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Morality and fear: Der Taxifahrer von Tryonee Harbour
Morality and fear: Der Taxifahrer von Tryonee Harbour
Morality and fear: Der Taxifahrer von Tryonee Harbour
eBook591 Seiten8 Stunden

Morality and fear: Der Taxifahrer von Tryonee Harbour

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Über dieses E-Book

Das Amerika der 1930er Jahre: Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise haben dem organisierten Verbrechen enormen Machtzuwachs beschert.
Fast ein Jahrzehnt lang erklimmt Stevenson Rice die Karriereleiter eines Mafiagangsters. Doch das Überleben in dieser verschwiegenen und zutiefst geheimnisvollen Welt ist hart. Was ist richtig und was nicht? Wem kann er vertrauen, nach welchem Gesetz sich richten?
Wie weit geht seine Loyalität und ist er bereit, alles für den Don zu tun?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum17. Dez. 2017
ISBN9783745070811
Morality and fear: Der Taxifahrer von Tryonee Harbour

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    Buchvorschau

    Morality and fear - Martin Wannhoff

    Personenverzeichnis

    Stevenson Rice: geboren in New Orleans, nach dem Tod des Vaters an die Ostküste gezogen, Taxifahrer, später Gangster bei Sansone, verheiratet, Vater von 2 Töchtern

    Detective Richardson: Polizist, 42 Jahre alt, geschieden, alleinstehend, von sich und dem Zustand des Polizeiapparates enttäuscht, aus Boston

    Don Antonio Sansone: Sizilianer, nach dem Krieg in die USA eingewandert. Boss der Sansone-Familie, berechnend: freundlich und Gleichgesinnten wohlgesonnen, erbarmungslos gegenüber Querulanten und vermeintlichen Feinden, sieht sich selbst als moralischer Apostel und Geschäftsmann

    Luigi Lonore: Sizilianer, geboren im Dorf San Teodoro, Sizilien, Eltern verstorben, kräftig, gehorsam, sehr geduldig, Freund von Stevenson

    Nuncio Costello: Das Gegenteil von Luigi: gebrechlich, launisch, cholerisch, trinkfest, die Eltern geschieden, beim Vater aufgewachsen, Capo der Familie, bester Freund von Stevenson

    Silvio Coletti: Sizilianer, lang und dürr, Freund und Consigliere (Berater und rechte Hand) von Don Sansone, vernünftig und klug, verheiratet, Vater einer Tochter

    Perpone: Sizilianer, Waffenexperte und Hüter des gesamten Waffenarsenals der Familie, nur er verteilt Schusswaffen und kassiert sie nach getaner Arbeit wieder ein

    Giovanni Bastianotti: Italiener, Sansones Barkeeper, Stevensons Schwiegervater

    Marylane Rice, geb. Bastianotti: Italienerin, Mutter starb bei der Geburt, wurde hauptsächlich von einer Nachbarin aufgezogen, Tochter von Giovanni, Stevensons Frau und Mutter zweier Töchter

    Hermann Koch: Deutscher, aus Annaberg, Bombenleger, völlig durchgeknallt

    Salvatore Calmorra: Italiener, besonnen, Amerikas bester Safeknacker

    Don Carlo Massimo: Sansones Gegenspieler und Erzfeind, Boss der Massimo-Familie, gnadenloser Patriarch, krankhaft misstrauisch

    Benito Massimo: Sizilianer, leiblicher Bruder von Carlo, dessen Consigliere und Unterboss, ruhig und überlegt, seinem Bruder überlegen, ihm aber absolut loyal, Vorsitzender der Hafenarbeitergewerkschaft

    Yvonne Hyousek: Dänin, Prostituierte im Biagetto-Bordell, beste Freundin und Tochter der „Ersatzmutter" von Marylane Bastianotti

    Ferdinand Oregan: Stadtratsmitglied, Vater von John Oregan, Busenfreund von Carlo Massimo

    John Oregan: Sohn des Stadtrates Ferdinand, Anführer einer gewalttätigen Jugendclique

    Don Guiseppe Genovese: Die graue Eminenz, erster Mafiaboss der Stadt Tryonee Harbour

    Prolog 1927

    Bild zur Dekoration

    Fast schon hatte es ihm die Augen zugezogen, da krachte es an der Tür. Blitzartig hatte ein Angreifer ihn überwältigt und presste sein Gesicht auf den Tisch. In über 40 Jahren Dienst bei der Bahn war ihm sowas noch nicht passiert. Der Mann forderte ihn auf, den Güterzug, welcher gerade am Bahnhof im Works - Quarter losgefahren war, anzuhalten. Als er zunächst nicht reagierte, schlug er ihn mit der Faust ins Gesicht, so dass er zu Boden stürzte. Nachdem er sich aufgerappelt hatte, packte der Mann ihn an der Schulter und zwang ihn wieder auf den Stuhl. Unter dem Druck der Androhung weiterer Schläge, schaltete er die nächste rote Signallampe 3 km stadteinwärts vom Bahnhof entfernt ein.

    Somit war der Zug etwa 4 km von hier entfernt zum Halten gezwungen.

    Ob es sich um einen Raubüberfall handelte? Gefesselt lag der Bahnbeamte jetzt in einer Ecke seines Schrankenhäuschens und schaute dem Mann verängstigt beim Rauchen einer Zigarette zu. Die Fesseln hatte er sehr eng gebunden, seine Hand war bereits nach wenigen Momenten eingeschlafen. Dazu schmerzte sein Gesicht furchtbar. Er musste übel aussehen, Blut tropfte von seinem Kinn aufs Hemd. Er kämpfte die Angst in sich nieder und versuchte, klar im Kopf zu werden. Die Lage, in der er sich befand, konnte der 58jährige Mann jedoch nicht einordnen.

    War er selbst in Gefahr? Gegen wen richtete sich der Überfall, wenn nicht gegen ihn? Und wenn schon gegen ihn, warum? So wirklich konnte er sich keinen Reim auf seine Geiselnahme machen. Da der Zug noch nicht durchgefahren war, stand er noch immer an dem Haltesignal. Eine ganze Weile blickte der Gangster ihn drohend an. Er wagte es kaum, sich zu rühren.

    Seltsamerweise machte der Gangster keine Anstalten, seine Sachen zu durchsuchen. Er hätte außer einer Hand voll Dollar eh nichts gefunden. Muskulös wirkte der ganz in schwarz gekleidete Mann nicht gerade. Er war eher von kleiner Statur und trug einen Hut. So im Dunkeln machte er eine beängstigende und unberechenbare Erscheinung. Die glich weniger der eines Menschen, als vielmehr dem Tod, den man nicht sehen kann, der aber dennoch immer irgendwo lauert. Der schwache Schimmer der Straßenbeleuchtung reichte leider nicht aus, um ihn näher erkennen zu können. Nur beim Aufglimmen seiner Zigarette konnte der Bahnbeamte die Silhouette des Gesichtes erahnen. Der Mann saß auf dem Stuhl und klopfte immer wieder mit einem Finger auf den Tisch.

