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Die Muschel von Sant Josep
Die Muschel von Sant Josep
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eBook314 Seiten4 Stunden

Die Muschel von Sant Josep

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Über dieses E-Book

Das Leben spielt mit Marlene Roulette. Die aufkeimende Liebe zwischen ihr und Victor scheint keine Zukunft zu haben. In ihrem emotionalen Tief lernt sie Jan kennen, der ihr alles bietet, was sie sich von einem Mann erhofft. Doch zwei furchtbare Schicksalsschläge stellen ihre Beziehung auf eine harte Probe. Zu alledem erfährt Marlene zufälligerweise von einem Mord, der sie tief erschüttert. Welche Rolle spielt dabei ein geheimnisvoller Fremder?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum25. Jan. 2021
ISBN9783753153766
Die Muschel von Sant Josep

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    Buchvorschau

    Die Muschel von Sant Josep - Karin Firlus

    cover.jpg

    Copyright: © Karin Firlus / November 2020

    Verlag: epubli GmbH, Berlin / www.epubli.de

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Cover und Umschlaggestaltung sind urheberrechtlich geschützt. Die Benutzung dieser Bilder ist nur mit schriftlicher Erlaubnis von Dr. Maria Winter gestattet, bei der alle Rechte liegen.

    Cover und Umschlaggestaltung: www.winter-design.eu

    Karin Firlus

    DIE MUSCHEL VON SANT JOSEP

    PROLOG

    Speyer, im Mai

    Sie hatten bereits zwei Viertel Riesling intus, als Silvia Marlene leicht in die Rippen stieß. „Schau mal da vorne: Madame Soraya – Lassen Sie sich Ihre Zukunft aus der Hand lesen!"

       Marlene sah zu dem dunkelblauen Zelt weiter vorne, das sich in seiner Schlichtheit von den grellbunten, marktschreierischen Buden der Kirmes abhob. „Glaubst du etwa an so etwas?"

       Ihre Studienkollegin zuckte mit den Schultern. „Irgendwie würde es mich schon reizen."

       Sie gingen ein Stück weiter. Am Süßwarenstand gegenüber dem blauen Zelt kauften sie sich spontan Mohrenköpfe. Marlene biss genüsslich in die weiche Eischneemasse mit Schokolade und Kokosraspeln. Sie stöhnte wohlig.

       Als sie sich umdrehte, stand vor dem blauen Zelt eine zierliche Frau mittleren Alters: schwarze, kurze Haare, schwarze Leinenhose mit lässiger weißer Bluse. Von ihren Ohren baumelten große, goldene Kreolen. Sie sah Marlene direkt in die Augen, dann nickte sie.  „Bitte kommen Sie!" Mit einer einladenden Handbewegung schob sie den Vorhang aus blauen und silbernen Glitzerteilchen zur Seite.

       Marlene starrte sie verblüfft an. „Meinen Sie mich?"

       Die Frau nickte. „Treten Sie ein."

       Marlene tat einen Schritt auf sie zu, dann sah sie verunsichert zu Silvia.

       Sie zuckte mit den Schultern. „Na los, vielleicht wird’s ja ganz lustig."

       Marlene stopfte den Rest ihres Mohrenkopfes in den Mund. Wie hypnotisiert bewegte sie sich auf den Zelteingang zu und schritt hindurch. Sylvia folgte ihr dicht auf den Fersen. Die Frau beachtete sie nicht, sie sah unverwandt Marlene an.

    Drinnen war es überraschend angenehm; etwas kühler als draußen, ein leichtes Aroma von Räucherstäbchen wehte ihr um die Nase. War das Rosenduft? Von irgendwoher tönten sanfte Mandolinenklänge durch den abgedunkelten Raum. In der Mitte stand ein einfacher Holztisch mit Stühlen, eine hohe, türkisfarbene Kerze verströmte schwaches Licht.

       Die Frau bot ihren Besucherinnen die beiden Stühle vor dem Tisch an, sie setzte sich auf den Schemel dahinter und musterte wieder Marlene. „Geben Sie mir Ihre linke Hand, bitte."

