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Lingua Mathematica: Ein mathematischer Fantasy-Roman
Lingua Mathematica: Ein mathematischer Fantasy-Roman
Lingua Mathematica: Ein mathematischer Fantasy-Roman
eBook399 Seiten5 Stunden

Lingua Mathematica: Ein mathematischer Fantasy-Roman

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Über dieses E-Book

Der alte Leuchtturm des kleinen Städtchens Hyvelstörp birgt ein dunkles Geheimnis. Ein mysteriöses mathematisches Symbol scheint der Schlüssel zu sein.

Juri und Maria, zwei Schüler der sechsten Klasse, wollten eigentlich nur das schöne Sommerwetter am Ende des Schuljahres genießen. Doch jetzt sind sie einer Sache auf der Spur, die ihre Welt völlig durcheinander wirft. Weiß man auf der Forschungsplattform für Hochenergiephysik draußen vor der Küste mehr, als die Bevölkerung wissen darf? Oder sind hier noch größere Mächte am Werk?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum14. Feb. 2021
ISBN9783753163307
Lingua Mathematica: Ein mathematischer Fantasy-Roman

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    Buchvorschau

    Lingua Mathematica - Armin Schneider

    Mathematikunterricht

    Eine Stunde hat 60 Minuten. Eine Minute hat 60 Sekunden. Das macht dann 3.600 Sekunden in einer ganzen Stunde. Eine Schulstunde hat 45 Minuten, also ¾ einer ganzen Stunde. Ein Viertel von 3.600 sind 900. Und das mal drei - das macht dann 2.700 Sekunden in einer Schulstunde.

    Jede Sekunde dauerte ein langes qualvolles Jahr.

    »Am Ende dieser Schulstunde werde ich 2.700 Jahre älter sein«, dachte Juri. »Eine Mumie, fest mit dem Stuhl und dem Pult verwachsen. Wenn mich jemand bewegen will, zerfalle ich zu trockenem, erstickendem Staub.«

    24 Stunden in einem Tag. 86.400 Sekunden. Jede von ihnen die Ewigkeit. Zeit und Raum lösten sich auf. Die monotonen Geräusche der vor sich hinarbeitenden Kinder, die zwei Seiten Text-Aufgaben aus dem Mathebuch lösen mussten, das rhythmische Ticken der Wanduhr, deren Zeiger sich einfach nicht weiterbewegen wollten - alles Teil eines teuflischen Plans eines Wesens aus einer anderen Dimension, das einem den Lebenssaft mit Hilfe von Zirkel und Lineal aus der Seele saugen wollte. Der Lehrer, Herr Hagen, saß derweil vorn am Lehrerpult und las seine Zeitung, die Lehne seines Stuhls nach hinten geklappt, die übereinandergeschlagenen Beine auf der Schreibtischplatte neben dem großen Abakus, den er aus nostalgischen Gründen immer dort stehen hatte.

    60 Sekunden, 60 Minuten, 60 Jahre.

    Juri seufzte und blickte aus dem Fenster. Draußen war der schönste Sonnenschein. Vor drei Jahren war er mit seinen Eltern aus der Ukraine an diesen kleinen Ort Hyvelstörp an der nordostdeutschen Küste gezogen. Sein Vater war Physiker und im Rahmen eines gemeinsamen Projekts der Regierungen von Deutschland und der Ukraine zur Erforschung von abnormen Phänomenen der Hochenergiephysik nach Deutschland versetzt worden. Seitdem war sein Vater kaum noch zu Hause gewesen. Seine Arbeitsstelle lag draußen vor der Küste auf einer streng bewachten und von der Außenwelt abgeschnittenen schwimmenden Plattform. Juris Mutter arbeitete halbtags in der städtischen Bücherei, damit sie am Nachmittag zu Hause war, wenn Juri nach Hause kam. Sie war eine sehr schöne Frau mit langem fließenden schwarzen Haar, hohen Wangenknochen und makelloser, olivfarben getönter Haut. Und sie gab Juri die uneingeschränkte Geborgenheit und Liebe, die sein Zuhause eben zu seinem Zuhause machte.

    60 Jahre enthalten selbst 60 x 365 x 24 x 60 x 60 Sekunden. Das sind dann - ach halt - da gibt es ja auch noch Schaltjahre. Wie war die Regel dafür nochmal?

