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Sonnenfinsternis: Im Hinterhof der Politik
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Sonnenfinsternis: Im Hinterhof der Politik
eBook520 Seiten7 Stunden

Sonnenfinsternis: Im Hinterhof der Politik

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Über dieses E-Book

Mit Beginn der Coronaepidemie Anfang 2020 habe ich mit dem Schreiben des Romans "Sonnenfinsternis – Im Hinterhof der Politik" begonnen. Ich erzähle über das Leben eines fiktiven Bundestagsabgeordneten. Am 20. Mai 2015 gab es eine Sonnenfinsternis. Da beginnt meine Geschichte. Sie leuchtet in die Höhlen des Irrationalen eines nach Macht strebenden Menschen im politisch rationalen Umfeld des Parlaments. Was in den nächsten drei Monaten mit meinem Protagonisten passiert, ist spannend und voller Informationen, die das Nachdenken fördern können.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum17. Dez. 2020
ISBN9783752926484
Sonnenfinsternis: Im Hinterhof der Politik

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    Buchvorschau

    Sonnenfinsternis - Ulrich Pätzold

    Im Hinterhof der Politik

    Erzählt für alle,

    die ein politisches Mandat ausüben

    die Demokratie stark machen

    die Vielfalt sichtbar machen

    die Deutschland zivilisieren.

    Der Autor Ulrich Pätzold, geboren 1943, war von 1978 bis 2000 Journalistikprofessor in Dortmund und lebt in Berlin. Er kennt das Innenleben des Deutschen Bundestages. Aus journalistischer Sicht interessieren ihn nicht nur Ereignisse, wie sie sind, sondern auch die sie bewegenden Menschen. Die literarischen Mittel öffnen ihm Spielräume, die über die Möglichkeiten des Journalismus hinausreichen. Mit 77 Jahren hat er in der Coronazeit das Romanprojekt Im Hinterhof der Politik begonnen, in dem inzwischen auch ein aus Hörbuch entstanden ist.

    Der Roman Ist über weite Strecken ein Buch über Parlamentarismus und Demokratie. Spielplatz des Romans ist der Deutsche Bundestag. Spielzeit sind die Monate März bis Mai 2015. Die Episoden des Romans finden nach einer Sonnenfinsternis statt.

    Die umfassend recherchierten Ereignisabläufe jener Monate bilden den zeitdramaturgischen Rahmen für das Psychogramm des fiktiven Abgeordneten M. Das Changieren zwischen Zeitgeschichte und okkulter Selbsterforschung schafft eine Zone zwischen Rationalem und Irrationalem. In dieser Zone wird das Machtstreben von M erzählt, mit dem er seine eigene Sonnenfinsternis erfährt.

    Kapitel 1: Große und kleine Zeichen

    M hatte in der Nacht vom 19. auf den 20. März 2015 schlecht geschlafen. Genau genommen hatte er seiner Meinung nach überhaupt nicht geschlafen. Um 7.00 Uhr morgens war sein Gemütszustand so zerrüttet, dass er reichlich viele Tabletten schluckte, um erst danach schnell und tief in einen traumlosen Schlaf zu fallen.

    Wegen der anstehenden Sonnenfinsternis hatte M panische Angst vor den kommenden Stunden. Die wichtigsten Tage der Sitzungswoche im Bundestag waren gelaufen. Es war Freitag, ein Plenumstag zwar, aber auch der Tag, an dem die meisten mit gepackten Reisetrollis ins Parlament kommen, um es am Nachmittag zur Abreise in ihre Wahlkreise verlassen zu können.

    Am 20. März lag über Mitteleuropa ein kräftiges Hoch. Am Vormittag gab es keine Wolken über dem Himmel von Berlin. Mit viel Sonne war eine freundliche Frühlingswoche angebrochen. Auf den Bürgersteigen gab es Betriebsamkeit und buntes Leben. Obwohl die Luft noch kühl war, füllten sich schon am Morgen die Tische auf den breiten Bürgersteigen mit Gästen.

    Der Glockenschlag halb zehn fiel kurz und trocken in das Karree rund um den Karl-August-Platz in Charlottenburg. Da lag M in tiefem Schlaf. In dieser Zeit fand ein prächtiges Schauspiel statt, eine nicht totale, aber kräftige Sonnenfinsternis, in der sich der Mond zwischen Sonne und Erde schiebt und einen geheimnisvollen Schatten über die Stadt warf. Vollständig dunkel wurde es in Berlin nicht. Der Mond erreichte eine Überdeckung des Sonnenballs von ungefähr 74 Prozent, gerade genug, um das Schauspiel nicht ignorieren zu können und ausreichend für die eindringliche Warnung, ohne Schutzbrille der Versuchung zu widerstehen, in die Reste der Sonne an dem sich verdunkelnden Himmel zu blinzeln.

    Um 9.38 Uhr hatte der Mond den äußeren Rand der Sonne berührt. Nun schob er sich Stück für Stück als schwarzes Loch in den Feuerball. Langsam wurde es dämmrig. Der Scheitelpunkt für den Nachtschatten wurde um 10.47 Uhr erreicht. Da lag nur noch düsteres Licht über der Stadt. Schatten von Häusern, Bäumen und Menschen huschten wie von einer zu schwachen Laterne geworfen über die Straßen und den Platz. Die Kirchglocke schlug ihre Viertelstunden in die Stille. Zwischen 10.30 und 11.30 Uhr blieben die städtischen Geräusche eines geschäftigen Tages gedämpft. Selbst die Spatzen hatten aufgehört zu zwitschern. Lediglich Hundegebell war zu hören. Doch das erholte sich alles so schnell, wie es gekommen war. Bald war die Stadt wieder bei sich selbst. Um 11.58 Uhr verließ der Mond die Sonne. Sogar das Stromnetz hatte gehalten.

    Es wurden keine nennenswerten Störungen gemeldet. M jedoch hatte sich innerlich auf einen Katastrophenfall vorbereitet. Nicht nur deshalb hatte er diesen Vormittag fest verschlafen. Er wachte erst gegen 15.00 Uhr auf. Da zogen bereits erste Wolkenschlieren über den Himmel. Als er durch seine Dachwohnung nahe dem Karl-August-Platz schlurfte, sah er an den großen Fensterscheiben zu seiner Außenterrasse einen schmierigen Fleck. Er öffnete die Tür zum großen Balkon und sah eine Taube tot auf den Holzdielen liegen. Der Anblick erschreckte M zutiefst. Bereits am Nachmittag des Tages der Sonnenfinsternis verließ M panikartig seine Wohnung, in der er sich nicht zuhause fühlte.