    Minutenlang lag er nun so da. Die quälende Ungewissheit plagte den Wärter. Was wurde hier gespielt? Er versuchte sich daran zu erinnern, ob er schon einmal von so etwas gelesen hatte. Lediglich die alten Wild-West-Geschichten, mit Indianern und Eisenbahnüberfällen kamen ihm in den Sinn. Doch diese Zeiten waren längst vorbei. Was könnte der Mann für ein Motiv haben, einen Zug anzuhalten, der bis oben hin mit Asche und Hochofenschlacke beladen war?

    Weder bei ihm selbst, noch auf dem Zug befanden sich irgendwelche nennenswerten Wertgegenstände. Vielleicht war auf den Zug ohne sein Wissen etwas aufgeladen worden? Drogen vielleicht, die auf diese Weise schnell und ohne jegliche Kontrolle quer durch das Land geschafft werden konnten. Die Gefahr in der er schwebte und die Schmerzen, die er empfand, wichen allmählich der Frage, was das alles sollte. Er könnte den Mann ja fragen, was er wollte. Doch dieser würde unter Umständen eine Waffe ziehen und ihn auf sein albernes Gefrage hin erschießen.

    Zwar hatte er bei dem Übergriff keine gesehen, doch es war davon auszugehen, dass dieser mit einem Revolver, oder etwas in der Art bewaffnet war. Zu unberechenbar war die Situation und so hielt er klugerweise den Mund. Die Minuten verstrichen und zu dem pochenden Finger kamen Regentropfen, die auf das Dach und die Fensterscheiben fielen. Im Dunkel der Nacht näherte sich nach etwa 8

    Minuten ein großes Auto dem Bahnübergang. Ein kurzes Hupen ertönte daraufhin. Damit war offensichtlich, dass dieser Gangster nicht allein war, und dass der Überfall wohl nichts mit dem Schrankenwärter zu tun hatte. Richard Schmidt war lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Sogleich wurde das Schranken-Warn-Signal eingeschaltet. Die Signalglocke schlug und die roten Warnlichter des Andreaskreuzes blinkten auf. Der Wagen hielt an der noch offenen Schranke an. Hastig schaltete der Gangster das Signal ab, welches der Bahnbeamte zuvor gezwungen worden war, einzuschalten.

    Voller Ungeduld wartete der Lokführer Barrack McAffey darauf, endlich losfahren zu können. Sie waren schon drei Minuten im Verzug. Die Einhaltung der Fahrpläne war höchste Pflicht. Dem war alles andere unterzuordnen. Aber die jungen Burschen von heute schienen das - zu seinem Ärger - weniger eng zu sehen. Erst als der Schaffnerwagon fertig angekoppelt war, ertönte die vertraute Trillerpfeife seines Heizers Jonny Walther, einmal lang und einmal kurz.

    Das Zeichen, dass alles zur Abfahrt bereit war. Als dieser auf dem Führerstand ankam, war McAffey schon ungeduldig dabei, Kohle in den Kessel zu schaufeln.

    „Warum mache ich deine Arbeit? Hier, nimm die Schaufel!"

    Bald war der Druck im Dampfkessel hoch genug und der Zug rollte an. Die Kraft des Dampfes wurde auf die Triebräder übertragen, die Lok brachte ihre 6500 PS auf die Schiene.

    Das rote Signal, welches den wütenden Lokführer abermals zum Halten zwang, war zwar ärgerlich, aber nicht ungewöhnlich. Deshalb wartete McAffey ab, während Walther unablässig Kohlebriketts in den glühend heißen Kessel schaufelte. Fast zehn Minuten waren vergangen und der Kessel hatte schon den Bereich des Überdrucks erreicht, als das Haltesignal endlich erlosch und die Fahrt fortgesetzt werden konnte. Rasch beschleunigte der mit Industrieabfall beladene Zug. Die Räder drehten erst durch, doch schnell gewannen sie an Fahrt. Insgesamt hingen sie jetzt schon eine viertel Stunde im Fahrplan hinterher, darum peitschte der Lokführer den Zug mit Hilfe des Überdrucks nach vorn, ohne, wie es eigentlich Vorschrift gewesen wäre, etwas davon abzulassen. So hatte er fast 70 Meilen erreicht, als er sich dem ersten Bahnübergang näherte.

    Das Rattern des herannahenden Zuges war zu hören und das vertraute Geräusch des Zughorns hallte durch die Nacht. Es standen jetzt zwei Autos an der noch immer nicht geschlossenen Schranke. Langsam dämmerte es Richard Schmidt, was sich hier gerade ereignete. Mit fassungslosem Entsetzen setzte er sich aufrecht hin und reckte den Hals. So erspähte er jene entscheidenden Sekunden. Der Gangster schaute ebenfalls gebannt nach draußen. Jetzt konnte man den Zug sehen und auch sein Komplize im hinteren der beiden wartenden Autos bemerkte ihn. Mit jaulendem Motor fuhr er auf den vor ihm stehenden Wagen auf und schob ihn auf die Gleise, direkt vor den Zug. Mit 70 Meilen rammte die Lok den Wagen von der Straße. Funken flogen. Der hunderte Tonnen schwere Zug ließ kaum ein paar Trümmer von dem Auto übrig und riss Teile davon mehrere hundert Meter weit mit sich. Die Insassen hatten keine Chance und waren auf der Stelle tot. So schnell wie die Lok in das Auto gerauscht war, so schnell war auch der Gangster aus dem Schrankenhäuschen verschwunden.

    Bild zur Dekoration

    Der Zeuge 1939

    Bild zur Dekoration

    Es war genau 4 Uhr und 56 Minuten, als am 18. Juli 1939 die ersten Sonnenstrahlen die Spitze des Leuchtturms der Stadt Tryonee Harbour berührten. Der Himmel bot alle nur denkbaren Farbfacetten auf. Während er in Richtung Osten zum Meer hin rot-orange war, zeigte er in Richtung Stadt bläuliche Töne, die weiter westwärts die weichende Nacht noch erahnen ließen. Die Wellen des Atlantiks brandeten gegen die Steilküste, auf der der blendend weiße Leuchtturm stand. Der alte Leuchtturmwärter stieß die Tür zur Aussichtsplattform auf und richtete einen aufmerksamen Blick über die See. Dutzende Fischerboote liefen nach der stürmischen Nacht den Hafen an. Nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte, suchte er mit seinem Fernglas die Umgebung speziell um den Hafen nach Ungewöhnlichkeiten ab. Ein Hurrikan hatte die Stadt in den Abendstunden des vorigen Tages getroffen. Die See war zwar noch aufgewühlt, aber die erwartete Sturmflut blieb aus. Der Himmel war klar, die Sicht gut und die Stadt unversehrt. Die „Normandie konnte also an diesem Tag wie geplant nach Osten in Richtung Europa auslaufen. Seit Jahren stellte der französische Luxusliner immer neue Geschwindigkeitsrekorde auf der Atlantikroute auf. Diese wurden dann immer wieder von der englischen „Queen Mary unterboten. Es ging um das blaue Band, um nationales Prestige, das schnellste Schiff der Welt zu haben, und um viel Geld.