    Juri selbst war ein unauffälliger, blasser, schmächtiger Junge von gerade zwölf Jahren mit braunem Haar und Sommersprossen auf der Nase. In allem war er so ziemlich der Durchschnitt. Im Sport war er nicht sonderlich gut, dafür hielt er mit Ach und Krach seine Drei in Mathematik und auch in den anderen Fächern. Still und zurückhaltend hatte er noch keine richtigen Freunde gefunden. Aber Juri hatte Träume. Wenn er allein in seinem Zimmer saß, stellte er sich vor, wie auch er eines Tages ein berühmter Forscher und Physiker werden würde. Oder besser noch: Astronaut! Er hatte ein großes Teleskop an seinem Fenster stehen, mit dem er die Sterne beobachten konnte. Das Teleskop hatte er letztes Weihnachten von seinem Vater bekommen, bevor der gleich wieder zu seiner Forschungsstation beordert worden war. Juris Mutter ermutigte ihn in seinem Hobby, aber als er einmal seinem Lehrer davon erzählte, hatte der nur die Stirn gerunzelt und gesagt, da müsse er aber noch in Mathe eine ganze Schippe drauflegen, denn ohne Mathematik ginge in der Astrophysik nichts.

    Mit äußerster Willensanstrengung wandte Juri seinen Blick vom Fenster ab und starrte auf sein leeres Heft. Er kritzelte eine »1)« in die obere linke Ecke für die erste Aufgabe und seufzte erneut. Es half nichts, er musste jetzt mal anfangen. Von rechts neben ihm vernahm er das flinke Kratzen eines Füllers über Papier. Neben ihm saß Maria Stevens, die Klassenbeste. Sie hatte natürlich schon mehrere Seiten mit Antworten gefüllt. Juri dachte, er könnte jetzt wenigstens eine kleine Starthilfe gebrauchen, und versuchte zu erkennen, was Maria denn so alles geschrieben hatte. Doch ihr langes blondes Haar fiel ihr beim Schreiben nach vorn wie ein Vorhang, der ihm die Sicht auf ihr Heft versperrte. Und auch ihr Arm lag quer über der linken Heftseite, sodass er auch dort nicht das Geringste entziffern konnte.

    Maria merkte, dass jemand sie anstarrte. Sie drehte den Kopf und richtete ihre klaren blauen Augen vorwurfsvoll auf Juri. Dann sah sie hinunter auf sein leeres Blatt und flüsterte: »Warum schreibst du nicht? Die Stunde ist bald vorbei.«

    Juri lief knallrot an, einmal, weil Maria ihn erwischt hatte, und einmal, weil er sich schämte, dass er noch nichts zustande gebracht hatte. Die Sprache versagte ihm. Er konnte nur ein dummes Gesicht machen und hilflos mit den Schultern zucken.

    Maria schaute ihn noch ein paar Augenblicke durchdringend an und verdrehte dann genervt die Augen. »Hier.« Damit nahm sie ihren linken Arm vom Heft, damit er ihre Antworten lesen konnte. »Aber das heißt nicht, dass du das immer machen darfst«, zischte Maria ihm leise zu.

    Endlich klingelte es zum Ende der Stunde. Die Kinder packten eilig ihre Sachen, gaben ihre Rechenaufgaben bei Herrn Hagen ab und strömten dann lärmend und ausgelassen nach draußen in die Freiheit des sonnigen Nachmittags. Das Wochenende lachte. Nur Juri blieb tief in Gedanken zurück. In Zeitlupe packte er seine Bücher ein.

    »Juri, was ist los? Die Stunde ist zu Ende, und die anderen sind schon raus«, riss ihn die Stimme von Herrn Hagen aus seiner Trance. »Beeil‘ dich, ich will den Klassenraum abschließen.«

    Im Hinausgehen drückte Juri mit gesenktem Kopf seinem Lehrer sein Heft in Hand. »Tut mir leid, ich bin nicht ganz fertig geworden«, murmelte Juri.

    Herr Hagen runzelte die Stirn. »Die Zeit war mehr als ausreichend, und die anderen sind doch auch alle fertig geworden.«

    Juri konnte nur verlegen mir den Schultern zucken.

    »Also, ich weiß auch nicht, wie das mit dir weitergehen soll, Juri«, sagte Herr Hagen streng. »Ich meine, bisher konntest du deine Drei halten, aber seitdem wir das neue Thema begonnen haben, habe ich nicht den Eindruck, dass du mit den anderen Schülern mitkommst. Die letzte Lernzielkontrolle war jedenfalls sehr enttäuschend. Wenn du dir jetzt Lücken im Stoff leistest, wirst du es später wirklich schwer haben. Ich mache mir Sorgen. Du willst doch mal Astrophysiker oder Astronaut werden. Ich werde mal mit deinem Vater sprechen. Der ist doch Wissenschaftler. Kann der dir nicht ein bisschen helfen?«

    »Mein Vater ist fast nie zu Hause. Er arbeitet immer draußen auf der Plattform.«

    »Ach ja, stimmt. Na, dann werde ich eben mit deiner Mutter sprechen. Sage ihr bitte, dass sie sich bei mir melden soll, damit wir einen Termin ausmachen können.«

    Und damit öffnete er für Juri die Klassentür und deutete ihm unmissverständlich an, dass die Schule und das Gespräch beendet waren. Juri quetschte sich an Herrn Hagen vorbei und verließ mit roten Ohren den Raum. Er schämte sich und wäre wirklich gern besser in der Schule. Aber irgendwie wollte der Knoten nicht platzen.