    Der Bundestagsabgeordnete M gehört zu den eher unauffälligen Mitgliedern seiner Fraktion. In den Plenarsitzungen mit vollem Haus, wie sie nur selten stattfinden, sitzt er in der siebten Reihe ziemlich in der Mitte. In den Sitzungswochen bleibt er in der Regel auf Abruf in seinem Büro, eilt dann stets pünktlich zu den Abstimmungen in den großen Saal, wenn er gebraucht wird. Nur wenn Vorlagen verhandelt werden, an denen ein Ausschuss beteiligt wird, in dem er Mitglied ist, sitzt er inmitten der meistens wenigen Abgeordneten im Plenum, dann sogar weit vorne. Im Bundestagsfernsehen, das eigens für diese große Einrichtung hergestellt wird, kann man ihn bei solchen Sitzungen manchmal sehen. In seinem Büro lässt er entsprechende Sequenzen kopieren und verwendet sie gerne in seinem heimatlichen Wahlkreis. Reden im Plenum hat er noch nicht gehalten. Zwei kleinere Beiträge von ihm wurden von ihm schriftlich eingereicht und zu Protokoll gegeben.

    M wurde 2013 in den Bundestag gewählt, ein stattlicher Herr, Mitte der fünfziger Jahre. Seine Partei pflegt in seinem Wahlkreis immer die Mehrheit zu erhalten. M ist also ein direkt gewähltes Mitglied des Parlaments. Er wird als Kollege geschätzt, dessen Ambitionen als überschaubar gelten. Gegenüber dem Führer seiner Fraktion ist er vollständig loyal, was mit steter Freundlichkeit erwidert wird. Bei seinen politischen Freunden ist er geachtet, vor allem auch wegen eines bescheidenen Auftretens und wegen seiner unbedingten politischen Zuverlässigkeit denen gegenüber, die im Bundestag auf ihn zählen. Man hat ihn in den großen Innenausschuss geschickt, wo er sich mit weiteren 36 Mitgliedern dem Schwerpunkt Innere Sicherheit widmet.

    Im Bundestag unterhält er wie alle Mitglieder des Bundestages, ein Büro. Dafür hat MdB M im Jakob-Kaiser-Haus in der zweiten Etage zwei Standardräume mit je achtzehn Quadratmetern und mit den für ihre Zwecke typischen biederen, aber durchaus freundlichen Einrichtungen. Im vorderen Zimmer arbeiten seine Sekretärin und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin. Mit diesem Raum verbunden residiert er selbst im hinteren Zimmer. Die Flurtür seines Zimmers ist immer verschlossen. Den kleinen politischen Betrieb im Deutschen Bundestag zu führen, hat kein MdB gelernt. Politik in der Demokratie ist kein Ausbildungsberuf, ihre Praxis auch kein Studienfach. Augenmaß und Leidenschaft werden auf unterschiedliche Weise miteinander in ein individuelles Verhältnis gebracht.

    M spricht über seine Sekretärin in warmherzigeren Worten als über seine Mitarbeiterin. Hinter den geschlossenen Türen des Büros nennt er seine Sekretärin gewöhnlich Schatz. Schatz ist mit 55 Jahren ungefähr genauso alt wie er, eine durchaus attraktive Frau, unauffällig, aber stilvoll gekleidet, bestens vernetzt vor allem in der Verwaltung des Bundestages. Sie führt seinen Terminkalender mit den vielen offiziellen und halboffiziellen Treffen, Veranstaltungen, Gesprächen, Sitzungen und Unterhaltungen. Sie macht die Ablage, die Korrespondenz, räumt auf, telefoniert, mailt im Namen des Abgeordneten. Ohne Schatz, das weiß M, wäre er völlig hilflos dem politischen Stressbetrieb ausgesetzt und nicht in der Lage, auf den Bühnen des politischen Berlins mitzuspielen.

    Seine wissenschaftliche Mitarbeiterin nennt er ausschließlich Madame. Mit 37 Jahren ist sie jünger als M. Die studierte Soziologin arbeitet mit M auf der Grundlage eines privatwirtschaftlichen Arbeitsvertrags, den er für eine Legislaturperiode mit gegenseitigen Kündigungsrechten abgeschlossen hat. Sie wird aus dem ihm zustehenden Personalbudget finanziert. Bevor sie ihre Arbeit bei M begann, hatte Madame bereits für zwei andere Abgeordnete aus seiner Fraktion gearbeitet, kennt sich also in der Büroleitung, dem Redenschreiben und den Anforderungen an die Öffentlichkeitsarbeit aus. Madame hatte sich durchaus auf M gefreut, da er vergleichsweise jung und als neues MdB auf ihre Zuarbeit besonders angewiesen war. Sie hatte allerdings schnell gemerkt, dass mit ihrem neuen Arbeitgeber keine großen politischen Sprünge zu machen sein würden. Sie machte schnell die Erfahrung, dass M Politik anders versteht als sie. Das demotivierte sie aber nicht in ihrem Arbeitseifer. Manchmal sitzt Madame vor ihrem Computer und baut an den Sätzen einer politischen Textvorlage. Dann ahnt sie, dass M den Inhalt ihrer Sätze nicht verstehen wird.

    M verbringt als Bundestagsabgeordneter sehr viel Zeit in Berlin, in einer Stadt, die er nicht mag. In den 22 Sitzungswochen ist seine Anwesenheit dort Pflicht. In den zwei Jahren als Abgeordneter ist das Beziehungsgeflecht in der Stadt immer dichter geworden, wodurch seine Verweildauer in Berlin stetig gewachsen ist. Zu Beginn seines Mandats hatte er noch seinen Freunden im Wahlkreis versprochen, die Hälfte seiner Arbeitszeit bei ihnen zu Hause zu verbringen. Zu seinen stark unterstrichenen Kernaussagen im Wahlkreis gehörte, dass die großartige parlamentarische Verantwortung im fernen Berlin getragen bleiben solle durch die Anliegen und den Gedankenaustausch mit den vielen Freunden in der Heimat. „Ich stehe mit beiden Beinen auf der Erde, zu der ich gehöre." So stand es noch in dem Wahlbrief, den er im Sommer 2013 an alle Haushalte seines Wahlkreises hatte verteilen lassen. Auch deshalb hatte man ihn gerne gewählt.

