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Die Gräfin von New York
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eBook608 Seiten8 Stunden

Die Gräfin von New York

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Über dieses E-Book

Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Die hoch angesehene New Yorker Familie Freyman - um ihren Patriarchen, den Stararchitekten Joseph Freyman - und seiner Gattin Eleonora, geborene Alvariz de Córdoba, gerät tief in den Strudel morbider Liaisonen.

John Freyman, erster Sohn der Familie, entgeht einer Strafe für eine im Affekt begangene Tat nur durch die Flucht aus der Stadt. Ein verschlafenes Nest in West-Virginia wird sein langfristiges, aber todbringendes Refugium.

Johns viel jüngeren Bruder Dorian verfolgen die Eskapaden des Clans auch noch, als er sich um das Amt des US-Präsidenten bewirbt. Nicht einmal er selber kann schlüssig erklären, wer er in Wahrheit ist.

Gregory Delano, enger Freund des Hauses Freyman, verstrickt sich der Familie gegenüber in tiefe Schuld. Er wird sie auf eine ebenso angenehme wie demütigende Weise begleichen.

Eleonora Freyman, genannt "Die Gräfin", klärt während einer familiären Zusammenkunft, wer Dorian Freyman wirklich ist.
Sie zeigt sich mit ihrem Bekenntnis als eine Frau, die bereit ist, auch letzte konventionelle Grenzen zu übertreten - ohne die geringste Neigung, dabei ihre Selbstachtung aufzugeben.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum11. Nov. 2017
ISBN9783745045086
Die Gräfin von New York

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    Buchvorschau

    Die Gräfin von New York - Günther Dilger

    Die Gräfin von New York

    Titel Seite

    Capitol Hill, Washington D.C. - USA, 18. Juni 1976

    Rätselhafter Mord in Hendersonville

    Gerade nochmal gut gegangen

    Rose will es wissen

    John und der „Rote Halbaffe" - New York 1910

    Ricardas Enttäuschung - New York, 1913

    Die Nymphenkönigin

    Die heiratswillige Miss Cunningham

    Eleonoras Geheimnis - New York, 1917

    Die Nacht des jungen Gregory

    Der besondere Muttertag - 8. Mai 1921

    „La Dolce Rita"

    Johns Flucht

    Das Kentucky-Derby

    Träumen bei Tiffany’s

    Der doppelte Sonnenaufgang

    Sein letzter Weg

    Die Suche nach der Wahrheit

    Der letzte Zug nach New York

    Das Blatt wendet sich

    Das Geständnis

    Addendum

    Zum Autor

    Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.

    Die hoch angesehene New Yorker Familie Freyman - um ihren Patriarchen, den Stararchitekten Joseph Freyman - und seiner Gattin Eleonora, geborene Alvariz de Córdoba, gerät tief in den Strudel morbider Liaisonen.

    John Freyman, erster Sohn der Familie, entgeht einer Strafe für eine im Affekt begangene Tat nur durch die Flucht aus der Stadt.

    Ein verschlafenes Nest in West-Virginia wird sein langfristiges, aber todbringendes Refugium.

    Johns viel jüngeren Bruder Dorian verfolgen die Eskapaden des Clans auch noch, als er sich um das Amt des US-Präsidenten bewirbt. Nicht einmal er selber kann schlüssig erklären, wer er in Wahrheit ist.

    Gregory Delano, enger Freund des Hauses Freyman, verstrickt sich der Familie gegenüber in tiefe Schuld. Er wird sie auf eine ebenso angenehme wie demütigende Weise begleichen.

    Eleonora Freyman, genannt Die Gräfin, klärt während einer familiären Zusammenkunft, wer Dorian Freyman wirklich ist.

    Sie zeigt sich mit ihrem Bekenntnis als eine Frau, die bereit ist, auch letzte konventionelle Grenzen zu übertreten - ohne die geringste Neigung, dabei ihre Selbstachtung aufzugeben.

    Impressum:

    gd.01@aol.de

    Günther Dilger

    90455 Nürnberg

    Umschlaggestaltung: Günther Dilger, Nürnberg

    Die Gräfin von New York

    Roman

    Günther Dilger

    Capitol Hill, Washington D.C. - USA, 18. Juni 1976

    Es war genau dreizehn Uhr zweiundvierzig, als der Senator von Massachusetts, Dr. Dorian J. Freyman, einen epileptischen Anfall erlitt.

    Sein Pech war, dass er in eben diesem Moment die erste Stufe der Westtreppe des Capitols hinab betreten wollte. Er rutschte an der Kante aus, stürzte, und rollte die Stufen hinunter - bis fast ans Ende der Treppe. Beinahe wäre er schon auf einem der ersten Absätze zum Liegen gekommen, aber durch seine heftigen und unkontrollierten Bewegungen stieß er sich selber immer weiter in die Tiefe.

    „Herr Senator… Jerry, um Himmels willen!"

    Verzweifelt rief seine junge Sekretärin ihm diese Worte hinterher. Hören konnte er sie aber nicht mehr. Die völlig entgeisterte Frau stand wie versteinert am oberen Rand der Treppe und musste hilflos mitansehen, wie ihr Arbeitgeber, der noch etwas mehr war als ihr Arbeitgeber, über sämtliche Stufen hinunterkullerte.

    Von weitem sah es fast so aus, als würde er aus reinem Übermut fröhlich Purzelbäume schlagen. Aber es waren keine - jedenfalls keine freiwilligen. Und fröhlich? Das war es gleich zweimal nicht.

    Zu dieser Zeit, um Mittag herum, war nur eine sehr geringe Anzahl von Menschen auf dem breiten Aufgang zum Capitol hinauf unterwegs. Keine dieser Personen befand sich jedoch annähernd in einer Position mit auch nur geringster Aussicht darauf, den Stürzenden aufhalten zu können.

    In einer anderen, für den erfolgreichen Politiker etwas günstigeren Situation, hätte man vielleicht auch gesagt, er hatte ‚freie Bahn‘.

    Die wenigen Passanten rund um das Geschehen nahmen den Sturz ohnehin eher teilnahmslos zur Kenntnis. Sie waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt.

    Seine junge Mitarbeiterin aber war außer sich.

    „Hilfe! Hilfe! Kann ihm denn niemand helfen? Lieber Gott, dann hilf ihm du!"

    Der auf diese Weise angeflehte, und der einzige, welcher ihm jetzt noch hätte helfen können, der machte bedauerlicherweise keinerlei Anstalten dazu.

    Auf der allerletzten Stufe blieb der studierte Jurist endgültig liegen. Auf dem Rücken.

    Der helle Sommeranzug, den er trug, war reichlich ramponiert, an einigen Stellen aufgerissen.

    Den rechten Schuh hatte der Unglückliche verloren; der musste irgendwo auf der Treppe liegen. Zu sehen war er auf einen ersten Blick aber nirgends.