    Draußen vor der Schule standen die Schülerinnen und Schüler in Grüppchen auf dem Schulhof schwatzend und lachend zusammen und machten Pläne für das bevorstehende warme Wochenende.

    »Oh nein«, dachte Juri, »auch das noch.« Da standen Klaus, der Dicke Willi und der lange Dirk zusammen. Sie waren eine Klassenstufe höher und gehörten zu den coolen Kids der Schule. Aus irgendeinem Grund hatten sie es gerade immer auf Juri abgesehen, wenn sie jemanden zum Schikanieren und Demütigen suchten.

    Juri zog den Kopf ein und steuerte geradewegs dem Torausgang des Schulhofes zu. Wenn er sich mit gesenktem Blick auf der anderen Seite der Traube von Mädchen aus seiner Klasse vorbeidrückte, die gerade eifrig mit ihren Smartphones beschäftigt waren, würden die drei Rowdys ihn vielleicht nicht sehen. »Bloß nicht hochschauen«, sagte sich Juri.

    »Hey, da ist ja unser Russe! Warte mal!«

    Zu spät. Sie hatten ihn gesehen, kamen direkt auf ihn zu und traten ihm in den Weg.

    »Bin kein Russe, ich bin aus der Ukraine«, murmelte Juri, der plötzlich scheinbar ein großes Interesse an seinen Turnschuhen gefunden hatte.

    »Na sowas, unser Aussiedler hat plötzlich Ahnung von Geographie«, höhnte Klaus. »Dann sag‘ uns doch mal, was die Hauptstadt von Opfer-Land ist.«

    »Kenne ich nicht.« Juris Stimme war kaum zu hören. Dafür leuchteten seine knallroten Ohren umso heller.

    »Das kennt er nicht!« Klaus mimte großes Erstaunen, während Willi und Dirk an seiner Rechten und Linken von einem Ohr zum anderen feixten. »Das müsstest du aber doch kennen. Da wohnen nämlich alle Opfer. Also auch du.«

    Mittlerweile hatten die umstehenden Kinder bemerkt, dass etwas Aufregendes passierte. Im Nu hatte sich ein Kreis um die drei Flegel und den armen Juri gebildet. Alle gafften neugierig, aber keiner tat oder sagte etwas. Es war nicht ratsam, auf die schlechte Seite von Klaus und seiner Gang zu geraten.

    »Lasst mich in Ruhe«, stammelte Juri und wollte sich zwischen Klaus und dem Dicken Willi durchquetschen. Aber die hielten ihn fest und stießen ihn zurück.

    »Nein, nein, nein, so geht das nicht«, sagte Klaus und hielt Juri die offene Hand hin. »Bürger von Opfer-Land müssen Zoll bezahlen, wenn sie in unsere kleine Stadt einreisen wollen.«

    »Ich habe aber kein Geld.«

    »Kein Geld? Was wollen wir dann mit unserem kleinen Opfer machen, Männer? Stecken wir ihn in die Mülltonne, oder schmeißen wir seine Turnschuhe auf das Dach der Schule?«

    »Ich bin für eine Haarspülung in der Toilette«, grinste der lange Dirk, der immer die gemeinsten Ideen ausheckte.

    »Tolle Idee, Dirk. Seine Haare sind ja wirklich ganz fettig. Los, packen wir ihn und dann ab aufs Schulklo.«

    Die herumstehenden Schülerinnen und Schüler johlten vor Schadenfreude. Solange es sie nicht selbst traf, war ihnen jede Form der Unterhaltung recht, die ihnen Klaus und seine beiden Handlanger boten. Die drei Rowdys gingen auf Juri los und hatten ihn nach kurzem Rangeln fest im Schwitzkasten. Sein verzweifeltes Strampeln und Winden nutzten Juri kein bisschen, und so wurde er gegen seinen heftigen Widerstand Schritt um Schritt Richtung Schulklo bugsiert. Derweil lachten und applaudierten seine eigenen Klassenkameraden am lautesten.