    In Berlin ist er unwichtiger und unsicherer als zu Hause auf dem Land mit den prächtigen Weinbergen, von denen aus er in die große Politik aufgebrochen war. Hauptstadt und Provinz ist für M ein schwieriges Paar. Fast täglich leidet er an der Diskrepanz. Umso mehr achtet er darauf, dass sein Büro tadellos funktioniert – auch im ständigen Austausch mit seinem Wahlkreisbüro in der Ferne. Für ihn ist es wichtig, dass alles überschaubar und geordnet bleibt. Sein politisches Unternehmen soll den ernsthaften Eifer ausstrahlen, der jeden Entsandten in diesem Hohen Haus als absolut notwendig erscheinen lässt. M ist einer von den 631 Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Bei einer so großen Zahl würde man ihn auf einem Gruppenfoto aller Abgeordneten kaum mehr erkennen.

    Auf seinem großen Winkelschreibtisch aus dunklem Nussbaumholz liegen die Stapel Papiere und Mappen nicht zu hoch gestapelt. Dort liegen auch die drei Zeitungen, die er abonniert hat, und rechts neben dem Computer stehen die wichtigsten Gesetzestexte und Verordnungen für seine Tätigkeit. An den Wänden hängen einladende Plakate aus seinem Wahlkreisgebiet und über dem Besprechungstisch hängt ein riesiges Foto, auf dem ihm die Bundeskanzlerin auf einer Wahlkampfveranstaltung auf dem Marktplatz seiner Geburtsstadt lächelnd die Hand drückt. Mit Filzstift hatte er quer ins Foto eigenhändig die Worte geschrieben: „Viel Glück! Im Bücherregal lagern viele Protokolle. Es gibt auch wenige zeitgeschichtlichen Schriften, die eigentlich nur von Madame genutzt werden. So bleibt viel Platz in den Regalen, in denen Pokale und Andenken aus seiner Heimat ihren Platz gefunden haben. Aber auch eine Reihe Kriminalromane gibt es da und – als einzige individuelle Beigabe – astrologische Bücher, zum Teil in prachtvoller Aufmachung. Seiner Sekretärin hatte er mal anvertraut, diese Bücher seien für ihn zwar nicht beherrschend, sie seien für ihn aber auch nicht verzichtbar, weil er „die Marotten für einen siebten Sinn habe. Schatz hatte das nicht weiter hinterfragt und nur geantwortet: „Ich lege mir auch manchmal die Tarot Karten."

    M legt großen Wert auf Pünktlichkeit und auf das Einhalten möglichst gleichlaufender Präsenzzeiten in seinem Büro. Das war für Madame ungewöhnlich im Bundestag mit den Stoßzeiten, ständig neuen Terminanforderungen und langfristig verplanten Verpflichtungen. Aber M hatte gleich am ersten Tag in seiner Begrüßungsansprache in seinem Büro die Regel ausgegeben: „Zwischen 10.00 und 16.00 Uhr ist Kernarbeitszeit. Wenn ich in diesen Stunden nicht gerade woanders sein muss, sind wir drei hier." Schatz und Madame konnten mit dieser Regel gut leben, versprach sie doch, im Vergleich zu den anderen Abgeordnetenbüros, einen planbaren Dienstschluss und attraktive Übergänge ins Privatleben.

    In den zwei Jahren seines Lebens als Abgeordneter in Berlin hatte er Spielräume gewonnen, die er zu nutzen verstand. Er tritt, wie er zu beobachten meint, ruhiger auf als viele seiner Kolleginnen und Kollegen. Als Bestätigung empfindet er Beweise an Zuneigung, die er in der dicht neben seinem Büro gelegenen Parlamentarischen Gesellschaft erfährt. Dort ist er ein gern gesehener Gast. So oft wie möglich begibt er sich am späten Nachmittag in die prächtigen Räume des Palais an der Spree, um die hervorragende Küche mit dem empfindsamen und diskreten Service zu genießen, bevor er dann zu einem abendlichen Glas Wein oder Bier in Ossis Kellerkneipe im Souterrain dieses herrschaftlichen Hauses zieht, wo er sich im Lauf der Zeit manche zu Freunden aus allen Fraktionen des Parlaments gemacht hat.

    Nicht geringen Einfluss auf seine wachsende Verweildauer in Berlin hatte noch eine andere Entwicklung. Außerhalb des Kreises der vielen Menschen, die Nähe zur Politik suchen oder ihren Institutionen angehören, hatte er eine Wahrsagerin kennengelernt. Sie arbeitete in Friedrichshain, in einer verborgenen Hinterhofwohnung in der Sonntagstraße nahe dem Ostkreuz. Als er sie zum ersten Mal unverbindlich besuchte, wusste er sofort, dass er sich ihrem Bann nicht würde entziehen wollen. Sie ist etwa so alt wie er. Er fühlt sich zu ihr hingezogen, weil er in ihrer Anwesenheit Macht spürt, die von ihr in ihm gelenkt werden kann. Er ist überzeugt, ihr Einfluss auf ihn wird ihm helfen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

    Das letzte Treffen mit seiner Wahrsagerin hatte M eine Woche vor der Sonnenfinsternis. Die Wahrsagerin hatte ihn in Trance gependelt, und er hatte eine klare Botschaft vernommen:

    „Du wirst am 20. März, dem Tag der Sonnenfinsternis, nicht zur Arbeit gehen. Du wirst Zeuge einer starken Verwirrung sein, die du nicht verstehst. Du wirst am Nachmittag jenes Tages erregt zu mir kommen und wirst Spuren zu einer Katastrophe finden, die dein Parlament zu erschüttern droht. Der Mythos der Sonnenfinsternis, der in dir tief verborgen ist, wird ungeahnte Kräfte freisetzen. Du wirst erkennen, dass Macht und Schicksal Geschwister sind, die uns beide miteinander binden."

    Aufziehende Panik hatte M nach dieser Botschaft durch die weitere Woche begleitet.

