandos im Handy. Er verzog sich einige Meter und telefonierte mit Blick auf die Brücke.

    »Es gibt hinter der Kurve eine Stromschnelle. Dort ist das Wasser flacher und in dem Lippebogen stehen viele Sträucher. Vielleicht haben Sie Glück, Herr Kommissar, und finden die Leiche dort.«

    Wehling schätzte die Distanz auf fünfhundert Meter. Er überlegte einige Sekunden und machte sich mit zügigen Schritten auf den Weg. Tracke entschuldigte sich im Vorbeigehen bei Frau Kötter und spurtete hinterher. Klara stelzte in kleinen vorsichtigen Schritten das Pättken, das schon immer die Deichböschung hinunterführte, zu ihrem Haus zurück. Es war inzwischen ein gut begehbarer Sandweg, aber es hieß immer noch Pättken. Es hatte immer so geheißen. Im Garten wartete sie eine halbe Stunde auf die Rückkehrer.

    »Vergebliche Mühe.« Wehling schnaubte mehrmals tief durch. Jogging war nicht sein Ding. Er transpirierte bereits und wedelte mit seiner Jacke, um sich etwas Luftzug zu verschaffen. »Das Kommando ist bestellt und wird in einer halben Stunde hier anrollen. Wir warten derweil im Auto«, erklärte er mit sehnsuchtsvollem Blick auf den Tisch im Schatten des Apfelbaums und der leichten Hoffnung auf ein Glas Wasser oder eine Tasse Kaffee im Garten, die er auch prompt angeboten bekam. Tracke bediente die Kaffeemaschine, Wehling trug das stilvolle Service mit blau-weißem Zwiebelmuster vorsichtig in den Garten.

    »Leben Sie allein hier in dem großen Haus?«, fragte er beiläufig. »Ein schönes altes Haus.«

    »Ich lebe mit meinem Mann zusammen. Wo er sich im Moment aufhält, weiß ich nicht. Er hat im Wohnzimmer telefoniert, als ich den Notruf gewählt habe. Während ich mit ihrer Kollegin telefoniert habe, ist er eilig an mir vorbei und mit dem Wagen weg. Ich habe versucht, ihn zu erreichen, aber leider geht er nicht an sein Handy.«

    »Sie haben eine neue Hüfte?«, begann Wehling mit einem Smalltalk, um die Wartezeit zu überbrücken.

    »Vor einer Woche bin ich aus dem Krankenhaus entlassen. Habe alles gut überstanden. Jetzt warte ich auf die Reha.«

    »Wohin geht’s?«

    »Bad Sassendorf.«

    »Da war meine Mutter mit ihrem Knie. Wirklich gut.«

    »Ich hoffe, die Leute dort machen mich wieder fit. Schmerzen habe ich keine.«

    ****

    Die Bootsstreife benötigte weniger Zeit als angekündigt. Sie meldete sich und ließ sich von Wehling über die genauen Abläufe informieren. Während er noch die Situation beschrieb, sprintete er auf den Damm und bekam Sichtkontakt.

    Beinahe zur gleichen Zeit hörten sie vor dem Haus einen Einsatzwagen anrollen. Kommandos wurden gebrüllt, Stiefel krachten, Geräte und Aufgaben wurden verteilt.

    Klara Kötter schickte die Leute außen ums Haus herum auf den Deich.

    Wehling besprach sich mit dem Einsatzleiter. Er wies dementsprechend seine Leute ein. Sie verteilten sich auf dem Damm und auf dem Leinpfad. Sie leisteten ganze Arbeit. Es blieb kein Strauch, kein Grashalm, den man nicht in Augenschein genommen hatte, zurück. Sie kämmten sich vorwärts.

    Wehling kam zurück. In der Luft hörte man eine Drohne noch ehe sie sichtbar war. Über Sprechfunk informierte der Pilot dieses neu angeschafften Fluggeräts, der die Lage auf einem Bildschirm in der Größe eines iPads von oben beobachteten konnte, den Einsatzleiter indem er auf verschiedene Stellen hinwies, die genauer zu inspizieren waren. Er zoomte dazu den Ausschnitt des Bildes durch Fingerspreizung heran. Zwischendurch stieg Wehling auf den Damm, um den Fortgang zu beobachten. Die Bootsstreife kam zurück. Sie konnten wegen der Stromschnellen nicht weiter. Der Einsatzleiter kreuzte in der Ferne mehrfach seine Arme, wie ein Marshaller auf dem Flugplatz die Stäbe zu einem Stoppzeichen. Wehling gab das Zeichen an die Leute unter dem Apfelbaum weiter.