    Juri versuchte, dem Dicken Willi in die Rippen zu boxen, doch Dirk ergriff seinen Arm im richtigen Moment und verdrehte ihn auf Juris Rücken, sodass er Angst hatte, er könne jeden Augenblick brechen. Derweil zog Willi seinen fetten Arm immer fester um Juris Hals zusammen. Juri bekam fast keine Luft mehr. Sein Arm schmerzte wie Feuer, und Tränen und Schweiß rannen ihm in seine Augen, sodass er nichts mehr sehen konnte. Der Lärm der brüllenden Schüler löschte jedes andere Geräusch aus. Dann boxte ihm Klaus auch noch kräftig in den Magen. Juri wurde schlecht und hätte sich hustend zusammengekrümmt oder gar übergeben, wenn ihn Dirk und Willi nicht fest im Griff gehabt hätten.

    Doch plötzlich kam der kleine Trupp jäh zum Stehen.

    »Aufhören! Sofort!« ertönte eine helle Stimme.

    Der Griff um Juris Hals und seinen Arm lockerte sich, und Juri sank auf die Knie, um Atem ringend.

    »Was fällt dir ein, dich einfach so einzumischen?« hörte Juri die barsche Stimme von Klaus.

    Als er durch den feuchten Schleier vor seinen Augen hindurch blinzelte, konnte er an den Beinen von Klaus, Willi und Dirk vorbei schemenhaft die Situation erkennen. Die drei hatten ihm den Rücken gekehrt und ihn einfach zu Boden sinken lassen. Vor ihnen stand wie ein rettender Engel im hellen Sonnenlicht mit wehenden blonden Haaren ... Maria! Und sie fuchtelte energisch mit irgendetwas Rechteckigem vor Klaus‘ Nase herum.

    »Ihr seid ja richtig mutig! Drei auf einen, der noch dazu eine Klasse unter euch ist!«

    »Ooooh, Leute. Wie interessant. Maria hat ein Herz für kleine Opfer!« zischte Klaus bedrohlich. »Hast den Russen ja ganz schön ins Herz geschlossen.«

    »Knutschie, knutschie, knutschie!« machte der Dicke Willi und schmatzte dabei ein paar Küsse in die Luft.

    Die umstehenden Schüler kicherten.

    »Und, was willst du jetzt machen, Kleine? Du willst doch keine Entscheidung treffen, die dir und deinem kleinen Russen-Freund leidtun könnte.«

    »Knutschie, knutschie, knutschie!« machte der Dicke Willi.

    »Ich bin nicht ‚deine Kleine‘«, ereiferte sich Maria und trat so nah an Klaus heran, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Hätten ihre blauen Augen Blitze schießen können, wäre Klaus‘ Kopf augenblicklich in Flammen aufgegangen.

    Gegenwehr war Klaus noch nie passiert. Das war er nicht gewohnt. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. »Pass‘ bloß auf!« drohte er und pumpte sich zu seiner vollen Größe auf.

    »Komm, lassen wir sie mit ihrem Opfer-Lover allein«, sagte Dirk und ergriff Klaus‘ Schulter.

    »Knutschie, knutschie, knutschie!« machte der Dicke Willi.

    Es gab einen dumpfen Knall. Die Augen vom Dicken Willi flatterten, verzogen sich dann zu einem verdrehten Schielen, und er kippte wie ein Brett nach hinten und wäre auf den Asphalt des Schulhofs geschlagen, wenn ihn seine beiden Kumpane nicht geistesgegenwärtig aufgefangen hätten.

    Maria hielt das große rechteckige Mathematikbuch hoch über den Kopf. »Will noch jemand eine Portion Grips eingehämmert bekommen?«

    »Was geht denn hier vor?!« Herr Hagen stand wie die geballte Faust Gottes auf der Schwelle des Schulhauses.

    Ganz plötzlich hatten alle Schüler es furchtbar eilig, den Schulhof zu verlassen. Im Gehen rief Klaus noch zu Juri und Maria herüber, dass das Ganze noch nicht zu Ende sei. Dann nahmen er und Dirk den Dicken Willi unter die Arme, dessen Nase schon zur doppelten Breite angeschwollen war. Keine 30 Sekunden später waren Juri und Maria allein auf dem Schulhof mit Herrn Hagen.

    »Herr Lehrer, ich...« begann Maria.

    »Du brauchst dich nicht zu erklären, Maria«, entgegnete der Mathematiklehrer. »Ich habe das Ende des Schauspiels mitbekommen. Das war sehr mutig und anständig von dir. Ist alles OK mit dir, Juri? Soll ich die Eltern von Klaus, Dirk und Willi anrufen?«

    Maria half Juri auf Beine.