    M gehört zu den Menschen, die mit einer tiefsitzenden Angst leben, für die gegenwärtig die Zustände schlechter sind, als sie früher waren, die gerne das Gute in sich selbst sehen und das Böse bei den anderen vermuten. M kann mit Pathos das „Unglück der deutschen Geschichte beschwören, die mit dem verheerenden Krieg zum „Untergang der Zivilisation in Deutschland 1945 geführt habe. Aber noch mehr Pathos legt er in seine Feststellung, welche „unglaubliche Wiederauferstehung die junge Demokratie nach 1945 „aller Welt bewiesen habe. Der Stolz darauf, so hat er oft bekannt, sei auch „Stolz auf die Männer und Frauen, die diese Leistung erbracht hätten, denen er sich „innerlich tief verbunden fühle, denen er „mit großem Selbstvertrauen" folge. Er weiß, die Zäsur 1945 in seinem Geschichtsbild kann er nur durchhalten, solange es gelingt, die nationalsozialistische Geschichte so weit wie möglich auf sich beruhen zu lassen, ihr keine prägende Bedeutung für die Diskurse über die Gegenwart zuzugestehen. Unterhalb seiner politischen Deklamationen ist Angst geblieben Angst ist in M wie eine chronische Krankheit, über die er nicht spricht.

    Die Sicherheitspolitik ist für M genau das richtige Fachgebiet für seine Arbeit als Abgeordneter. Mit Sorge verfolgt er, wie die Mittel für die öffentliche Sicherheit immer aufwändiger wurden, ihre Wirkungen indessen oft nur Spott und Hohn erzeugen. Die Daten und Informationen, die ihm Madame vorlegt, kreisen um horrende Summen, die Nachrichtendienste, Verfassungsschutz und polizeiliche Aufklärung verschlucken. Der Staat hat seine Wurzeln in der Gewährleistung von Sicherheit. Er muss laut trommeln, um für seine Politik Akzeptanz zu finden, den Staat zu stärken gegen alle, die ihm auf der Nase tanzen und die gebotenen Freiheiten egoistisch, kriminell und ideologisch nutzen. In seinem Wahlkreis spricht M gerne vom Bösen der Einzelnen als der neuen Internationale.

    „Diese Internationale wächst schneller, als die vorhandenen Abwehrkräfte sie schwächen können".

    Seinen Wählern erzählt er auch, dass er in Berlin diesem Bösen in seinen vielseitigen Erscheinungsformen näher als je zuvor in seinem Leben ist. Er verschweigt dann nie den Hinweis, dass es zu Hause in seinem Wahlkreis ein paar verrückte Rechtsradikale gebe. Doch sie in den Vordergrund zu rücken, hält er für falsch. Zu Hause ist noch alles einigermaßen überschaubar. Man kennt sich besser untereinander, kann die einzelnen Ausreißer im Zaume halten. Vor allem fehlen die Rekrutierungsquellen, aus denen der soziale Kollaps ideologisch gespeist wird. Das erlebt er in Berlin ganz anders. Indem M die Gegenwart von der Vergangenheit abkapselt, baut er seine Perspektive auf, dass vor allem durch linke Ideologie, aus verkürzter Meinungsmache Formen der Gewalt entstanden seien, die sich blind gegen die Herrschenden in Staat und Gesellschaft austoben. Es schmerzt M fast körperlich, wie durch terroristische und kriminelle Gewalt die Gesellschaft mutiert. So deckt er seine Ängste zu. So durchlebte er nervös die Tage vor der Sonnenfinsternis.

    Bereits am Donnerstag, einen Tag vor der Sonnenfinsternis, hatte M in seinem Büro angerufen und sich krankgemeldet. Er habe große Probleme mit seinem Magen. Madame beauftragte er, die Vorlagen für eine anstehende Griechenlandreise auszuarbeiten. Die wollte der Abgeordnete M privat buchrn, obgleich sie ihm politisch eine überaus wichtige Mission zu werden versprach. Madame sollte sich um Gesprächspartner in Athen bemühen, schließlich würde er das Land zwei Wochen lang vom 4. April bis zum 18. April bereisen. Schatz bat er, nicht nur seine Krankmeldung in die richtigen Wege zu leiten, sondern vor allem auch dem Fraktionsvorsitzenden ein paar freundliche Worte zu schreiben und ihm die selbstverständliche Unterstützung in der weiteren Arbeit zu signalisieren. „Und bitte nicht zu vergessen, fügte er am Telefon seinem Aufgabenkatalog für Schatz mit schmeichelnder Stimme zu, solle sie „eine Nachricht an die Geschäftsführung der Parlamentarischen Gesellschaft schreiben, dass er „leider erst im späteren April wieder die gewohnte Gastfreundschaft in Anspruch nehmen" könne.

    Am Freitagnachmittag, dem Tag der Sonnenfinsternis, war er wieder zu seiner Wahrsagerin nach Friedrichshain in die Sonntagstraße gefahren. Er hatte sich in die S-Bahn gesetzt, die ihn direkt bis zum Ostkreuz brachte. Normalerweise bucht er für seine Fahrten durch Berlin den Fahrdienst des Bundestages. Die schwarzen Limousinen empfindet er als für sich angemessen. Aber M ist ein vorsichtiger Mensch. Für diesen Besuch will er keine Spuren hinterlassen. Eine Wahrsagerin passt nicht in das Bild, das man sich von einem Politiker macht. M gibt sich viel Mühe, dem erwarteten Bild eines Politikers nach Möglichkeit vollständig zu entsprechen. Zu genau glaubt er zu wissen, seine politische Karriere könne er nur geräuschlos fördern, wenn keine Schatten eines Skandals auf den Politiker M fallen. In der öffentlichen Wahrnehmung solle gar nicht erst der geringste Verdacht entstehen können, zwischen seinem privaten Leben und seinem Leben als Politiker gebe es irgendwelche Ungereimtheiten. Gerade erst hatte es einen Kollegen aus einer anderen Fraktion, mit dem M im Ausschuss eng zusammengearbeitet hatte, mit voller Wucht erwischt. Der Druck öffentlicher Empörungen über dessen Sexualleben hatte ihn zugrunde gerichtet.