       Sie streckte sie aus und leckte automatisch die aufgeweichte Schokolade von ihrer rechten Handinnenfläche, in der sie den Mohrenkopf gehalten hatte. Verschämt wischte sie dann die Hand an ihrer Jeans ab.

       „Sie hatten eine behütete Kindheit und bisher hat das Leben Ihnen noch keine Prüfungen auferlegt."

       ‚Stimmt‘, dachte Marlene, aber einer jungen Frau so etwas zu erzählen und damit recht zu behalten, barg eine Trefferquote von etwa neunzig Prozent.

       „In letzter Zeit hatten Sie viel Arbeit und manchen Ärger … eine Belastungsprobe steht kurz bevor und der bisherige Lebensabschnitt geht zu Ende."

       Die beiden Frauen sahen sich verwundert an; Marlene würde in drei Tagen ihr zweites Staatsexamen ablegen.

       Die Frau schob die Kerze etwas näher heran und kniff die Augen zusammen. „Es steht eine komplette Veränderung in Ihrem Leben an."

       Klar, nach einer Prüfung begann man meist zu arbeiten, dadurch änderte sich das Leben. Noch während sie überlegte, dass es Schwachsinn war, der Frau weiter zuzuhören, ließ sich deren sonore Stimme wieder vernehmen.

       „Sie erleben zwei große Enttäuschungen, die sich aber letztendlich als Glücksfall für Sie erweisen werden."

       Marlene sah feixend zu Silvia, die mit ernstem Gesicht dasaß und die Frau musterte.

       „Ich sehe drei Männer, einen verschwommen." Sie stutzte und ihr Blick umwölkte sich. „Da sind Tod und Trauer. Sie werden stark sein müssen.

    …Aber ich sehe auch Liebe, eine große Liebe. Werfen Sie sie nicht achtlos weg … und haben Sie Vertrauen!" Damit sah sie ernst auf und gab Marlenes Hand frei.

       Sie hatte den Worten mit angehaltenem Atem gelauscht, jetzt stieß sie die Luft aus. „Das alles wollen Sie in meiner Hand gesehen haben? Das ist ja lächerlich! Mit hochrotem Kopf sprang sie auf. „Was bin ich Ihnen schuldig?

       Die Frau bedachte sie mit einem unergründlichen Blick. „Es steht Ihnen frei, etwas zu geben oder nicht."

       Marlene zog ihren Geldbeutel aus der Gesäßtasche ihrer Jeans, griff hinein und warf einen Zwanziger auf den Tisch. „Das dürfte ja wohl reichen!" Mit zusammengekniffenen Lippen drehte sie sich um und eilte aus dem Zelt. Das Gebimmel des Glasperlenvorhangs klang hohl in ihren Ohren. Sie lief ein paar Schritte, dann blieb sie stehen.

       Silvia kam hinter ihr hergerannt. „Warum bist du denn so plötzlich abgehauen? Sie hätte mir doch auch noch aus der Hand lesen können!"

       Marlenes braune Augen blitzten sie wütend an. „Bitte, wenn du Lust auf solch einen Mist hast, dann geh doch rein und lass dir was vorfaseln!" Sie war völlig außer Atem, ihr Herz raste und sie schwitzte. Sie schluckte krampfhaft. Tod, Trauer, die große Liebe – was dachte sich diese Frau nur dabei, so etwas von sich zu geben?

       Das Donnergrollen, das immer näherkam, trieb sie vorwärts. Mit großen Schritten strebte sie der Treppe zu, die vom Messplatz, wo die Kirmes stattfand, nach oben zur Straße führte. Weiter vorne ragte der Speyerer Dom hinter mächtigen Bäumen majestätisch in den nachtblauen Himmel, an dem sich bedrohlich wirkende Wolken türmten.

       „Jetzt renn doch nicht so, verdammt! Silvia keuchte hinter ihr her. „Was ist denn plötzlich los mit dir? Du hast das doch nicht etwa geglaubt, oder?

       Abrupt blieb Marlene stehen. „Diesen Müll? Ich bin doch nicht bekloppt! Aber ich finde es unverantwortlich, wildfremden Leuten etwas von Tod und Trauer zu erzählen. Es gibt nämlich bestimmt irgendwelche Sensibelchen, die an diesen Unsinn glauben." Sie stapfte die Treppe hoch.