    Beide Hosenbeine waren aufgerissen und hochgeschoben. Der Sockenhalter an dem Bein, an dem der Schuh fehlte, war von der Wade bis zum Knöchel hinabgerutscht.

    Ein schön in schwarzem Leder gebundenes Notizbuch, es gehörte offenbar dem Gestürzten, lag etwa zehn Stufen weiter oben. Auch auf dem Rücken.

    Die Deckel des Buches waren aufgeklappt. Eine leichte Sommerbrise spielte mit den dünnen, dicht beschriebenen Seiten, als ob jemand gedankenverloren darin blättern würde. Tat aber niemand.

    Der linke Augapfel des Senators hing seitlich an seiner Schläfe herab, gerade noch so festgehalten durch einige intakte Zentralgefäße und den Sehnerv.

    Das rechte Auge war noch irgendwie als Einheit erkennbar - mit etwas Fantasie.

    An seinem entstellten Gesicht konnte man nicht mehr erkennen, wer der Verunglückte war.

    Zum Glück war er in Begleitung seiner Sekretärin gewesen, die ihn noch am Unglücksort für die inzwischen herbeigeeilten Sicherheitsbeamten identifizieren konnte.

    Die exakte Zeitangabe für den Sturz war ihr deswegen möglich, weil sie beide auf dem Weg zu einem offiziellen Empfang schon reichlich knapp dran waren, und der Senator sie noch unmittelbar vor seinem fatalen Fehltritt nach der Uhrzeit gefragt hatte.

    Ihren Blick hatte sie noch immer auf das Ziffernblatt geheftet, als sie das erstmalige Aufschlagen seines Schädels auf einer der steinharten Stufen hörte.

    Die zweiundzwanzigjährige Liz Hutton, die noch immer unter Schock zu stehen schien, war seit fünf Jahren nicht nur Sekretärin, sondern enge Vertraute des Senators gewesen. Der hatte ein Faible für brünette Mitarbeiterinnen weit unter dreißig. Das war allgemein bekannt.

    Aber er hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen, was diese Arbeitsverhältnisse mit jungen Damen betraf.

    Böse Zungen dagegen behaupteten, er habe sich nur nicht dabei erwischen lassen. Manche seiner politischen Gegner versuchten immer wieder, ihm mit dieser Neigung zur weiblichen Jugend am Zeug zu flicken. Ohne Erfolg.

    Anschuldigungen dieser Art waren und blieben aber ohnehin nur immer Nebenkriegsschauplätze im harten Kampf um die Wähler. Denn es gab ja auch noch das, was im Gerichtswesen bei bestimmten Verfahren als ‚Hauptsache‘ bezeichnet wird: das nach wie vor ungelüftete Geheimnis um die Herkunft des Senators.

    Es war das alles überschattende Rätsel, das ihn seine ganze Karriere hindurch begleitete. Seine hartnäckigsten Widersacher im Politgeschäft schlachteten diese schwelende Ungewissheit um seine Herkunft bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus. Noch verstärkt seit seiner Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei.

    Allzu gerne hätte er sich dieses Problems ein für alle Mal entledigt. Mit einem eindeutigen Statement, das Freund und Feind endlich überzeugen und zufrieden stellen könnte. Aber wie sollte er? Er war sich ja nicht einmal selber sicher, wer er in Wahrheit war.

    Während sie mit den inzwischen eingetroffenen Beamten des Police Departments sprach, kramte Miss Hutton fortwährend in ihrer Handtasche herum, ohne zu wissen, was sie dort drin überhaupt suchte.

    „Es war so schrecklich. Wir kamen gerade aus einer informellen Sitzung zur Vorbereitung der Feierlichkeiten zum zweihundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit. Und jetzt, jetzt kann er das Bicentennial nicht einmal selber miterleben. Der arme Jerry – ich meine, der arme Senator. Ja, wo ist es denn? Ich kann es einfach nicht finden."

    Sie nahm nur kurz ihre Hand aus der Tasche und schaute erwartungsvoll auf die Beamten, ob die ihr vielleicht die Frage beantworten könnten, wo sich dieses Etwas in ihrer Handtasche befindet, nach dem sie so unablässig suchte. Gleich darauf steckte sie ihre Finger wieder in die elegante Ledertasche und suchte weiter darin herum. Nach was, das wusste sie nach wie vor nicht.

    „Es ist so schrecklich. Ja, es ist ganz sicher der Senator, der Senator Dorian Freyman. Habe ich doch schon gesagt. Ich kann es beschwören, bei Gott. Ich habe den Sturz doch selber mit ansehen müssen. Schauen Sie nur auf seine linke Hand, der kleine Finger ist etwas verkrümmt; das stammt von einer früheren Verletzung her. Es steht in seiner Krankenakte. Der eindeutige Beweis dafür, dass er es ist - für Sie, nicht für mich. Ich selbst brauche keinen zusätzlichen Beweis, ich war doch bis zur letzten Sekunde bei ihm. Mein Gott, der arme Mensch. Und was wird jetzt aus mir? Mein Vertrag läuft doch noch ein ganzes Jahr. Bleibt der denn gültig, jetzt, wo der Senator tot ist?"

    Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.

    Der Sergeant, dem gegenüber sie ihre Aussagen machte, der hatte Mühe, mit seinen Notizen hinterherzukommen.

    Bald hatte sich eine größere Menschenmenge um den am Boden liegenden Politiker und die mittlerweile ringsum abgestellten Polizeifahrzeuge versammelt. Beamte waren dabei, die Unglücksstelle weiträumig abzusperren.

    Ein Officer beugte sich in einen der Einsatzwagen und zog die Sprecheinheit des Funkgerätes aus der Halterung. Er hielt sich die Sprechmuschel direkt an den Mund, um die Geräusche um ihn herum abzuschirmen. Seine Augen wanderten aufmerksam in die Runde, während er seine Meldung in das Mikrophon sprach.

    „Zentrale, hallo Zentrale, kommen, hört ihr mich? Hier Wagen 37 am Capitol Hill, der angeforderte Krankenwagen kann wieder zurück zum Hospital. Wir brauchen hier einen Leichenwagen. Ende."

    „Roger", kam es von der anderen Seite lapidar zurück.

    Nach einem paarmaligen Knacken in der Leitung des Empfangsgerätes krächzte es aus dem Lautsprecher: „Wer ist es denn, Jack?"

    „Noch nicht eindeutig identifiziert, wird auch gar nicht so leicht sein bei dem erbärmlichen Zustand - aber laut Zeugenaussage, sie sagt, sie sei seine Sekretärin, scheint es der Senator Freyman von den Demokraten zu sein."

    „Was? Der? Okay, ich sag dann mal denen in der Gerichtsmedizin, dass Kundschaft vorbeikommt."

    Schnell verbreitete sich die Nachricht unter den immer zahlreicher werdenden Umstehenden am Fuß der Treppe, dass es sich bei dem Unfallopfer mit aller Wahrscheinlichkeit um den geheimnisumwitterten Dorian Freyman handeln müsse. Um den ‚Sohn der Gräfin‘, wie ihn einige respektvoll, die anderen dagegen eher abschätzig nannten.