    Die Umgebung der Großbaustelle Ostkreuz empfindet M als düster, dreckig, bedrohlich. Die Fremdheit der meisten Menschen in dieser Gegend wird kaum gemildert durch die fröhliche Neugierde vieler Touristen. M stellt sich vor, dass Touristen eigentlich seine geheimen Verbündeten sind. Lieber sieht er sie Unter den Linden als in dieser finsteren Ecke zwischen der riesigen Baustelle und einer unübersichtlichen Szene der Gelegenheitsgeschäfte. Wie die Touristen hat er nichts gegen Araber, Türken, Schwarze und die vielen Arbeitslosen, die es hierher verschlagen hat. Aber in ihrer Vielzahl sind sie ihm unheimlich. Er wird das Gefühl nicht los, diese Menschen nicht beherrschen zu können. Das Böse entsteht in solchen Brennpunkten wie um das Ostkreuz. Hier, so hat M seine Überzeugungen bildhaft ausgemalt, leben zu viele Menschen, die der Gesellschaft feindlich gesonnen sind, die den Staat bekämpfen, von dessen sozialen Segnungen vor allem sie profitieren.

    Mit schnellen Schritten eilt M über den Bürgersteig an der Reihe nicht endender Kneipen und Restaurants mit exotischen Namen und eigentümlichen Einrichtungen vorbei. Er kann sich nicht vorstellen, wie auf so engem Raum so viel Gastronomie in einer dichten Stadtlandschaft der Armen und Ausländer überleben kann. Sicher, die Preise sind niedrig, geradezu lächerlich niedrig, vergleicht er sie mit den Gaststätten in seiner Heimat oder mit seinen Erfahrungen in anderen europäischen Hauptstädten. Doch mit Hartz IV geht man nicht ins Restaurant und kann nicht tagaus und nachtlang in einer Kneipe hocken wie hier. Die Geldkreisläufe in dieser Szene müssen anderen Wirtschaftsgesetzen folgen, wie er sie für angemessen hält. Das ärgert ihn. M hat viel darüber gelesen, wie Schwarzmärkte, Drogenhandel und andere dunkle Geschäfte in den Gegenden gedeihen, wo die Hartz-IV-Quote am höchsten ist. Hier also ist der Humusboden für die Kriminalität, da ist M sicher. Die Kriminalität, so weiß er auf den wenigen Metern der Sonntagstraße ganz deutlich, ist das gesellschaftliche Umfeld für die großen Sicherheitsprobleme des Landes. Sie ist, das will er künftig noch viel klarer aussprechen, der Kern eines politischen Problems. Anfänge einer wichtigen Rede bilden sich in seinem Kopf, die er bald halten möchte.

    Die Wahrsagerin hatte an diesem Nachmittag viel Zeit für ihren so erregten Kunden. Professionell folgte sie sehr aufmerksam den Linien, die sie zwischen der aktuellen Sonnenfinsternis und M erkannte. Ihr fiel sofort die Panik in seinem Gesicht auf, als er von dem toten Vogel unter dem Fenster in seiner Wohnung erzählte. Sie versteht die kleinen Zeichen, die Menschen aus ihren Bahnen werfen. Erfahrungen von Generationen Frauen fließen durch ihr Blut. Ihre dunklen Augen und schwarzen Haare stärken Fremdheit und Distanz gegenüber ihren Kunden, je näher sie ihnen rückt. Sie hat die Gabe, Ängste und Verdrängungen ihrer Kunden zu greifen, sie in gewaltige Veränderungen ihrer geistig-seelischen Zustände zu führen. Männer wie M spiegeln sich in ihr als Medium und machen es ihr einfach, ihre Sehkraft des Allgemeinen mit den Ängsten des konkreten Menschen vor ihr zu verbinden.

    Mit einem Politiker wie M hatte sie es allerdings noch nie zu tun. Mit ihrem Pendel erkennt sie schnell ihren Weg, und die Karten geben viele Geheimnisse preis, die im Licht der Kugel zu Gewissheiten für die Klienten werden. Sie bleibt M gegenüber vorsichtig unklar in ihren Offenbarungen, will ihn noch nicht über Gebühr mit seinem eigenen Leben konfrontieren. Dazu scheint ihr die Zeit noch nicht reif, und ihre Einblicke in diesen Mann sind noch nicht ausreichend. Sie konzentriert sich auf wenige alltägliche Ereignisabläufe, auf die ihre Karten hinweisen, und die sie zu dramatisieren versteht. Sie folgt ihrem festen Glauben, M werde ihre seherischen Fähigkeiten besonders überzeugen, wenn ihre Botschaften in kurzer Zeit durch seine eigenen Wahrnehmungen bestätigt würden. Als Politiker ist M ihr unsympathisch. Aber ihr ist sehr daran gelegen, diesen Mann als ihren Kunden nicht zu verlieren. Sein Honorar ist beachtlich und er zahlt ohne Quittung. Außerdem fragt er nicht nach ihrer Geschichte, akzeptiert ohne Frage ihre Stärke durch Eingestehen seiner Schwäche.

    „Im Strahlenkreuz, beginnt sie leise und behutsam in seine Trance zu reden, „speit die Sonne viele Feuer wie ein Vulkan über den harten Rand des kalten schwarzen Mondes. Die Feuerenergien treffen die Erde. Tiere und Menschen spüren tiefe Erregungen. Die Zeit der Warnungen ist gekommen. Kühl und dunkel ziehen die Botschaften über das Land, in dem keiner mehr sicher sein kann. Die Finsternis wird zur Macht gegen das Licht und deckt die Gedanken zu, das Helle werde gegen das Dunkle einst ewig herrschen.

    Sie macht eine Pause. In tiefer Stille hört sie das langsame gleichmäßige Atmen von M, fühlt seine Hypnose, in die ihre Worte die Bilder malen.

    „Am Abend, wenn die Erde wieder ungestört um die Sonne laufen wird, werden Zeichen auf den Wänden der Macht zu lesen sein, die davon künden, wie zerbrechlich das Leben geworden ist, wenn mit lautem Bersten die Macht der Rache wie Asche auf die Erde fallen wird."

    Die Trance bei der Wahrsagerin war noch nicht zu Ende. In seinen Schlaf hinein säuselt sie mit schmeichelnd drohender Stimme weiter:

    „Die Flammenstürme, die aus den Rändern der Sonne züngeln und über den harten Rand des Mondes zu uns wehen, verbinden sich zu Verwirrrungen in den Köpfen und Seelen vieler Menschen. Meine Kugel zeigt den Weg. Die Karten erzählen, in welche Köpfe und Seelen sie eindringen, und die Kugel zeigt ihre große Kraft."

    Die Wahrsagerin nuschelte nun, als würde sie nur noch mit sich selbst sprechen. M hatte zwar die Augen leicht geöffnet, aber in der Trance schwebte er jenseits der Sätze, die mit seinem tiefen Atem in ihn hineinströmen.