    »Nein«, krächzte Juri. »Es ist schon alles gut.«

    »Bist du sicher?«

    »Ja. Kein Problem.« Er rieb seinen Bauch und seinen schmerzenden Arm.

    »Gut. Aber wenn die drei nochmal Ärger machen, dann sag‘ mir sofort Bescheid.« Und an Maria gewandt, fügte Herr Hagen noch mit einem Lächeln und einem Nicken auf das Mathematikbuch hinzu: »Hey, in Deiner Hand ist Mathematik ja eine richtige Waffe, Maria. Schönes Wochenende noch.« Und damit drehte er sich um und ging mit seinem kleinen Aktenköfferchen mit langen Schritten vom Hof.

    Da ist noch so viel mehr

    »Tut es sehr weh?« fragte Maria.

    »Nur wenn ich lache«, sagte Juri, und zu seiner Überraschung musste er wirklich plötzlich lachen.

    »Das war wirklich Klasse von dir, wie du dem Willi das Buch auf die Nase gehauen hast. Aua!«. Juri verzog das Gesicht und hielt sich seine Körpermitte.

    Maria grinste. »Das war aber auch höchste Zeit, dass denen jemand mal eine Lektion erteilt hat.«

    »Danke, dass du mir geholfen hast.« Juri stand verlegen herum und nestelte mit seinen Fingern.

    »Gern.« Maria strahlte ihn an, und ihre blauen Augen funkelten in der Sonne.

    Juri überwand seine Scham und strahlte zurück. Ein paar Sekunden sagte keiner von beiden ein Wort. Sie schauten sich einfach nur lächelnd und schweigend in die Augen.

    Dann begannen plötzlich Marias Schultern zu zucken und zu zittern. Juris Stirn legte sich in Falten des Nichtverstehens. Schließlich prustete Maria los. Aus einem Prusten wurde ein Kichern. Aus einem Kichern wurde ein Lachen. Aus einem Lachen wurde ein Sturm der Heiterkeit. Auch Juri ließ sich davon Anstecken und mitreißen. Die beiden Kinder lachten und lachten, bis sie sich die schmerzenden Seiten hielten und nach Luft rangen.

    »Ich weiß nicht, wovon mir morgen der Bauch mehr wehtun wird«, keuchte Juri, »von der Prügelei oder vom Lachen.«

    »Eine richtige Prügelei sieht aber anders aus«, kicherte Maria wieder los. »Da steckt einer nicht nur alles ein, sondern teilt auch mal etwas aus.«

    »Aufhören, ich kann nicht mehr!« kicherte Juri und wischte sich die Tränen aus den Augen.

    Zusammen gingen sie hinüber zu den Fahrradständern, wo Maria ihr Fahrrad angeschlossen hatte.

    Juri nahm all seinen Mut zusammen: »Sag‘ mal, Maria. Du bist doch so gut in Mathe und so. Kannst du mir nicht ein bisschen helfen?«

    »Ja, gern. Kein Problem. Wir könnten heute gleich damit anfangen und unsere Schulaufgaben gemeinsam machen.«

    »Das würdest du tun?«

    »Natürlich. Ich muss die Aufgaben doch ohnehin machen.« Maria machte ihr Fahrradschloss auf und schob das Fahrrad vom Schulhof.

    »Ohne mich bist du doch viel schneller.«

    »Quatsch‘ nicht. Gehen wir zu dir? Meine Mama putzt heute die Wohnung, und da ist es bei uns nicht besonders gemütlich.«

    »Ok«, strahlte Juri. »Meine Mama kann uns Blinis zum Abendessen machen. Und ich kann dir mein Teleskop zeigen.«

    »Du hast ein Teleskop? Cool!«

    Sie schlenderten durch die Gassen von Hyvelstörp und standen schließlich vor einem großen mit Reet gedeckten Haus inmitten eines wunderschönen Gartens dicht an der Steilküste, welches das Heim von Juri und seinen Eltern war. Maria staunte nicht schlecht über die wunderbare Aussicht und den gepflegten Garten. Das Haus musste sehr teuer gewesen sein, aber offenbar verdienten Juris Eltern viel Geld. Sie wusste, dass Juris Vater irgendetwas für die Regierung machte. Sie selbst wohnte im Ort in der Siedlung in einer kleinen Mietwohnung. Marias Vater arbeitete in einer Tankstelle, ihre Mutter in einer Steuerberatung. Viel Geld hatten sie nicht, aber zum Leben reichte es. Marias Vater wollte immer, dass sie es einmal besser haben sollte, und so unterstützte er ihren Wunsch, einmal Abitur machen zu wollen und zu studieren. Das war keinesfalls selbstverständlich.