       „Wohin willst du denn? Doch nicht etwa schon nach Hause? Es ist erst halb zwölf!"

       „Das ist mir egal, mir ist die Lust am Spaß vergangen!" Im Laufschritt überquerte sie die Straße und blieb neben der Bushaltestelle stehen. Ein Blick zur Uhr sagte ihr, dass der letzte Shuttlebus gleich kommen müsste.

       „Spaßbremse!", murmelte Silvia.

       Obwohl sie sich dagegen wehrte, war Marlene während der letzten Minuten im Geiste die Menschen durchgehechelt, die ihr etwas bedeuteten: ihre Eltern, ihre Schwester, ihr Freund Tom. Sie wollte nicht, dass einem von ihnen etwas zustieß. Seltsam, die Frau hatte Silvia überhaupt nicht beachtet. Wieso dachte sie überhaupt über das Ganze nach?

       Silvia schüttelte den Kopf. „Aber irgendwie war es schon eigenartig, was die Frau sagte. Sie kann zum Beispiel nichts von deiner Prüfung am Montag wissen, aber sie klang so, als sei sie von dem überzeugt, was sie sagte."

       „Das ist alles einstudiertes Gehabe!, widersprach Marlene, während sich ein ungutes Gefühl in ihrem Magen ausbreitete und eine innere Stimme flüsterte: „Und wenn es doch stimmt?

       Der erste Blitz zuckte über den Messplatz, als der Bus vor ihnen hielt. Unwillkürlich musste sie auf der Heimfahrt an eine Bekannte ihrer Mutter denken, die der Esoterik sehr zugetan war, an Reinkarnation glaubte und sogar schon ein Rückführungserlebnis hatte. Angeblich war sie im Mittelalter als Hexe auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden. Allerdings ließ sich dies an keinerlei Dokumenten nachweisen.

    NEUBEGINN

    Kapitel 1

    Neustadt, Ende Mai

    Es war geschafft! Die Referendarzeit mit all ihrem Stress, der Unsicherheit als Anfängerin und der verfluchten Planung jeder einzelnen Unterrichtsminute sowie alle Prüfungen lagen hinter ihr. Heute Morgen war die letzte mündliche gewesen: Sie hatte endlich ihr zweites Staatsexamen in der Tasche!

       Wie mechanisch ging sie zum Schreibtisch, stellte ihre Aktentasche daneben und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Ich, Marlene Hofmann, bin jetzt eine echte Studienassessorin fürs Gymnasium! Gedankenverloren strich sie über die Platte des Schreibtisches.

       Sie liebte dieses alte Teil. Ihr Großvater hatte früher davor gesessen und mit konzentriertem Gesicht und entrücktem Blick seine Linien und Striche mittels Lineal mit Bleistift dünn auf Leinwand aufgetragen; Berechnungen für irgendein historisches Gebäude oder eine Kirche, die er danach auf seiner Staffelei mit Aquarellfarben täuschend echt zum Leben erweckte. Die Platte war zerkratzt, hatte unter der ledernen Schreibtischunterlage einen großen dunkelblauen Tintenfleck, Relikt aus einem unbedachten Moment.

       Seitdem sie angefangen hatte zu studieren, hatte sie ihn benutzt, denn ihr Großvater malte nur noch selten. Der Schreibtisch war inzwischen ihr verlängerter Arm, Kriegsschauplatz durchnächtigter Paukerei auf Prüfungen; das vertraute, dunkelbraune Holz, das geduldig und vertrauensvoll alles trug, was man ihm aufbürdete: Wörterbücher mit französischen Vokabeln; seitenweise spanische Texte; Essays, Referate und Abläufe von Schulstunden, minutiös geplant; Wälzer, in denen die wichtigsten Daten der europäischen Geschichte für immer festgeschrieben waren.

    Seufzend stand sie auf, zog auf dem Weg ins Schlafzimmer den neuen schwarzen Blazer aus – und stutzte. Leises Stöhnen. Sie hörte konzentriert hin: lang gezogenes Stöhnen, lauter jetzt. Dann überraschtes Aufkeuchen.

       Eine Ahnung erfasste sie. Das konnte nicht sein.