    „Ach, hätten die Menschen einen Horizont, der in den Kosmos reicht. So aber sind sie Werkzeuge des Schicksals, gefangen im Lebensaugenblick, verwickelt an dem Ort, an dem sie sich gerade befinden. So lauern sie um die Stunde der Sonnenfinsternis und spüren nicht die Zeit, die ihnen ein Zeichen des Schicksals schickt. Sie haben Angst. Sie stützen ihre Angst auf die eine Stunde, in der bangen Überlegung, was dieses Ereignis ihnen bringen mag, verdichten ihre Gefühle in falschen Prophezeiungen. Sie ahnen nicht das Unheil, das ihnen mit den Strahlen der Feuer an den Fersen klebt. Zwischen zwei und vier Uhr in der nahen Nacht, immer in der Nacht vom Sonntag auf den Montag, schlägt eine deutsche Widerstandsbewegung zu. In meiner Kugel sehe ich einen Mann. Er ist nicht weit entfernt. Er schläft noch ruhig auf einem Sofa. Später mischt er sich wie viele anständig gekleidete Herren auf den verkehrsreichen Straßen unter die Menschen. Hänge dich an seine Fersen! Ich erkenne ihn, weil er von einem Strahlenkranz beleuchtet ist. Er trägt einen Beutel und eine Plastiktasche. Darin sind die Pulver, mit denen sie ihren Sprengstoff mischen. Groß und klar sehe ich die Paläste des Staates. Zu ihnen zieht es ihn hin. Dort wird er in der Nacht zum Montag einen Anschlag zelebrieren. Die Spur ist deutlich. Sie führt ins Regierungsviertel. Das Ereignis wird deine Chance sein."

    M war aufgewacht, ohne wirkliche Erinnerungen an das Gespräch mit der Wahrsagerin. Aber er hatte ein starkes Gefühl mitgenommen, das ihm anzeigte, es würde bald Einiges geschehen, das sofort über Brücken sein Unterbewusstsein finden würde. Er musste sich eine Zeitlang neu sortieren. Er rief sich zur Ordnung, seinen Pflichten als Bundestagsabgeordneter nachzukommen. Er wollte daran glauben, dass es einen Zusammenhang zwischen den Andeutungen seiner Wahrsagerin und seiner politischen Rolle geben müsse. Jetzt war er gefragt.

    Als er die Wahrsagerin verlassen hatte und darüber grübelte, was sie ihm denn offenbart hatte, tauchten drei Buchstaben aus der Tiefe auf: DWB. Er konnte mit ihnen nichts verbinden, und auch das Googeln half ihm nicht weiter. Er rief im Bundeskriminalamt an. Auch dort hatte er keinen Erfolg. Obgleich er dreimal durchgereicht wurde, konnte er keine Spur von diesen Buchstaben im Amt ermitteln. Man verwies ihn an die örtliche Polizei. Dort wurde er fündig. Am 3. November 2014 hatte es einen Anschlag vor dem Reichstag gegeben. Personenschaden war nicht zu beklagen und der Sachschaden war unerheblich. Allerdings fand die Polizei im Papierkorb einen Stapel Flugblätter, die eine Putzfrau am Montagmorgen dorthin befördert hatte. Diese Flugblätter hatten tatsächlich den Absender „Deutsche Widerstandsbewegung" – DWB –.

    Der Abgeordnete M, im Innenausschuss des Bundestages für Innere Sicherheit tätig, fühlt sich herausgefordert. Das Wochenende zwischen der Sonnenfinsternis und der Sitzungswoche des Parlaments nutzt er intensiv für Recherchearbeiten. „Deine Chance – auch das war aus seiner Sitzung bei der Wahrsagerin hängengeblieben. Er beginnt für seine privaten Aufzeichnungen eine neue Kladde, die er mit dem Titel überschreibt: „Im Jahr der Sonnenfinsternis.

    Solche Kladden begleiten seinen Aufstieg aus der kommunalen Politik in die gehobenen Kreise der Politik in Berlin. M schreibt in sie regelmäßig, oft in der Form eines Tagebuches, aber auch in der Form von Visionen und Konzepten, für die er sich eine führende Rolle reserviert. Beide bisherigen Kladden hatten die gleiche Überschrift „Wenn ich Kanzler wäre I und „Wenn ich Kanzler wäre II. Für M hatten die Kladden eine große Bedeutung. Nicht so sehr die einzelnen Inhalte waren es, die ihm ans Herz gewachsen waren. Wichtiger war ihm eine andere Erfahrung: Sammelte er sich und schrieb in die Kladde seine Sätze, fühlte er sich als Politiker aufgewertet, spürte die Befriedigung, mit Macht umzugehen. Dann hatte er ein kaum beschreibbares Gefühl, was es bedeutet, ein Politiker zu sein. Oft wurde er mit der Frage konfrontiert, welche Macht er als Abgeordneter habe. Er wusste die Frage anderen Menschen gegenüber nur mit stereotypen Wörtern zu umschreiben wie Verantwortung, Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten, Mitwirkung am politischen Regierungskonzept, Arbeit an guten Gesetzen. Wenn er vor seiner Kladde saß und schrieb, war das ganz anders. Dann sah er die Welt vor sich als etwas Unförmiges, als eine zerklüftete Landschaft aus Lug und Betrug, in der Menschen wie er mit der Kraft ihres Wissens und ihres Daseins Schlimmeres verhüten. Schrieb er an sich selbst, war ein Mann, den er sehr achtete, der ihm aber auch unheimlich war.

    Die neue Kladde mit den Aufzeichnungen nach der Sonnenfinsternis beginnt mit den Sätzen:

    „Eine deutsche Widerstandsbewegung hatte es in der Sowjetzone der 50er Jahre gegeben. In ihr waren sicher ehrenhafte Männer. Aber wir kennen sie nicht. Sie verschwand spurlos."