    Sie war genau wie Juri ein Einzelkind. Sie hatte sich immer schon einen Bruder gewünscht, doch ihre Eltern hatten offenbar andere Pläne gehabt. Und nun war da auf einmal Juri.

    Juri hatte ein total schickes, großes Zimmer unter dem Dach. Die gesamte Zimmerdecke stellte ein Bild einer Galaxie dar, wobei die großen Fixsterne Deckenspots waren. Die kleineren Sterne konnten als kleine LEDs separat dazu geschaltet werden. Juri hatte neben dem Bett eine eigene kleine Sitzecke mit einer gemütlichen Couch und einem schwingenden Sessel, der mit einem Strick an der Decke befestigt war. Auf dem Schreibtisch hatte er einen eigenen top-modernen Computer, und an der Wand hing über der Stereoanlage ein großer Flachbild-Fernseher, der selbstverständlich auch 3D-Filme darstellen konnte. Juri hatte so ziemlich alles, was sich ein Zwölfjähriger wünschen könnte. Juri hatte sogar einen eigenen Balkon mit Blick zur Ostsee. Dafür sah er seinen Vater so gut wie nie.

    Maria schaukelte in Juris Sessel und schob sich gerade den letzten Blini in den Mund, den Juris Mutter den Kindern aufs Zimmer gebracht hatte.

    »Wirklich lecker, diese Blinis.«

    »Waren das deine ersten Blinis?«

    »Ja. Ich wusste gar nicht, dass die russische - ich meine - die ukrainische Küche so gut ist.«

    »Mach‘ dir nichts draus. Da gibt es ganz viele Gemeinsamkeiten«, winkte Juri ab.

    »Zeigst du mir jetzt Dein Teleskop?«

    »Klar.«

    Das Teleskop stand auf Juris Balkon. An einem klaren Tag konnte er damit sogar gerade noch die Forschungsplattform seines Vaters erkennen. Nach Westen konnte man sehr gut den alten Leuchtturm an der Steilküste betrachten.

    »Ich habe eine Idee«, platzte Maria heraus. »Ich frage meine Mama, ob ich heute länger wegbleiben kann, und dann können wir uns gemeinsam die Sterne ansehen. Bis es dunkel wird, haben wir auch unsere Hausaufgaben erledigt.«

    ----- ∀∃∮∞∡∛⊗ -----

    Ein paar Stunden später saßen Maria und Juri gemeinsam unter einer Wolldecke auf Juris Balkon. Die Nacht war sternenklar aber auch sehr kühl hier an der Küste. Der Mond war kurz davor, in einer vollen Scheibe zu erstrahlen. Juri hatte Maria begeistert alle Sterne und Galaxien gezeigt und erklärt. Sie war sehr wissbegierig gewesen, und dass er alle ihre Fragen beantworten konnte, erfüllte ihn mit Stolz und einem Selbstwertgefühl, das er bisher nicht gekannt hatte. Nun waren sie schon müde, und ihre Augen brannten vom angestrengten Starren durch die Linsen des Teleskops. Sie saßen mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt und blickten hinaus in den Himmel.

    »Meinst du, man kann das alles berechnen?« fragte Juri nach einem langen Schweigen.

    »Was meinst du?«

    »Na, die Sterne. Wo die Sterne heute sind, wie sie sich bewegen, wo sie sein werden. Sowas eben.«

    »Ich weiß nicht. Ich hoffe es.«

    »Warum hoffst du das?«

    »Weil das Ganze damit einen Sinn ergäbe. Es würde dann einer bestimmten Logik folgen. Damit hätte das Universum einen erklärbaren Zusammenhang.«

    »Möchtest du denn alles erklären können?«

    »Nein. Aber es wäre schön, wenn man wüsste, dass es prinzipiell ginge. Wenn die Dinge nicht dem Zufall überlassen wären. Es wäre für mich sehr beruhigend. Es hätte eine bestimmte Schönheit. Das wäre so, als ob du ein Bild betrachten und nach einer Weile erkennen würdest, dass der Künstler nicht nur Kleckse nach Gutdünken und Zufall auf die Leinwand gebracht, sondern sich etwas dabei gedacht hatte, was sogar bestimmten Regeln folgt.«

    »Malen nach Zahlen?«

    »Weißt du«, sagte Maria, »ich glaube, dass ganz Vieles von unserem Leben ein bisschen so ist.« Sie knipste die Taschenlampe von ihrem Handy an, holte das dicke Mathematikbuch hervor und schlug es auf. »Auf der einen Seite gibt es bestimmte Regeln, denen alles folgt und die wir berechnen können. Alles hängt durch Formeln miteinander zusammen. Auf der anderen Seite können wir mit unserem freien Willen Entscheidungen treffen, was diese Regeln durchbrechen kann, dann aber auch möglicherweise wieder logischen Regeln folgt.«

    »Ich glaube, jetzt hast du mich abgehängt.«

    Maria gähnte. »Ich will nur sagen: Da ist noch so viel mehr…. Aber es ist schon nach 22 Uhr.« Sie klappte das Buch zusammen und steckte ihr Smartphone ein. »Meine Mama wird mich jetzt gleich abholen. Es war schön, Juri. Sehen wir uns am Wochenende?«

    Juri lief wieder knallrot an, aber diesmal, weil er sich so freute.