    »Sie brechen ab!«, rief er vom Damm aus. Er stieg die Stufen hinab. »Sie haben nichts. Die Drohne hat ebenfalls ihre Reichweite ausgeschöpft. Es tut mir leid.«

    »Er liegt auf dem Grund der Lippe«, vermutete Frau Kötter.

    »Aber das Kanu geht nicht unter«, gab Wehling zu bedenken. »Es kann nicht sinken, auch wenn es kieloben treibt. Das müssten wir finden.«

    Eine halbe Stunde später gab der Einsatzleiter den Befehl zum Abrücken. Wehling begleitete ihn zum Wagen.

    »Gibt es irgendeinen Hinweis, ob es wirklich einen Unfall oder einen Toten gab? Vielleicht ist der Kanute versehentlich aus dem Boot gefallen und danach weitergepaddelt?«

    »Alles möglich und bestimmt auch schon dagewesen, aber die Frau ist praktizierende Ärztin und noch voll dabei. Will sagen … Frau Kötter hinterlässt keinen senilen Eindruck. Die Spuren des erwähnten Kleinmotorrades haben sich bestätigt. Wir haben sie fotografiert.« Er wollte die Kamera hervorholen, aber Wehling winkte ab. Er hatte sie bereits auf Trackes Smartphone gesehen.

    »Ich gebe Ihnen recht. Anhaltspunkte für ein Verbrechen gibt es jedoch nicht?«

    »Bisher nicht. Wir haben den Leinpfad vom Bootshaus bis hierher abgesucht. Keine Fußabdrücke, die auf Gerangel hindeuten, kein Blut – nichts. Der Heli und das Boot sind noch unterwegs. Abwarten.« Der Einsatzleiter grüßte mit der Hand an seiner Mütze und stieg in den Wagen, der von seinem Fahrer bereits vorgefahren war.

    Wehling hatte die Haustüre zufallen lassen. Er schellte.

    »Macht nichts. Die Tür ist schwer, das Schloss leichtgängig. So fällt sie leicht zu. Ist uns auch schon passiert«, schmunzelte die Frau des Hauses.

    Eine Tasse durfte sie noch nachschenken, dann wollten die Beamten sich auf den Weg machen.

    Wehlings Handy schellte. Die Zentrale hatte den Halter des gesuchten Fahrzeugs identifiziert. Es handelte sich um eine Vespa 125, zugelassen auf einen Herrn Westhoff, Blumenstraße 118, ganz in Ihrer Nähe ihres Standortes.

    Er fragte Frau Kötter nach dem Namen.

    »Den kennen wir gut. Er ist unser Nachbar, wenn auch einige hundert Meter entfernt. Er bewohnt das zweite Haus auf dieser Straße. Sie kommen auf dem Rückweg daran vorbei.«

    »Was können Sie über ihn sagen?«

    »Ein angenehmer Mann. Ich mag ihn. Er grüßt immer freundlich, wenn er uns begegnet. Manchmal unterhalten wir uns mit ihm. Wir kommen ab und an mit dem Fahrrad an seinem Haus vorbei. Er beschäftigt sich häufig in seinem Garten. Dann halten wir an und plauschen ein wenig. Warum fragen Sie, Herr Wehling?«

    »Ihm gehört die blaue Vespa, die Sie gesehen haben, Frau Kötter.«

    »Das stimmt! Ich kenne das Fahrzeug, aber er selbst ist nicht gefahren, Herr Wehling. Das weiß ich genau. Willi sitzt ganz anders auf dem Bock. Er hätte auch gewinkt. Ganz sicher. Er war es nicht.«

    »Wir werden ihm einen Besuch abstatten.« Er trank seinen Kaffee aus und nickte Tracke zu.

    ****

    Zehn Minuten später schellten sie bei Westhoff an. Als niemand öffnete, statteten die beiden Kollegen dem Garten einen Besuch ab. Alles ordentlich gepflegt und sorgfältig verschlossen. Die Tür zu einem Holzverschlag quietschte langsam hin und her. Es war ein einfaches Gartenhäuschen für allerlei Gerätschaften. Die Mitte war ausgespart. Der Spur und dem Abdruck des Ständers auf dem Holzboden nach, war es der Stellplatz für die Vespa. Sie inspizierten das Tor. Es war nicht aufgebrochen, aber frische Reifen- und Trittspuren waren auf dem Bretterboden gut zu erkennen.