    Während diese Meldung die Runde machte, ging ein vernehmliches Raunen durch die Menge, aus dem man, von größtem Bedauern bis zu klammheimlicher Schadenfreude, das ganze Register verschiedenster Gefühlsregungen heraushören konnte.

    Oben, über den Kopf der Treppe hinweg, ergoss sich plötzlich ein Pulk von Journalisten, die allesamt im Capitol akkreditiert waren. Mitten in ihre Mittagspause hinein hatten sie von dem Vorfall draußen Wind bekommen und kurzerhand alles liegen und stehen lassen. Ungestüm hetzten sie im schnellen Laufschritt die Stufen herunter.

    Manche nahmen zwei oder drei Treppen auf einmal. Manche noch mehr. Einige stolperten.

    Mit wehenden Sakkos und Krawatten stürmten sie nach unten, als ob es etwas zu gewinnen gäbe. Jeder von ihnen wollte als Erster einen Interviewpartner ergattern, als erster seine Redaktion anrufen.

    Nicht wenige hatten noch ihr angebrochenes Lunchpaket in der Hand, andere stopften sich hastig den Rest eines Hot Dogs in den Mund.

    „Leute, geht doch endlich auseinander! Hört ihr? Macht Platz. Wir wollen hier in Ruhe arbeiten. Geht nach Hause. Lasst dem Mann jetzt seinen Frieden!"

    Die Stimme des Sergeants klang sehr ruhig, gemessen an dem sorgenvollen Blick, den er auf die anstürmende Meute der Reporter richtete. Die könnten ihn und seine Kollegen gleich noch weit mehr bedrängen, als es die neugierigen Gaffer bisher getan hatten.

    Der Mann, der in Frieden gelassen werden sollte, das war noch wenige Momente davor der immer sympathisch wirkende und allseits beliebte Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei, Dorian Freyman.

    Er war zuletzt in allen Umfragen - trotz aller Gerüchte, die sich um ihn rankten - klarer Favorit gegen den derzeit amtierenden Präsidenten Gerald Ford, obgleich Freyman vom politischen Gegner mit allen möglichen Mitteln aufs schärfste bekämpft wurde. Mit sauberen Mitteln bekämpft und mit unsauberen. Vor allem mit unsauberen.

    Dr. Dorian Jeremias Freyman, von seinen engeren Freunden auch Jerry genannt, entstammte einer hoch angesehenen New Yorker Familie.

    Seit Jahrzehnten schon hatte sie der Stadt umfangreiche finanzielle Unterstützung für Museen, Denkmäler und soziale Einrichtungen zukommen lassen. Dorian Freymans Vater war der für seine hervorragende künstlerische Arbeit in aller Welt bekannte Architekt und Immobilienmogul Joseph Freyman gewesen.

    Der war leider schon ein Jahr nach der Geburt seines Sohnes Dorian gestorben.

    Oder aber schon etwa vier Jahre vor dessen Geburt.

    Und genau das war es, was die Medien und die gesamte Öffentlichkeit ständig beschäftigte.

    Seine nach wie vor im Dunkeln liegende Herkunft, seine ungeklärte Identität.

    Zeitlebens haftete dem Senator dieser Makel an und brachte ihn immer wieder in Bedrängnis. Weil er auch selber nie eine schlüssige Erklärung vorbringen konnte, was es mit diesem im Dunkel liegenden Umstand auf sich hatte.

    Seine Mutter, Eleonora Freyman, war vor knapp zehn Jahren verstorben. Sie hatte zu ihren Lebzeiten den recht üppigen, der Stadt zugedachten Zuwendungen der Familie Freyman in der Öffentlichkeit jeweils publikumswirksam ihr schönes Gesicht gegeben.

    Die Unklarheiten in den Geburtsdaten des Sohnes konnte sie allein mit ihrem attraktiven Aussehen aber auch nicht beiseite räumen. Auf Nachfragen erklärte sie die Unsicherheit darüber lapidar mit Nachlässigkeiten der seinerzeit zuständigen Kirchenschreiber.

    Man könnte auch sagen, sie hatte das Thema für sich mit solchen Erklärungen abgetan. Selbstherrlich, und ohne einen Widerspruch zu dulden.

    Schließlich war sie die Gräfin von New York.

    Jedenfalls nannte sie sich so. Und viele in der New Yorker Gesellschaft taten das ebenfalls.

    Sie jedenfalls glaubte, dank ihrer Autorität die Leute mit dieser expliziten Schuldzuweisung überzeugen zu können.

    Die breite Öffentlichkeit konnte sie jedoch mit dieser dürftigen und immer spröde vorgetragenen Erklärung zur Identität ihres Sohnes nicht zufriedenstellen.

    Die Geschwister von Dorian Freyman waren in der Gesellschaft weit weniger präsent, als seine Eltern und er selber es waren. Sieht man einmal von dem guten Namen ab, den sich sein älterer Bruder, der 1933 verstorbene John Freyman in der Welt der Pferdezucht erworben hatte.

    Politisch aber waren die beiden Schwestern und der Bruder des Senators bisher nie besonders in Erscheinung getreten.

    Auch sie hatten nichts zur Aufklärung der Ungereimtheiten über die Umstände der Geburt ihres viel jüngeren Bruders beitragen können, oder wollen.

    Natürlich wussten die Geschwister, dass Dorian aus dem Waisenhaus zu ihnen ins Haus gekommen war. Aber sie respektierten zu jenem Zeitpunkt den Wunsch ihrer Mutter, den Jungen als echtes Familienmitglied anzuerkennen und ihn als Sohn von Joseph Freyman auszugeben.

    Sie wurden gewahr, wie sehr sie ihn vergötterte und stimmten schließlich einhellig der für sie unbedeutenden Korrektur seines Lebenslaufes zu.

    Es schadete ja auch niemandem.

    Daher schlossen sie sich auch bei sporadischen Anfragen der Presse zu dem ungeliebten Thema solidarisch der Erklärung der Gräfin an: vermutlich Schludrigkeiten bei den pastoralen Schreibkräften.

    Der Hauptangriffspunkt seiner politischen Kontrahenten war und blieb darum auch immer das Geheimnis um Dorian Freymans tatsächliches Alter und die damit zwangsläufig verbundene Unklarheit über seine wahre Abstammung. Denn an ein medizinisches Wunder glaubte niemand.

    Tote können keine Kinder zeugen. Eine Geburt ohne physische Zeugung? So etwas glaubten selbst die Katholiken im Lande nicht, obwohl ihre Religion maßgebend auf solch Abwegigkeit aufbaut.

    Und wenn er wirklich erst vier Jahre nach dem Tode seines Vaters auf die Welt gekommen war? Dann war dieser Vater eben nicht sein Vater. Punkt.