    Soweit war alles in Ordnung. Kein Rauch, den der Wärter hätte melden müssen, kein in Seenot geratenes Schiff. Mit einem kurzen Nicken begab sich der bärtige Mann wieder in die unteren Etagen des Turmes, die er allein bewohnte.

    Langsam stieg die Sonne höher und erreichte die Straßenzüge der noch leeren Stadt. Briefträger und Müllabfuhr arbeiteten bereits. Hier und da verließ so mancher Frühaufsteher sein Haus. Straßenkehrer gingen ihrer Arbeit nach und das eine oder andere Auto erfüllte die leeren Straßen mit lautem Motorengeräusch und einer blauen Abgaswolke. Als die Kirchenglocken des Stadtteils Wellington 6:00Uhr schlugen, erwachte das Leben in der Stadt. Binnen fünf Minuten schienen nahezu alle Bewohner auf den Beinen zu sein. Arbeiter verließen in Scharen ihre Wohnungen um in das Works – Quarter zu gelangen. Dort standen Fabriken, die alles nur Denkbare produzierten: Autos, Werkzeuge, Generatoren, elektrische Geräte, Kleidung und vieles mehr. Allein hier waren über 2,5

    Millionen Menschen beschäftigt. Ein 4-spuriger Highway trennte das riesige Arbeiterviertel in die Schwerindustrie im Norden, die Textil-und Chemieindustrie im Süden. Dieser Highway führte an seinem östlichen Ende über eine gigantische Stahlbogenbrücke direkt auf die Hafeninsel. Die Hafenarbeitergewerkschaft war nach der Atlantic-Railroad-Company der zweitgrößte Arbeitgeber der Stadt. Ruhig lag der französische Super – Liner am östlichen Dockende des Hafeneilandes und wartete darauf, aufs offene Meer geschleppt zu werden. Für ein derart großes Schiff waren drei Schlepper nötig.

    Der Börsenkrach hatte die Stadt schwer getroffen.

    Unzählige Geschäfte und sogar riesige Firmen mussten schließen. Die Not war Anfang des Jahrzehnts groß gewesen. Doch im Laufe der Jahre gingen die Arbeitslosenzahlen zurück. Das jetzige Treiben glich einem Wirtschaftswunder. Die Stadt verfügte seit einigen Jahren sogar über eine elektrische Straßenbahn. Übersichtlicher machte es das Bild in den Straßen aber nicht. Sie hatte lediglich zur Folge, dass sich das Leben weiter beschleunigte. Immer mehr Menschen suchten ihr Glück in der boomenden Metropole.

    Die Stadt Tryonee Harbour war durch den Hiefleigh-River in den Norden, den Süden, die Hafeninsel und in Central Island geteilt. Auf der großen Insel waren breite Straßen angelegt worden und immer neue Wolkenkratzer erreichten atemberaubende Dimensionen. Außerdem gab es ein Theater, seit 1934 eine Gefängnisruine sowie 2 Museen: eines für die landesweit bekannte Kunstausstellung, das andere für die Geschichte der Luftfahrt. Des Weiteren befanden sich dort Stadtbad, Bibliothek und ein großzügig entworfener Einkaufstempel. Seit einiger Zeit gab es auch eine S-Bahn mit dazugehörigem Zugdepot. Diese war aus Platzgründen über den Straßen der immer voller werdenden Stadt errichtet worden. Obwohl die Wagons über neuartige extraharte Stahlräder verfügten, machten sie einen ungeheuren Krach, wenn sie über einen Straßenzug hinweg donnerten. Bald waren die Straßen, wie jeden Tag, mit Autos, Straßenbahnen und Motorrädern verstopft. Die Bürgersteige waren voller Menschen.

    Wieder fuhr eine S-Bahn über eine der acht Brücken von Central – Island nach Downtown und hielt an der Haltestelle. Mitten im alltäglichen Gedränge stieg ein Mann aus. Seine Gesichtszüge waren durchschnittlich. Dazu dunkle Haare, das Gesicht ordentlich rasiert, aufmerksame Augen. Er trug einen schwarzen Mantel und einen Hut. Des Weiteren teure Schuhe und eine schwarze Hose. Er war Mitte 30 und von jener Sorte Mensch, mit denen man lieber keinen Ärger hatte. Er stieg die Treppen hinunter auf die Straße, wartete kurz und überquerte sie. Mit festen Schritten hielt er auf das Eck – Café auf der anderen Straßenseite zu.

    Die Tür öffnete sich und schlug gegen ein paar Glocken, die angenehm schallten. Anders als der Zug draußen, der eben weitergefahren war. Aufgrund der Tageszeit war das Café nahezu leer. Lediglich ein junges Paar saß direkt am Eingang und aß belegte Brötchen. Dann hockte noch ein älterer Mann an der Bar, in sich zusammengesunken, und schlief.

    So betrunken, wie er war, saß er da offenbar schon länger.

    Der Mann, der eben das Café betreten hatte, hielt auf einen Gast zu, der zurückgezogen in einer Ecke saß und rauchend die Tageszeitung las.

    Stevenson Rice legte seinen Hut und den Mantel ab. Er beugte sich zu dem Herrn herüber und sprach in an: „ Detective Richardson?"

    Der Angesprochene senkte die Zeitung, musterte sein Gegenüber aufmerksam und machte dann mit einem Kopfnicken deutlich, dass er sich doch bitte setzen solle.

    Der Ankömmling entschuldigte sich für die Verspätung und begründete es damit, dass er Vorsicht walten lassen müsse.

    Er wolle keinesfalls erkannt werden .

    „Ich bin kein Mann der großen Umschweife. Deshalb lasse ich die Katze gleich aus dem Sack. Ich bekleide eine Führungsposition in einer nicht ganz legalen Organisation. Es handelt sich um einer jener Organisationen, über die Leute wie Sie gerne mehr wissen möchten."

    Detective Richardson hatte die Zeitung weggelegt, und sein Gegenüber aufmerksam gemustert. Um die 35 wird er wohl sein, dachte er. Er selbst war 42 Jahre alt und alleinstehend.

    Er war ein engagierter Polizist, der gerade von der Polizeioberkommandantur hierher versetzt worden war.