    »Was gibt’s hier zu entdecken?!« Ein älteres Ehepaar erschien hinter einem Golf mit aufgeklapptem Heck. Der Mann hielt einen Einkaufskorb in der Hand, die Frau einen Beutel mit Äpfeln.

    »Herr Westhoff? Wir sind von der Wasserschutzpolizei. Mein Name ist Tracke, mein Chef, Polizeimeister Wehling.« Sie zeigten ihre Ausweise.

    »Was suchen Sie auf meinem Grundstück?« Er bemerkte seinen leeren Schuppen. »Was ist passiert? Hat jemand meine Vespa gestohlen?«

    »Sie besitzen ein blaues Motorrad?«

    »Vespa 125«

    »Herr Westhoff, wann haben Sie das Motorrad zum letzten Mal gefahren oder gesehen?«

    »Vespa! Heute früh war ich damit zum Bäcker. Ich habe Brötchen geholt. Zum Einkaufen sind meine Frau und ich mit dem Wagen gefahren.

    »Guten Tag meine Herren, angenehm.«

    »Wie lange waren sie unterwegs?«

    »Wir waren eine Runde spazieren. Es war kurz nach neun Uhr. Danach haben wir bei Edeka eingekauft. Anschließend sind wir zum Essen in die Dorfschänke. Jetzt sind wir hier. Gibt es etwas zu besprechen? Lassen Sie uns hineingehen. Sie könnten die Kartoffeln tragen.«

    Tracke half gern. Wehling trug die Milch. Damit waren den beiden die schwersten Dinge bereits abgenommen. Durch eine quietschende Hintertür betraten sie die Küche. Seine Frau blickte Westhoff missfällig an.

    »Heute Nachmittag. Das Öl steht schon auf der Spüle«, entschuldigte er sich unaufgefordert.

    Die Beamten sollten sich setzen.

    »Herr und Frau Westhoff, wie Sie schon richtig vermutet haben, wurde Ihr Mofa, ich meine Ihre Vespa entwendet. Wir können nicht ausschließen, dass sie bei einem Verbrechen benutzt wurde.«

    »Bitte?«

    »Wir können aus kriminaltechnischen Ermittlungen leider keine Auskunft geben. War das Fahrzeug gesichert?«

    »Ich habe die Maschine im Schott abgestellt. Der Schlüssel befindet sich im Kasten. Ich sichere es außerdem immer mit einer Kette an der Dachstütze. Aber …« Er wurde verlegen.

    »Heute nicht?«, ahnte Hallstein

    »Es könnte sein, dass ich es heute nicht gesichert habe, denn ich wollte nach dem Frühstück zum Einkaufen. Aber dann sind meine Frau und ich mit dem Auto gefahren. Kartoffeln und Milch passen schlecht zusammen in die Box.«

    Wehling fischte sein Handy aus der Innentasche.

    »Wehling … wo? … schicken Sie mir bitte die Daten und die Aufnahme aufs Handy … Danke. Melden Sie es an die Kollegen der Straßenpolizei.« Er legte auf und wollte es gerade wieder in die Jackentasche stecken, als sich eine Nachricht meldete.

    »Herr Westhoff, ist das ihre Vespa?«

    Die Maschine lag auf der Böschung vom Leinpfad zum Deich. Der Fahrer war offensichtlich gestürzt. Westhoff kamen die Tränen.

    »Meine schöne Maschine! Es ist zum Heulen. Wer tut so etwas? Verdammte Drecksau! Hoffentlich hat er sich die Knochen gebrochen. Wo haben Ihre Leute sie gefunden?«

    »Sie liegt einige Kilometer von hier auf der Deichböschung. Die Kollegen der Straßenpolizei sind informiert. Sie werden sich in Kürze bei Ihnen melden.«

    Ein Wink zu Tracke und sie fuhren los.

    2. Kapitel – Dienstag, 10. September

    Berendtsen kam gerade aus der Mittagspause, als Uschi ein Telefonat der Kriminaldirektorin Vera Zimmermann durchstellte, der Leiterin des Polizeipräsidiums.