    So einfach war das. Aber wenn es so war, wer war er dann? Wer war dieser Dorian Freyman?

    Das war die alles entscheidende Frage. Alles andere, außer dieser nebulösen Angelegenheit, geriet in seinem politischen Leben mehr oder weniger zur Nebensache.

    Zum Beispiel die Tatsache, dass Dorian Freyman privat an seinem Hauptwohnsitz in Boston relativ selten anzutreffen war. Außerdienstlich hielt er sich die meiste Zeit in New York in seinem Elternhaus auf.

    Dort hatte er auch sein großzügiges Büro und dort gab er auch häufig Interviews.

    Man warf ihm daher vor, er habe aus diesem Grund gar keine Berechtigung, als Senator von Massachusetts zu fungieren. Damit sei auch seine Kandidatur zum Präsidenten null und nichtig.

    Oder seine angeblich so guten Kontakte in den Kreml, die einen Landesverrat nahelegten, wie es von einigen der Hardliner bei den Republikanern kolportiert wurde. Diese Vorhaltungen wurden schnell entkräftigt.

    Die von seinen Gegnern so genannten ‚guten Kontakte zu den Kommunisten‘ waren schon bald als die üblichen politischen Konsultationen zwischen den beiden verfeindeten Staaten entlarvt. Auch Mitglieder der Republikaner hatten an diesen Treffen teilgenommen.

    Gedacht waren sie einzig dazu, den Kalten Krieg nicht zu einem heißen werden zu lassen.

    Seine Kontrahenten ließen jedoch nie locker und fanden schnell einen weiteren Angriffspunkt.

    Nämlich Freymans Meinung zum Vietnamkrieg, die der landläufigen widersprach. Sie wurde von der Gegenseite als völlig unpatriotisch, ja gar als feige bezeichnet.

    Ein Aufruf zum Aufgeben sei sie, Anstiftung zur Kapitulation. So bellten sie es in die Mikrophone der Radios und Übertragungsanlagen. Die Böswilligsten scheuten sich nicht, von Hochverrat zu sprechen und ihn selbst als gemeinen Landesverräter zu beschimpfen.

    Freyman plädierte tatsächlich dafür, den schon so lange andauernden und erfolglos geführten Krieg in Südostasien so schnell wie möglich zu beenden.

    Allerdings kippte die Stimmung zu diesem Gemetzel in der Bevölkerung gerade ebenfalls. Von der anfänglichen Begeisterung und Unterstützung für diesen Krieg tendierte die Stimmung im Volk immer mehr zu Verdrossenheit und Unverständnis für dessen Fortsetzung. Und Freymans Meinung wurde auf diese Weise immer mehr zur allgemeinen Meinung im Land.

    So verkehrten sich die gegen seine Apelle gerichteten Angriffe der Konkurrenten in ihr Gegenteil.

    So schnell aber manche der Vorwürfe gegen ihn aus dem Weg geräumt werden konnten, oder sich durch einen gravierenden politischen Stimmungsumbruch wie von selbst verflüchtigten - einer blieb immer aktuell, weil immer noch nicht ansatzweise geklärt:

    Die eklatante Unstimmigkeit zwischen der Eintragung im Kirchenbuch der ‚Basilica of St. Patrick’s Old Cathedral‘ und den Aufzeichnungen des ‚Home of the Lord for Children‘ einerseits, sowie andererseits die offiziell beeideten Angaben in der amtlichen Geburtsurkunde, ausgefertigt von der New Yorker Kommune.

    Diese Ungereimtheit gab ständig neue Nahrung für die wildesten Gerüchte.

    Darauf ließen sich mühelos unterschiedlichste Verschwörungstheorien aufbauen, die darin gipfelten, dass eine ganze Reihe von Abgeordneten der Republikaner behauptete, Dorian Freyman sei gar kein Amerikaner.

    Inzwischen gab es auch nur noch wenige Länder, deren Nationalität ihm von gehässigen Gegenspielern nicht angedichtet worden war.

    Der Kirchensprengel im Bezirk sah sich veranlasst, eigens zu diesem Thema eine Pressekonferenz anzuberaumen.

    Auf dieser erklärte der zum Zeitpunkt der Geburt Dorian Freymans zuständige Priester in der Basilica of St. Patrick’s Old Cathedral den anwesenden Journalisten wörtlich:

    „Ich kann bestätigen, dass Dorian Jeremias Freyman der leibliche Sohn des Mr. Joseph Freyman und dessen Gattin, der Mrs. Eleonora Freyman ist. Das steht fest. Wie es zu den unstimmigen Einträgen in unserem Kirchenbuch kam, kann ich mir beim besten Willen nicht erklären. Die Angaben darin sind unrichtig. Es müssten die nämlichen Daten enthalten sein, wie in dem behördlichen Dokument, also der Geburtsurkunde des Dr. Freyman."

    Das wurde von einigen der anwesenden Journalisten hingenommen - von anderen wiederum nicht.

    „Haben Sie diese Angaben damals eigentlich selber in das Register eingetragen? Wenn nicht, wissen Sie dann, wer dafür verantwortlich war? Und wenn Sie das wissen, haben Sie Zugriff auf diese Person?", fragte ihn recht forsch ein jüngerer Korrespondent der New York Times, der sich offenbar seine ersten Sporen verdienen wollte.

    „Nein, zu dieser Zeit hatten wir für diese Aufgaben einen Vikar aus Oregon, der inzwischen leider verstorben ist. Er wäre der einzige, der dieses Rätsel heute zu unser aller Zufriedenheit lösen könnte. Aber Gott hat es gefallen, ihn frühzeitig zu sich zu nehmen."

    „Sie wissen also genau so viel, besser gesagt, genau so wenig, wie auch wir. Und worauf stützen Sie dann ihre Behauptung, Dorian Freyman wäre der leibliche Sohn der beiden Freymans? ", hakte derselbe Fragesteller nach.

    „Es gab und gibt keinerlei Grund für einen noch so kleinen Zweifel, da zur Zeit der Geburt der Vater des Kindes noch am Leben war und die Eheleute Freyman einen absolut untadeligen Lebenswandel führten. So wie das auch der Rest der Familie tat. Und so wie es die heute noch lebenden Angehörigen auch noch tun."

    Das war reichlich dünn.

    Aber die ausschlaggebende Behauptung für die öffentlichen Mutmaßungen zum Sachverhalt war ja, dass Dorians Vater bei der Geburt seines angeblichen Sohnes bereits seit vier Jahren tot gewesen sein sollte. Und wenn ein Priester nun das Gegenteil bestätigte. Ein Priester! Ein Mann mit höchster Reputation.

    Um den Aussagen des Geistlichen noch zusätzlich an Gewicht zu verleihen, flankierten ihn am Pressetisch zwei ältere Bischöfe. Die zwei nickten jeweils nur ernst mit ihren Köpfen bei den Aussagen ihres Untergebenen; was so viel heißen sollte, dass dem Gesagten nicht zu widersprechen sei.