    Schon in Boston, der Stadt aus der er ursprünglich kam, hatte er haarsträubende Erfahrungen mit Korruption und Betrug gemacht. Er wusste, wie es im Polizeiapparat zuging und wie stark dieser vom organisierten Verbrechen unterwandert war. Der Job hatte ihn müde und depressiv werden lassen. Oft arbeiteten Kollegen gegen ihn, behinderten ihn bei seiner Arbeit und machten ihn bei seinen Vorgesetzten lächerlich. Er war schlicht zu neugierig und zudem unbestechlich, ein zuverlässiger Mann und durchaus ein guter Polizist. Doch Auszeichnungen hatte er in seinen acht Jahren Dienst in Boston nicht erworben. Er hasste diese Stadt, den Dreck, die alten Dienstmotorräder und die Leute dort. Seit seine Frau sich von ihm hatte scheiden lassen, wollte er nur noch weg. Da kam ihm die Versetzung an die Ostküste nach Tryonee-Harbour gerade recht. Nur hatte er ernüchternd feststellen müssen, dass es in puncto Bestechlichkeit noch sehr viel schlimmer zugehen konnte, als er sich das in Boston je hätte vorstellen können.

    Seinen ersten Tag würde er wohl nie vergessen. Dieser Mann, der ihm da gegenübersaß, hatte ihm vor vier Wochen hastig erklärt, dass er seine Hilfe gebrauchen könne. Viele Details konnte er ihm damals nicht entlocken. Das Gespräch hatte nur wenige Minuten gedauert. Aber Richardson war neugierig geworden. Vielleicht ja deshalb war er einen Schritt auf diesen Mann zugegangen und hatte ein weiteres Treffen arrangiert. Bei dem ersten, eher zufälligen Zusammentreffen waren die Namen Sansone und Massimo gefallen. Richardson hatte sich daraufhin sehr intensiv mit den Akten dieser Männer beschäftigt und stieß auf Granit. Alle Verfahren gegen die besagten Männer waren wegen Beweismangel eingestellt worden. Das kannte er schon aus seiner Zeit in Boston. Doch beim Durcharbeiten dieses riesigen Berges an Unterlagen stieß er auf eine schreckliche Mauer des Schweigens. Die Art und Weise, wie selbst die Behörden eigenes Versagen vertuschten, konnte man nur als skandalös bezeichnen. Es war entsetzlich, wie wenig an der Aufklärung aller offenen Fragen gelegen war. Richardson wusste jetzt so gut wie alles über die unaufgeklärten Fälle der letzten zwölf Jahre und hatte sich in den vergangenen vier Wochen intensiv auf dieses Gespräch vorbereitet. Jetzt stand er im Stoff und konnte mitreden, Gegenfragen stellen, Neues in Erfahrung bringen. Er hatte schon befürchtet, dass alle Mühe mal wieder vergebens war und dass es nicht zu diesem zweiten Treffen kommen würde. Umso erfreulicher war es, dass Stevenson Rice nun doch gekommen war und offensichtlich dieses Mal auch mehr Zeit hatte. Der Termin mit ihm war eine willkommene Abwechslung zum eintönigen Stubendienst, auch wenn er nicht so recht wusste, auf was er sich da eingelassen hatte. Er zog die Stirn kraus und wartete darauf, dass Stevenson Rice weitersprach.

    „Ich möchte mich aus persönlichen Gründen von dieser Organisation distanzieren. Sie wissen ja, wie das ist. Es ist nicht so ganz einfach, aus dem Geschäft auszusteigen."

    Richardson lachte:

    „Ich habe eine ungefähre Vorstellung. Sie haben eine Kugel im Kopf, wenn Sie jetzt nicht schnell untertauchen, stimmtś?"

    „Das ist nicht der einzige Grund. Haben Sie Familie?"

    Seine Exfrau verdrängte er und die Tatsache, dass er zwei Söhne mit ihr hatte, ebenso. An diese Zeit seines Lebens wollte er nicht denken. Und so schüttelte er nur den Kopf.

    „Also niemanden… nun, ich habe Frau und zwei Töchter. Und ich will sie nicht in Gefahr bringen."

    Richardson zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch seinem Gegenüber ins Gesicht und antwortete abfällig: „An ihre Familie hätten Sie vorher denken sollen, mein Guter.

    Sie sagten, Sie würden keine Umschweife machen, also, was ist jetzt?"

    Er schlug dem Polizisten folgenden Tausch vor: 

    „Ich habe jahrelang für Antonio Sansone gearbeitet. Dieser Name ist Ihnen doch sicherlich ein Begriff?"

    „Natürlich. In welcher Verbindung stehen Sie beide?"

    „Naja, wegen verschiedener Angelegenheiten will er mich umbringen. Wenn Sie mich und meine Familie vor Sansone schützen, dann sage ich Ihnen alles, was ich weiß."

    Detective Richardson grinste und nickte erst einmal abfällig.

    Sollte es tatsächlich wahr sein, dass hier ein Gangster der Sansone-Familie auspacken wollte? Sollte dieser Mann endlich die Belohnung bringen für all die Jahre der Demütigung? Was konnte man von dem Kerl erwarten? Wie rechtfertigte er die Verbrechen, die unter seinen Augen stattgefunden hatten? Was hatte er selbst auf dem Kerbholz und natürlich: Was war zwischen Sansone und ihm vorgefallen? So wirklich war ihm Rice bisher nicht aufgegangen. Sizilianische Mafiosi schwiegen doch sonst immer wie ein Grab! Wieso sollte der auf einmal anfangen zu reden? Vielleicht war er ja nur ein Wichtigtuer, ein unbedeutender Fisch, der sich wegen irgendeiner Lappalie an Sansone rächen wollte. Er erwiderte: „Ich bin nicht der Weihnachtsmann. Hören Sie, ich kann nicht jedem gewöhnlichen Kriminellen Schutz bieten. Ich bin noch nicht lange in dieser Stadt. Wenn ich damit zu meinem Vorgesetzten gehe, muss ich handfeste Beweise haben. Ich will alles wissen, was Sie wissen und ich muss wirklich sicher sein, dass Sie vor Gericht aussagen werden."

    Stevenson Rice erklärte sich einverstanden. Dies sei ein Deal, aus dem sie beide als Gewinner hervorgingen.

    Richardson würde sich im Namen der Verbrechensbekämpfung unsterblich machen. Stevenson wollte nur sich und seine Familie aus dieser Situation retten.

    Der Polizist war nicht sicher, was er von diesem Zeugen halten sollte. Er musterte ihn wieder und wieder.

    Zweifelsohne war er gefährlich. Diese Nummer, seine Familie retten zu wollen, kaufte er ihm einfach nicht ab. Er machte einen so unglaubwürdigen Eindruck: Der harte Gangster, der plötzlich einen auf lieben Familienvater gab.

    Außerdem wirkte Rice nicht so hilflos, wie er sich versuchte zu geben. Zu unvorstellbar schien ihm der Gedanke, dass ihm ein bedeutender Mafioso gegenübersaß und auspacken wollte. Das Schweigen ihrer Mitglieder war legendär und der wichtigste Schutz der Mafia. Darum hakte er nach: „Nur, dass wir uns richtig verstehen: Sie wollen alle Leute, mit denen Sie zu tun hatten, verpfeifen, nur um Ihren eigenen Arsch zu retten? Glauben Sie nicht, dass Sie sich damit mächtige Feinde machen?"