    Anomalien im Hochenergiespektrum

    Das Zentrum zur Erforschung von abnormen Phänomenen der Hochenergiephysik war eine schwimmende Plattform draußen vor der Küste. Auf den ersten Blick hätte man sie für eine Ölbohrplattform ohne Beine gehalten. Sie war rot-weiß angestrichen, quadratisch und so groß wie zwei Fußballfelder. Den Auftrieb erzeugten große gelbe Schwimmkörper, die um die gesamte Plattform herum an den Kanten vertäut waren und an Bratschläuche kurz vor dem Platzen erinnerten.

    Das Deck war mit einem komplizierten Röhren- und Leitungssystem überzogen. Ein großer roter Kran ragte an der einen Kante empor. Mit ihm konnten nicht nur Verpflegung und wissenschaftliche Geräte von Versorgungsschiffen auf die Plattform gehievt werden, sondern auch das kleine gelbe Unterseeboot zu seinen Missionen ins Wasser und wieder heraus gehoben werden. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Helipad, eine erhöhte Plattform mit einem großen weißen »H« auf dem olivgrünen Boden, worauf Hubschrauber auch bei stärkerem Seegang sicher landen konnten. An der Ecke gleich neben dem Helipad erhob sich wie ein weißes Hochhaus mit großen Funkantennen und Radarschüsseln auf dem Dach der Wohn-, Ess- und Freizeitbereich der Plattform. Hier befanden sich auf fünf Stockwerken die Wohn- und Schlafräume der hier arbeitenden Wissenschaftler, zwei Kantinen, ein Café und mehrere Aufenthaltsräume. Daneben gab es einen Fitnessraum, ein Schwimmbad, eine Sauna und eine umfangreiche Bibliothek. Auch eine kleine Arztstation mit Apotheke gehörte zur Ausstattung der Plattform. Das oberste Stockwerk diente als Kommandozentrale. Hinter dunkel getönten Scheiben wurden von der diensthabenden Crew der gesamte Flug-, Schiffs- und Funkverkehr rund um die Plattform überwacht. Auch der Wetterdienst war hier angesiedelt.

    Doch das wissenschaftliche Herz der Anlage befand sich unter Wasser!

    Von außen nicht sichtbar, ragte vom Zentrum der Anlage ein langer schmaler Trichter fünf Stockwerke tief in die Ostsee hinein. Von diesem Trichter führten auf jedem Stockwerk waagerechte Röhren hinaus ins Meer wie die Speichen eines Rades, an deren Spitzen jeweils in einer kugelförmigen Verdickung die verschiedenen Labore und Messstationen der Anlage untergebracht waren. Die Station sah damit unter Wasser ein bisschen aus wie ein auf den Kopf gestellter Tannenbaum. An der untersten Spitze des Trichters, tief unter dem Meeresspiegel, befand sich schließlich das Rechenzentrum mit den derzeit leistungsfähigsten Sensoren und Supercomputern zur Auswertung von Messdaten und zur Simulation von Modellrechnungen. Drei Fahrstühle in der Mitte brachten die Wissenschaftler von ihren Behausungen an Deck zu ihren Unterwasser-Arbeitsplätzen und wieder zurück.

    Juris Vater, Pjotr Petkov, saß an einem Labortisch auf Ebene drei unter dem Meeresspiegel und blickte angestrengt in ein Mikroskop. Es war schon nach 22 Uhr, und seine Augen brannten und waren gerötet und müde. Er arbeitete nun schon seit einigen Wochen an diesem Experiment, und es wollte sich partout kein Fortschritt einstellen. Wahrscheinlich würde er die eingeschlagene Forschungsidee in ein paar Tagen als sinnlos und unfruchtbar aufgeben müssen.

    Plötzlich klopfte ihm jemand auf die Schulter. Pjotr zuckte vehement zusammen und hätte fast seinen erkalteten Kaffee über seine Aufzeichnungen geschüttet.

    »Mensch, Karl, musst du mich so erschrecken?!« fluchte er.