    Den verdrossenen Publizisten blieb nur, die vorgebrachten Bekundungen des blasierten Priesters zu schlucken. Wie könnten sie auch ernsthafte Zweifel an dem Wort eines Gottesmannes anmelden!

    *****

    Die Demokratische Partei glaubte, den tragischen Tod ihres zwar umstrittenen, aber populären Mitglieds umgehend ausschlachten zu müssen.

    Keine gute Idee.

    Eine politische Partei muss zu derartigem Treiben immerhin keine ethischen Grundsätze über Bord werfen. Diese Art von Ballast ist in solchen Organisationen völlig unbekannt.

    Dem Exkandidaten nützte es zwar nicht mehr, dem Ersatzkandidaten aber sollte es gleich für den Einstieg Stimmen bringen. Ein Vorgehen nach dem Motto: der Kandidat ist tot, es lebe der Kandidat.

    Schon bald nach dem tragischen Unglück am Capitol traten Vertreter der Demokraten also mit einer haarsträubenden Hypothese an die Öffentlichkeit:

    Die junge, unbedarfte Sekretärin ihres Kandidaten sei von seinen republikanischen Gegnern durch eine an sie adressierte größere Geldzuwendung dazu angestiftet worden, ihn hinterrücks die Treppe hinabzustoßen.

    Das stand jetzt so im Raum.

    Die bedauernswerte Dame wurde daraufhin stundenlang und tagelang von Beamten verhört.

    Ein Staatsanwalt, natürlich ein Mitglied der Demokraten, sicherte Liz Hutton völlige Straffreiheit und einen Job in der parteieigenen Administration zu, wenn sie im Gegenzug zu der Aussage bereit wäre, dass sie ein Republikaner, oder ein Unbekannter, das durfte sie sich aussuchen, zu dieser Tat angestiftet oder gar erpresst habe.

    Zuerst war es nur ein Vorschlag, den er ihr machte. Als sie sich nicht darauf einlassen wollte, wurde er rabiater und versuchte es unverhohlen mit Drohung. Die junge Frau wusste bald nicht mehr, wo ihr der Kopf stand.

    „Geben Sie doch endlich zu. Wir wissen über alles Bescheid. Mit Ausflüchten bringen Sie sich nur weiter in die Bredouille. Ausreden helfen Ihnen jetzt nicht mehr weiter. Nur noch bedingungslose Kooperation mit uns kann Ihre Lage verbessern! Wie ich schon einmal sagte, wir sind bereit, auf eine Anklage gegen Sie zu verzichten, wenn Sie endlich ein Geständnis ablegen."

    Bedingungslose Kooperation klang mehr als verdächtig nach bedingungsloser Kapitulation.

    Miss Hutton blieb jedoch weiter standhaft; wurde schließlich vom Staatsanwalt und dessen Vernehmungsbeamten weiter so lange mit Fragen und Anschuldigungen malträtiert, bis sie kollabierte und mit einem Nervenzusammenbruch in der Psychiatrie landete.

    Herausgekommen war bei den Vernehmungen noch weniger als gar nichts. Nicht einmal von der Spur eines Beweises für die krude These eines Attentats konnte die Rede sein.

    Der Presse war das völlig gleichgültig. Die Zeitungen berichteten genüsslich und täglich über die haltlosen Anschuldigungen, die gegenüber Freymans Sekretärin vorgebracht wurden und gaben ihren vom Verleger vorgegebenen Senf zum jeweils aktuellen Stand der Dinge.

    Aufgrund dieser penetranten Berichterstattung meldeten sich drei Zeugen, die unter Eid aussagten, sie hätten mit eigenen Augen gesehen, wie Liz Hutton kurz vor der Treppe stehengeblieben war, um auf die Uhr zu sehen.

    Dadurch sei sie mindestens zwei Armlängen hinter dem Senator geblieben, als dieser zu Sturz kam. Es war ihr also schon vom Abstand her überhaupt nicht möglich gewesen, irgendetwas zum Stolpern ihres Vorgesetzten beizutragen, nicht einmal aus Versehen.

    Mit geheucheltem Bedauern, wie im politischen Geschäft üblich, mussten die Lügenbeutel um den Staatsanwalt zugeben, dass sie sich wohl geirrt hätten.

    Einer der selbsternannten Ankläger, aus der zweiten Reihe, hatte genug Anstand, zurückzutreten.

    Nicht genug aber, um sich nicht noch am selben Tag in den vorzeitigen Ruhestand versetzen zu lassen. Er war begeisterter Fliegenfischer und sah die große Chance, bei guten Ruhestandsbezügen sich ganz auf sein entspannendes Hobby konzentrieren zu können.

    Die anderen Beteiligten an der Schmutzkampagne dachten nicht einmal im Traum an Rücktritt – ebenso wenig an irgendeine Form der Entschuldigung.

    Nur kurz konnte dieses an den Haaren herbeigezogene Thema die Schlagzeilen bestimmen. Zum Leidwesen vieler Mitglieder der Demokratischen Partei. Die falschen Anschuldigungen wurden von den Medien immerhin schnell unter den Teppich gekehrt.

    Fortan drängten sich erneut die nach wie vor offenen Widersprüche in den Geburtsdaten des Präsidentschaftskandidaten in den Vordergrund.

    Fest stand nachweislich, dass im Kirchenbuch als Geburtsdatum des Dorian Freyman der 13. Januar 1922 verzeichnet war. Die Namen der Eltern waren nicht aufgeführt.

    Seltsamerweise aber fehlte in den beiden entsprechenden Zeilen der Vermerk ‚nicht bekannt‘, so wie es bei allen anderen Fällen eingetragen war, in denen die Namen von Vater und Mutter ebenfalls fehlten.

    In der offiziellen Geburtsurkunde hingegen war als Geburtsdatum der 13. Januar 1917 angegeben; als Eltern waren dort Eleonora Freyman und Joseph Freyman eingetragen.

    Es konnte sich bei so offensichtlicher Abweichung kaum um einen Zahlendreher oder um einen Schreibfehler handeln. Auch nicht um eine um ein paar Tage verspätete Registrierung, bei der aus Versehen das Datum des Bearbeitungstages statt des tatsächlichen Tages der Geburt angegeben wurde. Ganze fünf Jahre Unterschied; das gab allen an der Sache Interessierten zu denken. Da musste einfach bewusst getäuscht worden sein. Hier, oder dort. Ein Versehen oder eine Nachlässigkeit konnte man bei Lage der Dinge wohl sicher ausschließen. Es roch zu sehr nach einer bewussten Manipulation.

    Mysteriös war auch ein anderer Vorgang, der erst einige Zeit später zur Überraschung aller zutage gefördert wurde.