    „Sicher. Aber die Würfel sind gefallen. Ich kann nicht zurück.

    Um zu überleben bleibt mir nur die Flucht nach vorn."

    Richardson sah auf die Uhr.

    „Ich habe mir für heute frei genommen. Daher habe ich jede Menge Zeit. Erzählen Sie mir von sich. Ich bin ganz Ohr."

    Stevenson bestellte sich einen Kaffee.

    „Es begann im Sommer 1930. Ich war mal Taxifahrer, müssen Sie wissen…"

    Bild zur Dekoration

    Irgendwie hineingeraten  1930

    Am 2. August ging am späten Abend ein Gewitter über der Stadt nieder. Die See war aufgewühlt und peitschte wütend gegen die Küste. Die Straßen waren nahezu menschenleer.

    Die Gullydeckel fassen kaum die Wassermassen. Die goldenen Zwanziger Jahre hatten sich mit einem gigantischen Knall verabschiedet. Der Börsenkrach hatte weltweit Folgen gehabt und unzählige Menschen in die Insolvenz getrieben. Langsam erholte sich das Land von dieser Schockstarre und es wurde sichtbar, wie schwer es mache Regionen getroffen hatte. Das Works – Quarter, welches vor kaum einem Jahr noch mehr als 2 Millionen Menschen beschäftigt hatte, gab nur noch etwa 500.000

    Menschen eine Arbeit. Das hatte zur Folge, dass viele der Fabrikhallen leer standen und nach einiger Zeit Vandalismus zum Opfer fielen. Der neue vierspurig ausgebaute Highway schien für die jetzigen Beschäftigtenzahlen hoffnungslos überdimensioniert. Er wurde nicht sauber gehalten und verlotterte. Die Kriminalität war überall sprunghaft angestiegen. Das hatte des Weiteren zur Folge, dass das organisierte Verbrechen ungeahnte Stärke und Macht gewann. Die Polizei war längst nicht mehr Herr der Lage.

    So auch an jenem Abend nicht, als sich im Stadtteil Oak-Plain eine dramatische Verfolgungsjagd ereignete. Zwei Männer in einem Ford A wurden von drei anderen in einem schwarzen Schubert verfolgt und unter Beschuss genommen. Die Verfolger verfügten über das schnellere Auto und so konnten die beiden nicht entwischen. Mit schlitternden Reifen wechselten die Verfolgten von einer Straßenseite auf die andere, um kein Loch in den Reifen geschossen zu bekommen. Immer verzweifelter versuchte der in die Jahre gekommene Ford zu entkommen.

    Davonzufahren war mit diesem Wagen nicht möglich, man musste den Gegner in eine Falle locken. Immer wieder bog der Fahrer des Ford in Seitenstraßen ab und kam dabei kurz aus dem Sichtkontakt der Verfolger heraus. Das nützte aber nichts. Auf einem Stück ohne Seitenstraße und der damit verbundenen Fluchtmöglichkeit, traten die Verfolger voll aufs Gas. Der sichere Abstand schmolz dahin. Schon schossen beide Autos Stoßstange an Stoßstange durch die Nacht. Wenn den Verfolgten jetzt nichts einfiel, würden sie gegen irgendein Hindernis geschoben werden. Es gab nichts, wohin sie jetzt noch hätten entkommen können. Der Fahrer zog alle Register und riss das Auto mittels Handbremse herum. Die überraschten Verfolger überholten den schleudernden Ford. Sie traten auf die Bremse, konnten aber den schweren Wagen nicht rechtzeitig zum Stehen bringen. Er knallte an eine Laterne und legte sie um. Der Ford indes war in einem matschigen Vorgarten zum Stehen gekommen und steckte fest. Doch auch in dieser hoffnungslosen Situation dachten die beiden Männer nicht daran aufzugeben. Mit dem Mut der Verzweiflung setzten sie ihre Flucht zu Fuß fort. Sie ließen ihren Wagen im Vorgarten stehen und rannten durch eine Einfahrt in einen Hinterhof. Diesen überquerten sie. Durch eine zweite Einfahrt kamen sie auf der anderen Seite des Karrees wieder auf die Straße. Alles war menschenleer bis auf ein Taxi, welches sich auf der anderen Straßenseite befand. Beide Männer rannten darauf zu. Der Fahrer machte offenbar gerade eine Pause, er hatte sich eine Zigarette angesteckt.

    Der eine riss die Hintertür auf und beide warfen sich in den Wagen. Schon hatte der Fahrer eine Waffe im Genick sitzen. Eine völlig außer Atem geratene Stimme keuchte ihn an:

    „Gib Gas, Mann! Du musst die Typen hinter uns loswerden.

    Sonst ist es aus mit uns, und damit meine ich auch dich."

    Der Taxifahrer warf den Motor an und tat, wie ihm befohlen. In dem Moment schoss der schwarze Großraumwagen aus der Einfahrt, aus der die beiden Gangster zuvor gekommen waren. Dem Taxifahrer wurde klar, dass es ernst war. Die Angst des Gejagten ergriff ihn und so begann er um sein Leben zu fahren. Die Verfolger zählten natürlich eins und eins zusammen und hefteten sich an die Fersen des Taxis. Der einzige Pluspunkt, über den die Verfolgten jetzt noch verfügten, war die Ortskundigkeit des Fahrers. Denn soeben hatte der eine die letzte Patrone nach hinten abgeschossen. Beide legten sich daraufhin auf die Rückbank und der eine meinte:

    Ich an deiner Stelle würde im Zickzackkurs fahren und auch den Kopf einziehen. Ansonsten schießen sie dir deine Reifen kaputt und wenn du Pech hast, deinen Kopf gleich mit."

    Der Rat wurde stillschweigend befolgt, verkürzte aber den sicheren Abstand zusehends. Der Fahrer hatte noch nie in seinem Leben das Taxi derart an seine Grenzen gepeitscht.

    Aber er beherrschte den Wagen souverän und steuerte das Auto sicher durch die Straßen. Es grenzte an Wahnsinn, mit vierzig Meilen in der Stunde über rote Ampeln zu jagen. Die Stimmung war zum Zerreißen angespannt. Die Kupplung kreischte wieder und wieder. Der Motor heulte, der Fahrtwind pfiff, der Regen rauschte um das Taxi herum.

    Ein Angstschrei drang aus der Kehle des Fahrers, als er im Rückspiegel sah, dass sich ein Gewehr auf das Taxi richtete.