       Sie schlich weiter in Richtung Schlafzimmer und spähte vorsichtig hinein. Das Bett war leer. Im Wohnzimmer war auch niemand. Auf dem Weg zur Küche wieder dieses wohlige Stöhnen. Es wurde lauter.

    Auf dem alten fleckigen Tisch, auf der Wachstuchdecke, hockte sie, die Hände nach hinten aufgestützt, den Kopf im Nacken, die Beine gespreizt. Er stand vor ihr, die heruntergelassenen Jeans um die Waden schlotternd, umfasste er ihre Hüften und stieß in sie hinein.

       Wenigstens hatten sie zuvor den Tisch abgeräumt; fein säuberlich standen Teller und Tassen neben dem Spülbecken. Sie bemerkten sie nicht.

       Marlene stand in der Tür und beobachtete dieses Geschiebe, hörte das wohlige Stöhnen, jetzt auch sein abgehacktes Grunzen. Hatte er bei ihr auch so geklungen? Innerlich ganz ruhig und seltsam distanziert sah sie zu, so als habe das Ganze nichts mit ihr zu tun, so als sei dies nicht ihre Studienkollegin Silvia, mit der sie drei Tage zuvor noch fröhlich auf der Kirmes in Speyer gewesen war. Und Tom, ihr Freund, mit dem sie seit über zwei Jahren Wohnung, Tisch und Bett, Sorgen, Freude, Essen, Leidenschaft und Träume teilte; dem sie alles anvertraute, dem sie getraut hatte; jeder, nur nicht er; den sie bereits als potenziellen Vater ihrer Kinder gesehen hatte.

    Nach einer gewissen Zeit – wie lange sie dort gestanden hatte, wusste sie nicht – löste sich ihre Starre. Sie drehte sich um, die Flasche mit dem lauwarmen Champagner noch in der Hand, und schlug im Hinausgehen kräftig die Küchentür hinter sich zu. Wie in Trance ging sie ins Arbeitszimmer, schloss hinter sich ab und sank auf ihren Schreibtischstuhl.

       Und was jetzt? Fühlte es sich so an, wenn eine Liebesbeziehung, die man für völlig unproblematisch und selbstverständlich gehalten hatte, von einer Sekunde auf die andere nicht mehr existierte? Wenn die Zukunft, zuvor in schillernden Farben glänzend, plötzlich trist vor einem lag?

       Die starre Leere in ihr wandelte sich ganz allmählich in eine dunkle Schwere, die sie in den Boden hineinzog, die die Enttäuschung, den Schmerz und den Frust tausender Frauen zu enthalten schien, die auch solch eine Situation erlebt hatten. Das nannte man . Flagrante delicto, der lateinische Ausdruck in irgendeinem Kodex aus dem sechsten Jahrhundert, bedeutete, jemanden auf frischer Tat zu ertappen.

       Wie reagierten andere Frauen in dieser Situation? Schrien sie: „Du Dreckschwein! Raus hier, sofort, alle beide!? Packten sie seinen Koffer und stellten ihn vor die Tür, mit ausgestrecktem Arm und steinernem Gesicht? „Verschwinde, ich will dich nie wieder sehen!

       Oder brachen sie in verzweifeltes Schluchzen aus. „Warum nur, Tom? Warum? Die Klinke der Tür, die von außen heruntergedrückt wurde, und das anschließende polternde Klopfen rissen sie aus diesen Überlegungen. Zumindest Tom entsprach dem Klischee: „Marlene, ich weiß, dass du da drin bist! Bitte lass‘ uns reden, das ist alles ein Missverständnis!

          ~~~

    Sie lag zu Hause auf dem schmalen Bett in ihrem Jugendzimmer, die Vorhänge zugezogen, damit die fröhliche Maisonne, die lebenslustig den kommenden Sommer verkündete, nicht ihren Schmerz stören würde.

       Oh ja, inzwischen tat es weh! Die Erkenntnis, dass sie von Tom und Silvia betrogen worden, dass der Mensch, dem sie seit langem am nächsten gestanden hatte, plötzlich nicht mehr an ihrer Seite war.