    Für den entsprechenden Tag, also dem 13. Januar im Jahr 1922, war in den Unterlagen des ‚Home of the Lord for Children‘ für die späten Abendstunden ein Neuzugang vermerkt, ohne Nennung irgendwelcher Angehöriger, nur mit dem Zusatz versehen: ‚little Dorian J. F.‘

    Herausgefunden hatte dies das Journalistenduo Woodward und Bernstein von der Washington Post. Die zwei witterten nach dem Watergate-Skandal jetzt um Dorian Freyman ihren nächsten großen Fall.

    Wie Spürhunde nahmen sie die Fährte auf und hatten sich, nachdem sie damit schon bei Präsident Richard Nixon erfolgreich waren, nun in den aller Voraussicht nach zukünftigen Präsidenten, Dorian Freyman, verbissen.

    Tagelang waren sie in dem betreffenden Heim gewesen und hatten sich von der Heimleiterin alle verfügbaren Unterlagen um den betreffenden Zeitpunkt zeigen lassen. Sie hatten so lange darin herumgeschnüffelt, bis sie auf den besagten Vermerk gestoßen waren. Als sie nach dem Studium der verstaubten Akten wieder draußen in ihrem Wagen Platz genommen hatten, kurbelten sie zuallererst die Seitenfenster herab. Nach ein paar tiefen Atemzügen analysierten sie, welche Bedeutung der entdeckte handschriftliche Eintrag haben mochte. Welche Bedeutung für sie selber in Bezug auf eine Veröffentlichung und welche für die Aufklärung dieses Falles.

    Carl Bernstein war sich ziemlich sicher:

    „Bob, hier liegt der Schlüssel zur Klärung des Falles. Das ist der endgültige Beweis. Hier muss etwas gedreht worden sein, und das war in jedem Falle oberfaul."

    Woodward war nicht weniger überzeugt. Er öffnete das Handschuhfach, um sein Notizbuch hineinzuschieben, in das er alles aufgeschrieben hatte, was ihm wichtig schien. Dann lehnte er sich in die Rückenpolster zurück und drehte den Kopf zu seinem Kollegen hinüber.

    „Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Dorian Freyman heiß…, ja, ja, ich sehe es genauso. Da ist in aller Stille und unter Einhaltung größter Verschwiegenheit etwas unter der Hand gelaufen. Ich glaube zwar an Zufälle, aber nicht an eine endlose Aneinanderreihung von Zufällen. Es ist schon frappierend, wie eindeutig die Kürzel zum Namen passen. Das Datum stimmt auch perfekt überein."

    Carl Bernstein bedauerte, dass es nicht mehr möglich war, Information aus erster Hand zu bekommen.

    „Weißt du was, Bob? Jammerschade, dass wir die damalige Heimleiterin nicht mehr befragen können. Das hätte uns sicher einen großen Schritt weiter gebracht. Vielleicht sogar bis ins Ziel."

    „Lebte sie noch, könnte sie uns bestimmt zeigen, wo der Schlüssel zur Lösung liegt. Und wenn wir es mit einigen Tricks aus ihr rauskitzeln müssten. Aber nun gut, das geht leider nicht mehr. Tote geben keine Geheimnisse mehr preis. Carl, machen wir uns wieder an die Arbeit - nutzen wir die Möglichkeiten, die wir haben."

    Bernstein legte achselzuckend den Ganghebel ein und lenkte den Wagen aus der Parklücke.

    Im Fall des ‚Waisenhausmysteriums‘, wie sie selbst es in ihren viel gelesenen Kolumnen nannten, hatten sie in einer Sache zweifellos Recht. Und die Leser der Berichte fragten in ihren Zuschriften ebenfalls fast immer nur nach diesem einen rätselhaften Punkt.

    Warum eigentlich sollte der Sohn einer wohlhabenden Familie nach seiner Geburt zuerst einmal in ein Waisenhaus verbracht werden, wenn es um seine Herkunft nichts zu verbergen gab?

    Niemand konnte oder wollte zu dieser Sachlage eine ausreichende Erklärung geben.

    Das war das eine.

    Andererseits konnte es aber ebenso möglich sein, dass dieses Kürzel ‚Dorian J. F.‘ in keinerlei Zusammenhang mit jenem Dorian Jeremias Freyman stand, um den es hier ging.

    Der Name Dorian war zwar nicht allzu geläufig im Land, aber es gab zu dieser Zeit auch genug männliche Nachkommen, die von ihren Eltern mit diesem Namen bedacht wurden. Und sogar an Mädchen wurde der Name vergeben, wenngleich auch sehr selten.

    Und ‚J.‘ war der Anfangsbuchstabe von Vornamen, die im Lande auch nicht gerade selten waren. Auch das ‚F.‘ konnte für alle möglichen Familiennamen stehen: Franklin, Freeman, Finder, Foreman, Field, Ford, Ferrer, Floyd - und weiß Gott wie viele andere mehr.

    Freyman musste es nicht zwangsläufig bedeuten.

    Ihr gutes Gespür für Ungereimtheiten und ihren Drang zu ebenso sauberer wie hartnäckiger Recherche hatten die zwei Zeitungsleute bereits dadurch nachgewiesen, dass sie den vorherigen Präsidenten, den von jedermann Tricky Dicky genannten Richard Nixon, zu Fall gebracht hatten.

    Trotzdem knabberten sie an der Causa Freyman, die ja offiziell eigentlich noch gar keine war, nun schon seit über zehn Jahren. Gerüchte, Verdächtigungen, Spekulationen, viel mehr war bisher nicht bekannt.

    Theorien dazu hatten sie mittlerweile einige, aber keine einzige davon war so richtig belastbar. Und noch viel weniger, beziehungsweise gar nichts, konnte bisher von ihnen eindeutig nachgewiesen werden.

    Schon in den Anfangsjahren der politischen Karriere des Dorian Freyman war die Unstimmigkeit über seine Geburt zum ersten Mal publik geworden. Damals konnte sie vor regionalen Wahlen noch immer so leidlich unter den Teppich gekehrt werden, da er als nicht sehr bedeutender Lokalpolitiker entsprechend weniger im direkten Rampenlicht stand. Und nach den jeweiligen Abstimmungen verlor sich jeder Verdacht ohnehin schon sehr bald wieder im politischen Alltagsgeschäft.

    Jetzt aber, da Freyman allerbeste Chancen dazu hatte, der neununddreißigste Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, da war die Sachlage eine ganz andere.

    Vor zehn Jahren noch hatte Dorian Freymans Mutter gelebt. Ihr zweiter Sohn erfüllte schon als Heranwachsender all ihre Wünsche, die ihr älterer Sohn John nicht einzulösen bereit war. Sie hatte es von diesem allerdings auch nie explizit verlangt. Wohlgemeinte Ratschläge hat sie ihm gegeben, die ihn auf die von ihr gewünschte Spur bringen sollte.

    Sie alle hatten nichts genutzt.

    Er ging seinen eigenen Weg. Sie nahm daher die Schuld daran auch ganz alleine auf sich. John war eben zum Sunnyboy geboren, man konnte nie böse mit ihm sein. Am allerwenigsten konnte sie es selbst.