    Instinktiv ging er in Deckung. Die beiden Gangster lagen noch immer auf den Rücksitzen und hielten sich die Hände vors Gesicht. Die Verfolger schossen mit ihrem Maschinengewehr über zehn Kugeln auf das Taxi ab. Die Heckscheibe und der Außenspiegel, zusammen mit der Frontscheibe gingen zu Bruch. Auch hörte man im Radkasten zwei, drei, vier Einschläge. Schon flog der Wagen um die nächste Kurve, behielt aber Bahn und seine Geschwindigkeit bei. Die Reifen waren offenbar noch heil, ebenso die Insassen. Der Fahrer schimpfte, denn der ergiebige Regen ergoss sich durch die Frontscheibe direkt ins Auto und auf sein Gesicht. Er zog seine Mütze tiefer und handelte entschlossen. Er bog zum Entsetzen beider Gangster auf die Independence – Bridge ab.

    „Auf der Brücke bist du Freiwild, du Ochse, du kannst dich nicht verstecken!"

    „Scheiße, jetzt sind wir dran."

    sagte der andere und spielte mit dem leeren Colt herum.

    „Tja Luigi, war nett dich gekannt zu haben."

    sagte wieder der Eine und der Andere schluckte schwer. Sie hatten keine Ahnung was der Fahrer mit dieser in ihren Augen schwachsinnigen Aktion bezweckte. Das Taxi nahm auf der Brücke immer mehr an Fahrt auf. Aber es war eben nicht schnell genug. Die Verfolger kamen Stück für Stück näher. Mit fast sechzig Meilen bretterten beide Autos die Brücke hinunter nach Central – Island. Schon war das Gewehr im Innenspiegel zu sehen, welches sich auf das geradeaus fahrende Taxi richtete. Ein Wasserschwall ergoss sich durch die Frontscheibe ins Innere. Jetzt schien alles aus.

    Der Fahrer bremste sein Taxi abrupt ab, schlitterte mittels Handbremse nach rechts herum, touchierte dabei eine Hauswand, verlor seinen linken Außenspiegel und bog in eine winzige Gasse ein. Verblüfft sahen die beiden Gangster auf und stellten fest, dass der Fahrer die Brücke heruntergefahren war und geradeso durch diese Gasse passte. Ungläubig sahen die beiden Männer durch die zerbrochene Heckscheibe hinter sich. Doch der Schubert tauchte nicht wieder auf. Nicht einmal dessen Lichtkegel war zu sehen. Als offensichtlich war, dass sie die Verfolger abgeschüttelt hatten, brach Jubel im Taxi aus. Beide Männer waren dankbar und klopften dem jungen Fahrer immer wieder auf die Schulter.

    Sie ließen sich zu Sansones Bar fahren. Dort angekommen atmeten alle tief durch und der Fahrer wrang seine klatschnasse Mütze aus.

    „Warte hier, Junge. Wir bringen dir noch ein Present von Mister Sansone." sagte der Kleinere im Weggehen.

    Als die Beiden in der Bar verschwunden waren, zündete sich der Fahrer eine Zigarette an. Er hätte jetzt wegfahren können, wenn er gewollt hätte. Aber erstens hatten die beiden nicht bezahlt und zweitens war er neugierig geworden. Bange Minuten des Wartens. Mit schmerzverzerrtem Gesicht besah er die Schäden an seinem Auto. Es war zwar nicht ruiniert, aber für Fahrgäste unzumutbar zerstört. Die Einschusslöcher überall, der Außenspiegel, die Frontscheibe, die Dellen und Kratzer auf der Fahrerseite… Autos waren eine teure Anschaffung und zurzeit fast unbezahlbar. Er setzte sich wieder hinter das Lenkrad und beobachtete die Regentropfen, die auf die Motorhaube fielen und dabei zerplatzten. Durch die zerstörte Frontscheibe tropfte es immerfort auf sein Armaturenbrett. Er konnte nur hoffen, dass Sansone ein großzügiger Mann war, der nicht nur die Fahrt bezahlen, sondern auch ein wenig Geld für die Reparatur lockermachen würde. Wie er so darüber nachdachte, was der Schaden wohl kosten könnte, öffnete sich die Tür des Lokals und der größere der beiden Männer kam heraus. Der Puls von Stevenson ging schneller. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Sein Instinkt schrie zu ihm: Weg, verschwinde, mach dass du Land gewinnst, der wird dich jetzt abknallen! Sein Angstzustand steigerte sich rasch in Panik. Der Mann, der auf das Taxi zuhielt, fasste in eine Seitentasche seines Jacketts, als wolle er eine Waffe ziehen und ihn auf der Stelle umlegen. Wo war denn der verflixte Schlüssel? Verzweifelt nestelte er nach dem Schlüsselbund und fand ihn schließlich. Der Kerl hatte seine Hand in der Seitentasche und war nur noch wenige Schritte entfernt.

    Stevensons nasse Hand zitterte so sehr, dass er den glitschigen Schlüssel nicht einführen konnte und jetzt fiel er auch noch runter…

    „Verdammt, jetzt ist es vorbei."

    Der Unbekannte stellte sich an die Fahrertür und klopfte an die Scheibe. Stevenson kurbelte sie zögernd nach unten. Der Mann hatte einen dicken Briefumschlag hervorgezogen und reichte ihm diesen.

    „Mister Sansone ist dir dankbar. Genauso wie Nuncio und ich.

    Hier ist eine kleine Entschädigung für deine Dienste und für dein kaputtes Taxi. Ich hoffe, es reicht. Mister Sansone richtet dir aus, dass er niemals Freunde vergisst, die ihm einmal geholfen haben. Wenn du einmal etwas brauchst, kannst du wiederkommen und ihn um Rat fragen. Er wird dir immer helfen. Vielleicht findest du ja auch bei uns einen Job. Mister Sansone lässt dir sagen, dass er ein guter Arbeitgeber ist und auch angemessen bezahlt. Das kann ich nur bestätigen."

    Nicht eine Sekunde dachte Stevenson über dieses absurde Angebot nach. Er war Taxifahrer und mochte den Job.

    Auch wenn er nicht viel verdiente und von früh bis spät arbeitete. Trotzdem bedankte er sich höflich und sagte, dass er es sich durch den Kopf gehen lassen wolle. Mit den Worten:

    „Ich hoffe, dir ist klar, dass diese Angelegenheit unter uns bleibt. Überlege es dir gut, und pass auf dich auf.", machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand im Lokal. Stevenson Rice, immer noch zu Tode erschrocken und kreidebleich, startete den Motor und fuhr nach Hause. Er wohnte im Erdgeschoss eines verbrauchten Mietshauses im Stadtteil Wellington.

    Als er nach dieser höllischen Fahrt endlich in seiner Wohnung im Trockenen saß, gönnte er sich einen Whisky und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Die Wohnung war karg eingerichtet, aber er brauchte auch nicht viel. In einer Ecke befand sich eine Kochnische, in der sich das Geschirr von zwei Wochen stapelte. Ansonsten besaß er noch ein Bett und eine Essecke mit zwei Stühlen. Auf dem einen saß er gerade. Sein Blick fiel auf die Jacke, die triefend nass am Haken neben der Eingangstür hing. Dort schaute aus einer Tasche der Umschlag hervor, den er von diesem Luigi erhalten hatte. Als er ihn öffnete, bekam er fast einen Herzanfall. Das waren dutzende hoher Geldscheine, und als er nachzählte, kam er auf genau 1.000 Dollar. Er hielt sich am Stuhl fest. Das war weit mehr, als die Reparaturen kosten würden. Aber er verschwendete keinen Gedanken daran, mit diesen Gangstern zusammen zu arbeiten. Und wenn sie noch so viel Geld hatten. Lieber arm und am Leben, als reich und tot, sagte er sich.