    M war auf der einen Seite stolz, ganz von allein einem Skandal auf die Spur gekommen zu sein, dessen politische Tragweite noch gar nicht abzusehen war. Auf der anderen Seite erregte ihn die Vorstellung, weil er nicht ausschließen wollte, dass allein sein Besuch bei der Wahrsagerin ihn auf die Spur gesetzt hatte, ohne dass er sich genau erinnern konnte, was dort bei dieser Frau mit ihm geschehen war. Der Besuch in Friedrichshain am Nachmittag des Tages der Sonnenfinsternis war ihm in den Knochen stecken geblieben. Mit der Zeit war er sich sicher geworden, dass vor der Verabschiedung von seiner Wahrsagerin noch ein Satz von ihr gesprochen worden war, der zunehmend als Last des Besuchs auf seiner angespannten Seele lag. Bevor er nämlich die Frau am Tag der Sonnenfinsternis tief in der Nacht verlassen hatte, saßen sie im matten Schein der Kugel Auge in Auge sehr nahe gegenüber. Sie hatte seine beiden Hände festgedrückt, was bei ihr nie üblich war, und hatte fast ängstlich mit unterdrückter Stimme geflüstert: „Es wird sehr bald etwas Fürchterliches geschehen, das unser ganzes Land in Schrecken versetzen wird. Ich sehe, wie etwas in voller Wucht zerschellt, sehe einen Regen aus Trümmern vom Himmel fallen." Ihre Stimme war dann erloschen, und die Wahrsagerin hatte ihn wenig später schnell aus der Tür gedrückt und sie hinter ihm laut verschlossen.

    M kann sich gut erinnern, wie unsicher hinterher seine Schritte auf der Straße waren, obgleich er sich viel Mühe gab, keinerlei Aufsehen zu erregen. Er winkte sich ein Taxi und ließ sich in ein ihm bekanntes Hotel in die Mitte der Stadt fahren. Er hatte nur wenige Sachen in eine Handtasche gesteckt, als er seine Wohnung am Nachmittag des Tages der Sonnenfinsternis verlassen hatte. Unter den wenigen Sachen war auch die neue Kladde. Er blieb von der Nacht bis zum Montag früh im Hotel. Seine einzigen Ausflüge in dieser Zeit führten ihn zur Polizei. Dort hatte er mit dem Kommissar Peter L. einen vortrefflichen Informanten getroffen.

    Er hatte herausgefunden, dass es in den letzten Monaten jeweils in der Nacht vom Sonntag auf den Montag vier Anschläge gegeben hatte, deren Handschrift gleich war und auf ein und denselben Täter hinwiesen. Dennoch blieben Hintergründe und Tatabläufe rätselhaft. Brandsätze, die alle ohne großen Schaden anzurichten gezündet waren, wurden gegen den Reichstag, gegen die CDU-Geschäftsstelle im Tiergarten und zweimal gegen das Paul-Löbe-Haus, den langen Gebäudetrakt des Bundestages gegenüber dem Bundeskanzleramt, geworfen. Diese Objekte galten als besonders gut gesichert und durch Videokameras überwacht. Kein einziges Mal hatte es irgendwelche Spuren eines Täters gegeben. Kommissar Peter L. war sicher, dass bei den Ermittlungen die Scham über das Versagen der umfangreichen Überwachungen die Tateinschätzung mit weitem Abstand am stärksten prägte. Die Öffentlichkeit hätte sich mehr über die staatlichen Stellen als über die Taten empört, zu Recht, wie er meinte.

    An jedem der Tatorte wurden Flugblätter der DWB gefunden, sehr amateurhaft gemacht, mit inhaltlich unauffälligen Aneinanderreihungen allgemein bekannter Sätze gegen Flüchtlinge und Migranten. Über die Deutsche Widerstandsbewegung wussten die Geheimdienste eigentlich nichts. Das war der politische Skandal, wie M sofort erkannte. Auch M interessierte sich nicht besonders für die Inhalte der Pamphlete. Er las da den üblichen rechtsradikalen Unsinn, wie er zurzeit zuhauf verbreitet wurde. M empörte es, dass eine bisher unbekannte Gruppe, ohne aufzufallen, zentrale Gebäude der Demokratie attackieren konnte. Das darf sich eine wehrhafte Demokratie nicht gefallen lassen. Mit vergleichsweise beschränkten Mitteln können ein paar Verrückte alle aufwändigen und teuren Sicherheitssysteme überlisten und Anschläge im Allerheiligsten der Macht verüben, und keiner weiß etwas Genaues. M fühlt sich im Herzen getroffen. M war sicher, eine Spur zum Terrorismus gefunden zu haben.

    Offensichtlich ist er der erste Politiker, der dieser Spur nachgeht. Auf ihn kommt es jetzt an. M sieht seine aktuelle Bedeutung als Politiker wachsen. Ab nun wird seine Stimme Gewicht bekommen. Ab nun wird er gefragt sein. Er wird ruhig und selbstbewusst Antworten vortragen, in seinem Ausschuss berichten, vor der Presse sein Gesicht zeigen. Dieses Wochenende wird der Ausgangspunkt für einen Sprung in seiner Karriere sein. Mit Peter L. hat er ins Schwarze getroffen. Auf ihn wird er sich berufen können, ohne ihn als Informationsquelle zu nennen und ihn in seinem dienstlichen Umfeld zu gefährden. Natürlich wird er mit keiner Silbe erwähnen, wie ihn seine Wahrsagerin auf diese Spur gesetzt hatte. Für sie empfindet er jetzt dankbare Zuneigung.

    Ganz so ahnungslos waren die staatlichen Einrichtungen allerdings nicht, wie M zunächst annahm. M hatte nicht ganz genau hingehört, was ihm bereits Peter L. zu berichten wusste. Die Unterhaltung mit Peter L. war zu sehr überlagert durch Versicherungen und Rückversicherungen für einen unbedingten Informantenschutz, die mit einer Art Schwur durch M abgeschlossen wurden. M hatte sich dafür verbürgt, dieses Treffen nie zu erwähnen und den Namen des Informanten oder seiner Dienststelle nie ins Gespräch zu bringen. Der Generalbundesanwalt hatte bereits nach dem zweiten Anschlag wegen des Inhalts der Flugblätter einen „Beobachtungsvorgang für die Akten anlegen lassen und darüber in der Sitzung des „Gemeinsamen Extremismus und Terrorismus Abwehrzentrum informiert. M hatte sich lediglich das Stichwort Generalbundesanwalt notiert, das Zentrum hatte er nicht weiter beachtet. Ihm gehörten auch das Bundeskriminalamt und das Landeskriminalamt Berlin an. Das waren Informationen, die M nicht sorgfältig genug registriert hatte. So war ihm entgangen, dass das LKA bereits die Berliner Staatsanwaltschaft informiert hatte, die in Sachen Brandstiftung wegen der rätselhaften Nachtanschläge ermittelte. Aber richtig lag M mit der Einschätzung, dass es keine Aufklärung gegeben hatte, dass die ganze Sache der Öffentlichkeit vorenthalten worden war.