    Aber John war John, und Dorian war eben einfach anders. Sie musste dem Jüngeren nicht einmal vorschlagen, was er tun sollte. Er tat es schon aus purem Eigeninteresse. Dass es seiner Mutter gefiel, war für ihn eine schöne Zugabe.

    Da standen unter anderem zu Buche das Jurastudium im elitären Harvard - statt Ökonomie an der weniger renommierten Columbia University;

    eine zurückhaltende Lebensführung, die ihrer gehobenen Stellung in der Gesellschaft bestens angepasst war - statt sich wiederholender erotischer Eskapaden;

    zukunftsorientierte Karriereplanung - statt die Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen.

    Das alles gefiel ihr.

    Und dann, last not least, der politische Höhenflug.

    Die Freymans waren mit den Kennedys sehr gut befreundet. Nie ließ sich Dorians Mutter auf deren Partys anmerken, wie sie die glamouröse Familie darum beneidete, dass sie bereits einen Präsidenten im Stammbaum führte.

    Dass aber Dorian eines Tages auch einmal Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sein wird, das war für Mrs. Freyman so sicher wie das Amen in der Kirche. Zur Feier seiner Promotion ließ sie ein rauschendes Fest arrangieren, als wäre er es gerade geworden.

    Und es gab auch später noch Anlässe genug, ihren Sohn ausgiebig feiern zu lassen. Zum Beispiel als er hochdekoriert aus dem Krieg in Korea nach Hause kam.

    Er war bekannt als einer der besten Piloten der Air Force. Mehrfach hatte er durch seinen heldenhaften Einsatz Kameraden aus Lebensgefahr gerettet.

    Vor seiner endgültigen Rückkehr in die Vereinigten Staaten wurde der First Lieutenant Dorian Freyman noch für ein halbes Jahr nach Deutschland, in die oberbayerische Stadt Erding, abkommandiert.

    Es war im Sommer 1946, da hielt der Bürgermeister dieser Stadt die Laudatio, als die dort gerade in Gründung befindliche Wasserwacht Dorian Freyman zu ihrem Ehrenmitglied ernannte und er von der Stadt noch zusätzlich eine schmucke Ehrenmedaille überreicht bekam.

    Zugesprochen wurde ihm beides, weil er, ohne Rücksicht auf die eigene große Gefahr, eine Gruppe von vier zwölf- bis dreizehnjährigen Schülern im Stadtpark aus dem Fluss gerettet hatte, ehe sie von dem heimtückischen Strudel vor einem Wehr in die Tiefe gezogen werden konnten.

    Besucher des Parks hatten ihm in buchstäblich letzter Minute ein Seil zugeworfen, kurz bevor der Sog ihn zusammen mit dem einzig noch nicht geretteten Schüler beinahe noch selber bis zum Grund hinabgezogen hätte.

    „Mister Freyman, es ist eine große Ehre für mich, Ihnen diese Medaille zu überreichen. Möge sie Ihnen als Erinnerung dienen für unseren Dank, so wie wir uns auch immer an Sie erinnern werden wegen Ihres tapferen und selbstlosen Handelns. Und wir bedanken uns darüber hinaus auch dafür, dass Sie die Ehrenmitgliedschaft unserer zukünftigen Wasserwacht angenommen haben.

    Ihre Mitgliedschaft wird deren Aufbau vorantreiben, weil der Stolz auf ein solches Beispiel an Mut und Entschlossenheit viele unserer jungen Burschen dazu ermutigen wird, in Ihre Fußstapfen zu treten."

    Der Bürgermeister schüttelte dem Lebensretter unter dem Applaus der Bürger dankbar die Hand.

    Dorian Freyman war nur First Lieutenant, weil er eine militärische Karriere nie angestrebt hatte. Er war auch in der Air Force längst schon mehr Politiker als Soldat. Seine Antwort geriet auch entsprechend der des Bürgermeisters: schöne Worte ohne jegliche Verbindlichkeit.

    „Thank you so much for your warm words and the great honor. I will carry both of them to my country and hand them over to the people of the United States. God bless you, God bless my country, God bless America!"

    Mrs. Freyman hatte durch ihren Einfluss dafür gesorgt, dass die Ehrung samt der emotionalen Rede durch fast alle Rundfunkstationen von der Ostküste bis hinüber zur Westküste übertragen wurde. Nur eine Woche später stiftete sie ihrerseits eine nationale Lebensrettungsmedaille.

    Die sollte an verdiente Mitglieder der Bay Watch und der Fire Rescue für besondere Leistungen vergeben werden: die ‚Dorian Freyman Medal of Honor‘.

    Bei allen weiteren finanziellen Stiftungen, bei denen sie selber im Rampenlicht stand, vergaß sie nie hervorzuheben, dass sie nur die Überbringerin sei, tatsächlich aber jetzt ihr Sohn Dorian Freyman hinter den Spenden stünde.

    Alle Bemühungen, die Presse, das Volk, und vor allem den politischen Gegner, durch die Präsentation einer ehrenvollen und geradlinigen Vita davon abzubringen, sich weiter um die Widersprüchlichkeit bei Dorian Freymans Geburt zu kümmern, waren letztendlich vergebens.

    Dass er Mitglied einer Freimaurerloge sein sollte, das war nicht gesichert. Aber das war George Washington auch gewesen. Und so machte man auch kein großes Aufheben um diese unbewiesene Tatsache, die er selber niemals bestritt. Was dem ersten Präsidenten der USA billig war, das konnte auch einem zukünftigen recht sein. Man nahm es eher respektvoll, fast ehrfürchtig, zur Kenntnis.

    Es blieb die große Frage, ob er nun fünf Jahre jünger war oder älter. Ob er ein Freyman war - oder nicht. Ein Amerikaner - oder nicht.

    Und das fragten sich neben den interessierten Wählern in der Bevölkerung namentlich auch immer wieder die beiden Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein, die bei der Washington Post schon einmal mit der Aufklärung eines brisanten Falles für Furore gesorgt hatten.

    Eleonora Freyman, die sich nach dem unvermuteten Ableben ihres Mannes mit Gräfin ansprechen ließ, wurde von Woodward noch im Jahr ihres Todes mehrmals aufgesucht, zuletzt auf ihrem Alterssitz auf Long Island, um ihr das Geheimnis um die abweichenden Eintragungen zur Geburt ihres Sohnes zu entlocken.

    Kurz vor Ende des letzten Gespräches mit ihr, wollte er sie mit einem Coup zu einer Aussage provozieren.

    Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er mit dieser Taktik Erfolg gehabt hätte.

    Er glaubte, er könne sie überrumpeln und sie damit zu einem Fehler verleiten während ihrer Antwort. Sie könnte dadurch unbeabsichtigt etwas preisgeben. Damit rechnete er, als er ihr frech ins Gesicht sagte:

    „Wissen Sie was, verehrte Gräfin, Sie haben die amtlichen Daten in der Geburtsurkunde schlicht und einfach fälschen lassen. Mit Ihrer Autorität war Ihnen das leicht möglich. Ich weiß zwar noch nicht, warum Sie das getan haben, aber ich werde es noch herausfinden."