    Sein schwedischer Kollege Karl Lundqvist, ein breitschultriger, glattrasierter, blonder Hüne in seinen Dreißigern stand hinter ihm und lächelte verlegen und schuldbewusst.

    »Tut mir leid, Tschaikowski, aber ich hatte schon dreimal gefragt, ob du jetzt auch Schluss machst und auf einen Schlummertrunk mitkommst. Aber du warst so vertieft….«

    Seine direkten Arbeitskollegen nannten Pjotr immer wie seinen berühmten musikalischen Namensvetter »Tschaikowski«, obwohl der nicht aus der Ukraine, sondern aus Russland stammte. Der Spitzname hatte dennoch ganz schnell die Runde auf der Plattform gemacht, und Juris Vater fand ihn auch gar nicht so schlecht, da er eine Schwäche für klassische Musik hatte.

    »Oh, äh, nein. Danke, Karl. Ich will das hier nur noch schnell zu Ende machen und dann eine E-Mail an meinen Jungen schicken.«

    »Ok, Tschaikowski. Der letzte macht das Licht aus.« Karl gähnte und streckte sich theatralisch, nahm seine kleine Aktentasche unter den Arm und ging aus dem Labor in den Vorraum. Er zog dort seinen Kittel aus und hängte ihn an einen Haken, bevor er sich durch ein Schott hinaus durch einen der Speichenarme zum Fahrstuhl begab. Das Schott fiel mit einem metallischen Donnern zu. Dann herrschte Ruhe.

    Pjotr wandte sich wieder seinem Mikroskop zu und seufzte. Wie lange hatte er Juri nun eigentlich nicht mehr gesehen? Waren es vier Wochen? Oder doch schon wieder sechs Wochen? Die Wissenschaft war eine harte Geliebte. Aber morgen würde er sich losreißen und einen kurzen Landurlaub machen und seine Familie wiedersehen! Sollte er das schon in seiner E-Mail an Juri erwähnen, oder sollte es eine Überraschung werden? Eine Überraschung wäre schön, aber es könnte ja immerhin sein, dass Juri irgendwelche Pläne machte und gar nicht bei der Ankunft seines Vater zu Hause wäre. Also gut. Keine Überraschung. »Jetzt aber noch ein bisschen Konzentration, Tschaikowski«, trieb er sich selbst an und summte dabei die ersten Takte der ersten Sinfonie seines berühmten Namensvetters mit dem Titel »Winterträume«.

    ----- ∀∃∮∞∡∛⊗ -----

    Zwei Ringe unter ihm in einem anderen Ausläufer des Laborsystems prangte an einem Schott ein Schild »Bosonenfalle - Achtung! Hochspannung! Starke Magnetfelder! Radioaktivität!« Das Schott war mit einem Tastenfeld zur Eingabe eines Zugangscodes gesichert. Dahinter befand sich eine Sicherheitsschleuse, die zu einem dunklen Raum führte, der fast vollständig mit einem großen kugelförmigen stählernen Tank auf sechs Beinen ausgefüllt war. Mehrere Sichtfenster mit dickem Spezialglas erlaubten einen Blick auf die mit superschweren Isotopen gesättigte Indikatorflüssigkeit im Inneren. Durch die Sichtfenster fiel ein blauer Schein aus dem Inneren des Tanks und erzeugte in dem Raum außen eine kühle surreale Atmosphäre. Von der Spitze des Tanks, der den Kern der Bosonenfalle zum Nachweis zahlreicher Elementarteilchen darstellte, führten mehrere mit Kondenswasser beschlagene Rohre zur Decke.

    An der linken Wand gelangte man über eine Stahltür in den benachbarten Mess- und Kontrollraum. Der kleine Raum war mit Computern, Spektrometern und anderen wissenschaftlichen Geräten bis zum Bersten gefüllt. Die Dunkelheit im Raum wurde nur von den blinkenden Lichtern der Computerkonsolen und dem bläulichen Licht der Bosonenfalle durchdrungen, das durch ein Beobachtungsfenster hereinfiel. Der verlassene Schreibtisch war sauber aufgeräumt, der bequeme Drehstuhl auf fünf Rollen ordentlich an den Schreibtisch herangeschoben. Außer dem Surren der Geräte und dem rhythmischen Ticken einer digitalen Wanduhr herrschte absolute Stille. Die Wanduhr zeigte 22:03:14.

    Zuerst kaum wahrnehmbar veränderte sich etwas. Die Dunkelheit im Messraum schien langsam schwerer zu werden und sich wie ein Tuch herabzusenken. Es herrschte eine Anspannung wie vor einem Unwetter, eine Erwartung, die Hunde winseln und Katzen mit einem Fauchen das Weite suchen lassen würde. An den Grenzen

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