    Die ganze nächste Woche stand das Taxi in der Werkstatt und wie zu erwarten war, kostete die Reparatur nur einen Bruchteil dessen, was er an Geld in den Händen hielt. Wie konnte er es wirklich sinnvoll investieren? Behalten wollte er es nicht, denn es war nicht abzusehen, was der Dollar in einem Monat noch wert war. Ihm kam die Idee, sich einen Anzug für das Taxifahren zu kaufen. Schließlich investierte er etwas in neue Bezüge und eine Generalüberholung der Karosserie. Waren die alten Bezüge noch braun und abgegriffen gewesen, glänzten sie jetzt in einem herrlichen roten Kunstleder. Er machte es seinen Fahrgästen so bequem wie möglich, getreulich dem Motto: der Kunde ist König. Unter anderem ließ Stevenson die Innenraumbeleuchtung wechseln. Statt der serienmäßigen gelben Funzeln brachte er ovale Leuchter an. Sie versprühten ein angenehmes Licht, in welchem die roten Sitzbezüge schön zur Geltung kamen. Im Moment war es offenbar das Vernünftigste, das Geld in sein Arbeitsgerät zu investieren. So würde er langfristig etwas davon haben und wer weiß: vielleicht stiegen dadurch sogar die Trinkgeldeinnahmen. Bestens gerüstet für das einsame Leben eines Taxifahrers und mit „neuem Auto, stürzte Stevenson sich nach drei Wochen Pause in den Berufsverkehr der Stadt. Den Urlaub hatte er sich redlich verdient und außerdem stand sein Auto sowieso die meiste Zeit in der Werkstatt. Nach diesem „Update ging er wieder ganz normal seiner Arbeit nach. Auf seine Fahrgäste war er nach wie vor angewiesen, denn er hatte fast alles ausgegeben. Von seinem letzten Geld kaufte er sich ein Feuerzeug, eine Stange Zigaretten sowie ein Brötchen und ging damit wieder auf Tour.

    Seit einer Woche ging er seiner Arbeit nach. Als wäre nichts geschehen schlängelte sich das Taxi durch die Straßen der Stadt. Nichts erinnerte mehr an den spektakulären Vorfall, der jetzt fast einen Monat zurücklag. Der Kontrast Fahrgastzelle und Fahrerraum verfehlte seine Wirkung nicht. Es war häufiger der Fall, dass man aufgrund des überdurchschnittlichen Komforts auf das Wechselgeld verzichtete. Viel war es nicht, aber es war definitiv mehr als üblich. Vorn sah das Taxi eher schäbig aus und Stevenson achtete darauf, nicht ordentlicher auszusehen, als der gemeine Fahrgast. Sonst wären die Leute vielleicht der Meinung gewesen, dass er schon genug Geld hatte. An jenem ersten September 1930 flimmerte die Stadt in der Spätsommerhitze und der üblichen Enge. Wer die Möglichkeit hatte, verließ das Flussdelta und machte sich auf den umliegenden Höhen einen schönen Tag. Nicht aber Stevenson Rice. Er hatte gerade einen Fahrgast am Krankenhaus abgesetzt und den nächsten an Bord genommen, der zum Einkaufszentrum in Little Italy wollte.

    Die Oakwood – Bridge war die längste Brücke weit und breit und verband westlich von Central Island die durch den Fluss geteilten Stadtteile Oakwood und Chinatown. Sie war über drei Kilometer lang und man hatte von da aus einen herrlichen Blick auf die Skyline von Central – Island.

    Allerdings war sie baufällig. Wegen der Rezession waren die Bauarbeiten auf unbestimmte Zeit vertagt. Mit jedem Monat wurden die Straßenverhältnisse schlechter und jetzt stand ein weiterer Winter vor der Tür. Der damals verwendete Asphalt war zwar leichter als Beton und ermöglichte erst den Bau einer derart langen Brücke. Aber er war nicht besonders haltbar und löste sich unter der täglichen Belastung auf. Winterlicher Frost tat sein Übriges. Es musste etwas geschehen, damit das ganze Objekt nicht für den Verkehr gesperrt wurde.

    Von der Brücke aus ging es noch einen Berg hinunter über zwei Kreuzungen und schon war man in Little Italy. Das Kaufhaus befand sich auf halber Höhe eines großen Boulevards. Nachdem Stevenson seinen Fahrgast dort abgeliefert hatte, machte er eine kleine Pause. Er zündete sich eine Zigarette an und aß ein Brötchen. Seine Gedanken schweiften ab. In den zwanziger Jahren hatten viele Leute Arbeit gehabt. Doch das Geld für ein Auto musste man sich entweder leihen, oder über einen gewissen Zeitraum zusammensparen. Viele hatten es auch auf Pump gekauft und waren es nun wieder losgeworden. Tryonee Harbour hatte Investitionen in sein Straßennetz über viele Jahre aufgeschoben. Die Stadt verfügte weder über eine S-Bahn, noch über eine Straßenbahn. Neben dem Taxi waren Busse die einzige Alternative. Oder man besaß ein Fahrrad.

    Fahrgäste hatte Stevenson trotz der großen Konkurrenz immer reichlich gehabt. Nun, da das angesparte Vermögen vieler Menschen zu Staub zerfallen war, musste man die Anschaffung eines Autos verschieben. Gut für Taxifahrer wie ihn. Und dennoch war ein nachhaltiger Wandel im Gange. Die Krise bremste diesen Wandel zwar, aber sie hielt ihn nicht auf. In ein paar Jahren würden die meisten Menschen ein eigenes Auto besitzen. Dann würden viele der Taxifahrer aufgeben müssen. Die Zukunft für die Branche sah für den aufmerksamen Beobachter nicht rosig aus. Um diesen Wandel finanziell zu überstehen, hätte er vielleicht doch etwas von dem Geld auf die Seite legen sollen.

    Während er so nachgrübelte, wurde die Scheibe seiner Fahrertür durchbrochen und etwas Dumpfes landete auf seinem Kopf. Scherben flogen ihm um die Ohren. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Sogleich wurde die Fahrertür aufgerissen. Eine Hand, hart wie Stahl, packte ihn am Genick und zerrte ihn aus seinem Auto heraus.

    „Haben wir dich endlich gefunden, du Ratte. Wir werden dir jetzt eine kleine Lektion erteilen, damit du es nicht wieder vergisst."