    Diesem unverblümten Vorwurf seinerseits folgte allerdings umgehend der Rauswurf ihrerseits.

    „Sie wissen wohl nicht, wen Sie vor sich haben? Solch eine impertinente, weil falsche Anschuldigung steht Ihnen keinesfalls zu. Wer sind Sie denn? Ich sage Ihnen nur eines: es käme Sie teuer zu stehen, wenn es nicht unter meiner Würde wäre, gegen einen Niemanden wie Sie vorzugehen. Verlassen Sie sofort mein Haus und wagen Sie nicht, es je wieder zu betreten, mein Herr!"

    Damit war die Audienz auch schon beendet.

    Und immer, wenn sie jemanden mit ‚mein Herr’ betitelte, dann bedeutete das für den auf diese Weise ‚geehrten‘ nichts Gutes. Das war inzwischen allgemein bekannt.

    Ihre noch schnell nachgeschobene, unverhohlene Drohung, den unliebsamen Fragesteller durch einflussreiche Dritte gesellschaftlich ‚vernichten‘ zu lassen, falls er sie künftig nicht endlich in Ruhe ließe, nahm dieser so ernst, wie es angeraten war.

    Woodward wusste sehr wohl, dass der Herausgeber der ‚Washington Post‘, Philip Graham, bis zu seinem Suizid in 1963, fast jeden Donnerstag sich mit seiner Gattin bei Mrs. Freyman zum gemeinsamen Kaffee getroffen hatte.

    Und dass diese Treffen zum gegenseitigen Austausch, nach seinem freiwilligen Tod, mit seiner Witwe, Katherine Graham, weitergeführt wurden.

    Wenn auch nicht mehr ganz so häufig, da Mrs. Graham jetzt nicht mehr so viel Zeit hatte. Ihr war die alleinige Führung des Verlages übertragen worden und sie war gut beschäftigt damit, das Unternehmen zu einem immer größer werdenden Medienimperium auszubauen.

    Schon eine Frau alleine kann einem Mann so zusetzen, dass er seines Lebens nicht mehr froh wird. Aber diesen zwei Damen mit ihrer Machtfülle ausgesetzt zu sein - da war Vernichtung eindeutig das Wort der Wahl.

    Auch Mr. Woodward war das klar.

    Und auch Carl Bernstein stimmte mit ihm darin überein, als Woodward ihm über seinen kalkulierten Fauxpas und dessen nicht erwartete Auswirkungen berichtete.

    Sie beide vermieden von da ab strikt, sich bei Aufenthalten in Long Island weiter als bis auf einen Straßenzug an das Haus der Gräfin am Bay Drive anzunähern. Und mit dem Freyman Building in New York hielten sie es vorsichtshalber auf die gleiche Weise.

    Feigheit konnte man das sicher nicht nennen, was sie dazu veranlasste. Es war ganz einfach der gesellschaftliche Selbsterhaltungstrieb; der völlig verständliche Wunsch, ihre Stellung in der Öffentlichkeit nicht zu verlieren. Gegen einen so übermächtigen Gegner.

    Mrs. Freyman jedenfalls blieb von den zwei Journalisten die letzten Monate, Wochen und Tage ihres Lebens unbehelligt. Und von all den wenigen Personen, die Kenntnis hatten zu den Umständen um Dorian Freymans Geburt, nahm sie ihr Geheimnis als erste mit ins Grab.

    Schon die Jahre zuvor hatten die beiden Zeitungsleute im Rahmen ihrer Nachforschungen auch immer wieder versucht, Heiminsassen ausfindig zu machen, die um die Zeit der besagten Eintragung dort gemeldet waren.

    Vielleicht konnte sich ja einer von denen daran erinnern, was in jener Nacht im Heim vor sich gegangen war. Wer da zu später Stunde gebracht wurde und Mitbewohner wurde. Dass er gar Zimmernachbar für jemanden geworden sei, das war eher unwahrscheinlich. Denn Kleinkinder waren in einem eigenen Flügel des Hauses untergebracht.

    Schon allein die Suche nach diesen Personen, die vor so langer Zeit in dem Waisenhaus untergebracht waren, hatte sich äußerst schwierig gestaltet. Von den weiblichen Aspiranten hatten wohl die meisten geheiratet und trugen inzwischen andere Namen; sie waren daher unter ihrem ursprünglichen Mädchennamen her nicht mehr auffindbar.

    Und wenn sie endlich eine dieser Frauen gefunden hatten, deren Name auf der Belegungsliste angegeben war, und von der sie glaubten, sie müsste dort auch einige Zeit verbracht haben, dann kannte die oft nicht einmal das Home of the Children. In dem sollten sie als Jugendliche aber angeblich gewesen sein - und nach dem wurden sie nun von den zwei Zeitungsleuten nach so langer Zeit gefragt. Nicht eine einzige der Befragten konnte sich an eine Jugendzeit in einem Waisenhaus erinnern.

    Das Aufstöbern von männlichen Heiminsassen jener Zeit war dagegen etwas leichter.

    Aber deshalb noch lange nicht ergiebiger.

    Die undurchsichtige Geschichte lag schließlich auch schon Jahrzehnte zurück. Klar, wenn tagsüber ein Heranwachsender ins Heim gebracht wurde, dann war man schon mal neugierig und betrachtete ihn oder sie genauer, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Weil es um einen neuen Spielkameraden oder eine Spielkameradin ging, auf die man einfach gespannt war.

    Aber für neu ankommende Babys interessierte sich eigentlich kaum jemand. Vor allem aber machte der Zeitpunkt der Ankunft dieses Babys, nach dem gefragt wurde, jegliche Erinnerung unmöglich. Zu dieser weit vorgerückten Stunde mussten alle Heimbewohner, die nicht zum Personal gehörten, bereits in ihren Betten liegen. Ob Mädchen oder Junge.

    Die Jagd nach Informationen im Umfeld des Waisenhauses wäre durch die Befragung der damaligen Heimleiterin sicher am erfolgreichsten gewesen. Aber die Dame war leider schon seit langem verstorben.

    „Bob, wir kommen nicht weiter auf dieser Schiene. Die paar Leutchen, die wir ausfindig gemacht haben, wissen einfach nichts mehr darüber. Ich habe nicht den Eindruck, als ob auch nur ein einziger von ihnen sich an irgendeine signifikante Begebenheit erinnern hätte können, geschweige denn, bewusst eine Erinnerung zurückbehalten hätte."

    „Du hast Recht, Carl, diese Schiene führt auf ein Abstellgleis", erwiderte Woodward lapidar.

    Damit war zu der Suche nach ehemaligen Heimbewohnern alles Nötige gesagt.

    In dieser Richtung war die Suche nach Klarheit im Sande verlaufen und

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