    »Hallo Vera, was gibt’s Neues?«

    »Albert, ich brauche deine Hilfe. Könntest du kurz zu mir ins Büro kommen?«

    Berendtsen hatte es nicht weit. Wenige Minuten später stand er vor seiner ehemaligen Freundin im Büro.

    »Gut siehst du aus. Braun gebrannt und gut erholt. Wie war es im Indischen Ozean? Hat es dir gefallen?«

    »Wunderbar. Es war ein Traum. Diese Natur … jede Menge bunter Vögel, Kaffeeplantagen, Vanillepflanzen habe ich gesehen und Flughunde, Riesenschildkröten. Das Hotel … ein Traum. Weißer Sand, Palmen, Hängematte … aufmerksames Personal servierte Drinks und Burger auf Wunsch direkt an den Liegestuhl«, seufzte sie. »Nimm Platz. Kaffee?«

    »Gerne.«

    Als alles eingerichtet war, begann sie:

    »Hast du zurzeit viel Arbeit, Albert?«

    »Wie man’s nimmt. Mir hat man das Qualitätsmanagement aufgebrummt. Das ist keine schwere Arbeit, aber nervig. Es steht eine Revision an. Du kennst die Arbeit, die auf einen zukommt. Es müssen eine Menge Blätter gewälzt und eine Wagenladung Ordner gestapelt werden«, seufzte er. »Ich glaube manchmal nicht, dass das ganze Verfahren Sinn macht. Ich sehe ein, dass ein Procedere festgehalten werden muss, damit jeder weiß, woran er sich halten kann oder muss. Ich möchte nur zu gerne wissen, wieviel Leute danach handeln. Nun gut, es ist wie es ist. Wir wollen uns nicht beklagen.« Er trank einen Schluck, wischte sich den letzten Tropfen von der Unterlippe und vermutete: »Deswegen hast du mich nicht hergebeten, Vera.«

    »Wann ist die Revision angesetzt?«

    »Dreißigster September. Eine ganze Woche ist angesetzt, aber erfahrungsgemäß dauerte es bei dem alten Revisor nur bis donnerstags, weil er gut vorbereitet war und Hallstein und Frau Bremer gut mitziehen. In diesem Jahr kommt ein neuer Mann. Ich kenne ihn nicht. Er nimmt die Revision zum ersten Mal ab, wie mir zu Ohren gekommen ist. Die Formulare habe ich in diesem Jahr alle online gestellt, so dass man sie ausdrucken kann, wenn sie gebraucht werden. Man muss sich nicht mehr mit den Fotokopien beschäftigen. Das hat immer aufgehalten. Außerdem kann man sie am Rechner ausfüllen und als Datei speichern. Das sieht nicht nur ordentlicher aus. Es geht auch flotter. Ich denke, er wird das so abhaken.«

    »Das wird er wohl. Einen Fall hast du im Moment nicht zu bearbeiten?«

    »Nein, aber wenn du so fragst, hast du sicher einen für mich?«

    »Es geht um einen Kanuunfall auf der Lippe. Gestern um die Mittagszeit.« Sie erklärte kurz den Sachverhalt. »Gerade habe ich Bescheid bekommen, dass das Kanu noch immer nicht gefunden wurde, auch von dem Ruderer fehlt jede Spur. Er oder sie ist nirgendwo aufgetaucht.«

    »Ich will dir gerne helfen, Vera, aber handelt es sich um ein Tötungsdelikt? Ich möchte nicht der Wasserschutzpolizei auf die Füße treten. Außerdem haben diese Leute mehr Erfahrung in Sachen Ertrinken.«

    »In dem Punkt stimme ich mit dir völlig überein, Albert. Es ist nicht deine Angelegenheit, aber ich möchte die Sache akribisch untersucht haben. Mir geht die Aussage dieser Frau Dr. Kötter nicht aus dem Sinn, die erkannt haben will, dass dieser Mann mit dem Tode gerungen hat. Ich kenne die Frau. Sie weiß, was sie sagt. Ich bin ab und an noch bei ihr in der Praxis. Außerdem glaubt sie, Blut gesehen zu haben.«

    Berendtsen überlegte still. Er kramte seine Tüte mit den Gummibärchen aus der Tasche. Vera bediente sich gerne.

    »Das ist deine Sucht, nicht wahr, Albert? Seit wann hast du dieses Laster? Als wir noch zusammen waren, hattest du den Fimmel noch nicht.«

    »In Hamburg hat es begonnen. Ein

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