    Stevenson saß mit einer kalten Hand im Genick auf der Straße, und musste mit ansehen, wie zwei Typen mit Baseballschlägern auf sein Taxi einschlugen. Die Karosserie wurde verbeult, Scheiben zerschlagen. Ein Dritter hielt ihn am Boden und so musste er mit ansehen, wie mit Messern auf die schönen Lederbezüge eingestochen wurde. Nach mehreren Minuten war das Taxi völlig demoliert. Doch jetzt trieben sie die Zerstörung erst auf die Spitze. Sie gossen Benzin ins Innere des Autos und zündeten es an. Das Taxi, in welches Stevenson so viel Geld gesteckt hatte, war ihm unwiederbringlich genommen worden. Tiefschwarzer Rauch stieg empor, die Reifen platzten und die Flammen vernichteten das Innere in Sekunden. Wehleidig blickte er ins Feuer und tiefe Traurigkeit erfüllte ihn. Doch es blieb keine Zeit für Abschiedstränen. Denn er spürte den Lauf einer Waffe an der Schläfe. Erniedrigende Sprüche musste er sich anhören, es wurde ihm vor die Füße gespuckt, und immer wieder lachten sie gehässig. Es machte ihnen offenbar Spaß, die Existenzgrundlage von wehrlosen Menschen zu zerstören.

    „Was für ein Glück, das wir uns dein Kennzeichen notiert haben. Sonst wäre es nicht leicht gewesen, dich zu finden. Wie hättest du es denn gern? Sollen wir dich schnell und schmerzlos erschießen, oder sollen dir meine Kollegen mit den Schlägern die Fresse polieren? Da hättest du allerdings eine geringe Überlebenschance…" 

    Der Typ mit der Waffe hatte den Satz nicht zu Ende sprechen können, denn Stevenson war blitzschnell herumgefahren und trat ihm in der Drehung mit aller Kraft in die Beine. Der wurde zu Boden geworfen, und noch ehe seine beiden Kumpane reagieren konnten, war Stevenson auf der Flucht. Er rannte so schnell er konnte auf die andere Straßenseite und ging hinter einer Telefonzelle in Deckung.

    Als er den Ruf vernahm:

    „Macht den Bastard kalt!"

    rannte er weiter. Er bog in einen Hinterhof, um die Deckung zu sichern und sah sich um. Gab es hier irgendwas, mit dem er sich bewaffnen konnte? Eine Schaufel, eine Eisenstange oder etwas in der Art? Und selbst wenn: drei Typen konnte er nie in Schach halten. Also stieg er eine Feuertreppe hinauf. Schon waren die Kerle wieder hinter ihm und auch auf der Leiter. Dann knallten drei Schüsse. Keiner davon traf ihn. Oben auf dem Dach gab es keinen Ausweg mehr. Aber Stevenson wurde vom Mut der Verzweiflung getrieben. Er rannte auf die andere Seite des Flachdaches und hangelte sich an der Dachrinne hinunter.

    Dass er sich dabei fast zwanzig Meter über dem Boden befand, interessierte ihn herzlich wenig. Hauptsache Abstand zu diesen Kerlen gewinnen, die hinter ihm her waren. Nachdem wieder drei Schüsse abgegeben wurden, die ihn nur knapp verfehlten, teilten sich die Verfolger auf.

    Zwei rannten die Feuerleiter wieder hinunter und ein anderer tat es ihm gleich und kletterte die Fassade des Hauses an der Dachrinne nach unten. Stevenson hatte schon wieder sicheren Boden unter den Füßen und warf mit einem Stein nach seinem Verfolger. Es machte den nur noch wütender. Er rutschte jetzt schon die Rinne herunter, also rannte er weiter. Seine Hände waren schmutzig, aufgerissen und blutig von dieser waghalsigen Kletterei.

    Aber das machte ihm, um sein Leben rennend, kaum etwas aus. Er wollte nur weg. In eine Seitenstraße, wieder in einen Hinterhof, dann durch einen Hauseingang in einen weiteren Hof. Dann kletterte er über ein Tor, rannte durch eine Werkstatt, eine Treppe rauf, eine andere wieder runter.

    Dann wieder durch einen Hauseingang über einen Zaun, und durch eine weitere Einfahrt wieder auf die Straße. Die Verfolger zeigten sich hartnäckig und waren offenbar fest entschlossen, ihn zu töten. Er war völlig außer Atem, aber er rannte weiter. Sansones Bar versprach eine Zuflucht vor diesen Gangstern. Diese lag zwei Häuser weiter, auf der anderen Straßenseite. Der Anblick von Sansone und seinen Leuten war verlockender, als ein Baseballschläger auf dem Kopf. Stevenson nahm alle Kraftreserven noch einmal zusammen und rannte wie angestochen über die belebte Straße. Wieder schallten Schüsse, aber auch diese verfehlten ihn. Mit einem letzten großen Sprung war Stevenson an der Tür und rettete sich in die Bar.

    „Helft mir, ich werde verfolgt!" 

    Ziemlich ratlos standen die drei Männer vor Sansones Bar und wussten nicht, was sie machen sollten. Sie schauten durchs Fenster, entdeckten ihr Opfer aber nicht. Sollten sie reingehen, in das Maul des Feindes, in die Sperrzone, oder sollten sie diese territoriale Verletzung besser sein lassen?

    Nun wurde hin und her diskutiert. Man entschied sich für einen Kompromiss. Einer ging rein, um nach dem Rechten sehen und die beiden anderen warteten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der mit der Waffe betrat die Bar und schloss die Tür. Hinter ihr stand ein Mann, der ihm mit einem Schlagring so derb eine über den Kopf gab, dass er bewusstlos zu Boden sackte. Ihn ließ man später brutal foltern und anschließend verschwinden. Die beiden anderen wurden unruhig. Sie hatten keine Schüsse gehört, getrauten sich aber auch nicht in die Bar. Was war mit dem Kumpan passiert? Wenn sie das gewusst hätten, hätten sie sofort die Flucht ergriffen. Das Restaurant schloss etwas zeitiger als sonst…

    Sansones Bar war ein angenehmes Lokal. Es lag an einer voll befahrenen Hauptstraße in Little Italy ganz in der Nähe des großen Einkaufstempels. Herzstück war natürlich der Speiseraum, mit Bar, Tischen und Stühlen möbliert.

    Eingeweihte konnten hier trotz der Prohibition unter der Hand alkoholische Getränke kaufen. Damit machte Sansone ein Vermögen, denn Alkohol war nach wie vor bei vielen Amerikanern ein ständiger Begleiter. Man konnte sich aber auch italienisches Essen bestellen und im großen Speisesaal gemütlich seine Zigarette rauchen, während man Zeitung las. An der Bar befand sich ein Telefon. Der Raum besaß eine kühle Eleganz und fasste etwa 50 bis 60 Personen.

    Durch eine Tür hinter der Bar gelangte man in die Küche, durch die man direkt im

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