    In seinem Hotel grübelte M über seine nächsten Schritte. Vor seinen Augen entsteht die Dramaturgie für die Einrichtung eines neuen Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages, möglichst unter seiner Leitung. Seine Handlungsstrategie ist aus seiner Sicht konsequent und politisch zwingend. Das kriminelle Delikt der Anschläge muss in die politische Sprache des Schutzes von Staat und Gesellschaft übersetzt werden. Die Inhalte der Flugblätter sieht er nicht als die eigentliche Gefahrenquelle. Sie sind für ihn altbekannte Floskeln, nicht gerade anregend, aber leider Bestandteil der laufenden Auseinandersetzungen in der Bevölkerung, Ausdruck der Angst vor den Flüchtlingen, die ins Land kommen, Abneigung gegen die vielen Menschen aus anderen Ländern, die sich in Deutschland breitgemacht haben. Doch die Anschläge als Tat verweisen auf einen anderen Zuschnitt der Täter als jene Menschen, die Vorstellungen in ihren Köpfen haben, wie sie in den Flugblättern aufgeschrieben sind. Die Täter, so baut M seine Hypothese auf, stammen aus dem aktionistischen Milieu der Stadt, das als Folge der sozialen und kulturellen Verwahrlosung immer größer wird und das er an vielen Stellen der Stadt anschaulich besichtigen kann.

    Am Montag, dem 23. März stand M sehr früh auf, frühstückte einigermaßen entspannt im Hotel und genoss seit Tagen zum ersten Mal wieder seinen Kaffee. Er möchte pünktlich in seinem Büro sein. Vor ihm liegt nicht nur eine anstrengende Sitzungswoche. Er will darüber hinaus politische Verantwortung durch Eigeninitiative demonstrieren, die ihm sein neues Wissen auferlegt hat. Wie es seine Gewohnheit ist, überflog er am Morgen in seinem Smartphone die lange Liste der News, die ihm von seiner Partei zur Verfügung gestellt werden. Keine der Überschriften fesselte ihn sonderlich oder regte zum Weiterlesen an. Er war bereits in der Nachhut der Nachrichten angekommen, beim Vermischten und Sex and Crime des Tages sozusagen. Diese weniger wichtigen Meldungen scrollt M normalerweise im Schnelldurchgang. Aber da! Wie elektrisiert las er: „Brandsätze gegen das Paul-Löbe-Haus".

    Wie im Sturm rasten die Zeilen durch seinen Kopf, die er da las:

    „Gegen das Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages ist in der Nacht zum Montag gegen 2.00 Uhr ein Brandschlag verübt worden. Sachbeschädigungen sind nicht entstanden. Der Brandsatz hat nicht gezündet. Vom Täter fehlt noch jede Spur. Am Tatort wurden Flugblätter der als rechtsextrem eingestuften Deutschen Widerstandsbewegung gefunden. In ihnen wird gegen Multikulti gehetzt und vor einer Überfremdung des deutschen Volkes gewarnt. Die Flugblätter sind überschrieben: „Der Ausgangspunkt der Gewalt ist die Ignoranz der Herrschenden."

    Seine gerade zurecht gelegten Sätze über den DWB wirbelten durcheinander. Seine kaum ins Gleichgewicht gependelte Gemütsverfassung brach wie in einem Beben erschüttert zusammen. „Zerschellen" fiel als erste Wortassoziation in sein Bewusstsein.

    M stand abrupt auf, ließ seinen Kaffee stehen, packte die wenigen Sachen in die Tasche und ließ ein Taxi rufen, mit dem er die kurze Entfernung zum Parlament zurücklegte. Er ließ sich vor dem Osteingang des Reichstags absetzen, hielt dem Sicherheitspersonal seinen Hausausweis hin und eilte in festen langen Schritten kurz nach oben zum Plenarsaal, wo er sich in die Anwesenheitsliste für die Abgeordneten seiner Fraktion eintrug. Dann eilte er mit hastigen Schritten durch die labyrinthischen Gänge der Katakomben entlang der Spree hinauf in sein Büro. Schatz war schon da, an der er kurz und freundlich grüßend vorbei in sein Zimmer trat. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, fühlte sich außer Atem. Seinen Kopf hatte er zwischen beiden Händen eingekeilt und die Augen in eine imaginäre Ferne gerichtet.

    „Kannst du bitte ein Diktat aufnehmen, Schatz? Es ist wichtig."

    Seine Sekretärin kam sofort mit Block und Bleistift in sein Zimmer. Sie ist eine der wenigen Sekretärinnen im Bundestag, die noch die Stenografie beherrscht.

    „Schatz, es ist wirklich sehr wichtig, und ich möchte, dass die Dokumente nicht per Mail gesendet werden, sondern dass du sie in Umschlägen verschließt und über die Hauspost verschickst."

    M sitzt aufrecht vor seinem Schreibtisch und sieht übermüdet aus. Seine Sekretärin lächelt ihm dennoch freundlich entgegen, wohl ein wenig aus Mitleid. Es wäre ihm noch ein wenig Zeit für eine Rekonvaleszenz zu gönnen, der Arme, denkt sie. Aber sie weiß aus Erfahrung, die Arbeit eines Abgeordneten ist ein Knochenjob. Das sagt sie auch immer wieder in ihrem Bekanntenkreis.

    M diktierte ihr einen Brief an den Vorsitzenden seiner Fraktion sowie auch an den Vorsitzenden des Innenausschusses. Er berichtete kurz über die Kette der Anschläge auf die CDU-Zentrale und den Bundestag, die „Herzkammer unserer Demokratie. Er deutete sein Hintergrundwissen an, das er aus einer „sehr gut unterrichteten Quelle erworben habe. Vollständig bedeckt hielt er sich noch mit seiner Vermutung, dass er hinter den Anschlägen Täter aus der linken Szene vermutet, die eine falsche Fährte gelegt haben, indem sie sich hinter den Stereotypen der Rechtsradikalen tarnen. Stattdessen folgte der Schlussabsatz seines Schreibens:

    „Es steht mir als einzelnem Abgeordneten nicht zu, unserer gemeinsamen Verantwortung durch eigene Ermittlungen und mit eigenen Bewertungen nachzukommen. Sie werden mit mir übereinstimmen, dass wir uns nach

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