       Die Leichtigkeit, die Gewissheit, dass der andere die Erweiterung, die Ergänzung ihrer Welt, Hoffnungen und Träume war, sie war der verzweifelten, spröden Erkenntnis gewichen, dass ihr Vertrauen missbraucht worden war, dass ein Teil ihrer Selbst einfach von einem Moment auf den anderen gewaltsam aus ihr herausgerissen wurde.

       Sie waren nicht mehr Tom und Marlene. Er, der Jurastudent im zwölften Semester, der in etwa einem Jahr sein Examen machen würde, der Rechtsanwalt werden und Menschen in Not helfen wollte; und Marlene, Studentin fürs Lehramt an Gymnasien, seit einigen Stunden frisch gebackene Lehrkraft für Französisch, Spanisch und Geschichte, die just an diesem Tag ihre Lehrproben und anschließend die mündliche Prüfung mit 1,5 bestanden hatte. Die in ein paar Wochen, wenn das neue Schuljahr beginnen würde, an irgendeinem Gymnasium mit Leidenschaft und Engagement Schülern diversen Alters ihre Kenntnisse und die Freude am Lernen vermitteln wollte, bis sie ein paar Jahre später – inzwischen in einer größeren Wohnung und verheiratet mit Tom – in Mutterschutz gehen und danach nur noch in Teilzeit unterrichten würde, weil sie sich um die gemeinsamen Kinder kümmerte.

       Nein, jetzt war sie nur noch Marlene Hofmann, geborene Hofmann, die im August als siebenundzwanzigjährige unerfahrene Lehrerin, nach acht Semestern Studium in Mannheim, einem Auslandssemester in Tours an der Loire und einem in Madrid, vor Klassen von dreißig pubertierenden Schülern stehen würde, mit dem vergeblichen Versuch, ihnen etwas in die Köpfe zu hauen, was sie absolut nicht interessierte, danach frustriert nach Hause ging und sich an ihren Schreibtisch setzte, um den Unterricht vorzubereiten und Tests, HÜs und Klassenarbeiten zu korrigieren.

       Eine, die keinen abgekriegt hatte und in ihren Ferien Studienreisen unternehmen würde, weil sie so wenigstens Anschluss an andere hätte. An andere Alleinstehende, die so wie sie vorgeben würden, mit ihrem Singledasein ganz zufrieden zu sein, aber innerlich immer mehr vereinsamten und sich danach verzehrten, einen Menschen an ihrer Seite zu haben, der sie lieben würde und dem sie ihre Liebe schenken konnten.

    Sie stierte an die Decke. Der braune runde Fleck, der über der Lampe die weiße Zimmerdecke verunstaltete, war immer noch da. Eine Fliege krabbelte gemächlich die Decke entlang, wich winzigen Unebenheiten aus, die von hier unten mit bloßem Auge nicht zu erkennen waren, auf der Suche nach – ja, wonach suchten Fliegen?

       Wenn sie darauf gewartet hätte, bis Sabine und Andreas ihre mündlichen Prüfungen absolviert hatten und sie wären noch zusammen einen Kaffee trinken gegangen und hätten ihre Erfahrungen ausgetauscht, wäre sie etwa zwei Stunden später heimgekommen. Sie hätte die Aktentasche abgestellt, ihren Blazer ausgezogen und aufs Bett gelegt. Dann wäre sie in die Küche gegangen, um den Champagner kalt zu stellen, den sie abends zusammen mit Tom geleert hätte, bevor sie im Schlafzimmer mit fröhlichem Sex ihr bestandenes Examen gefeiert hätten. Die Küche wäre leer gewesen, Silvia schon gegangen, Tom hätte geduscht gehabt, vielleicht das Geschirr gespült, den Küchentisch abgewischt – das hätte er doch sicherlich getan, nachdem sie -?

       Sie setzte sich abrupt auf. War Silvia schon öfter in der Wohnung gewesen, wenn Marlene nicht dort war, und hatte mit Tom Sex gehabt? Sollte sie ihn danach fragen? Silvia damit konfrontieren? Nein, entschied sie sofort. Sie würde kein einziges Wort mehr mit den beiden wechseln.

       Sie drehte sich zur Seite. Wäre es wirklich besser gewesen, wenn sie später heimgekommen wäre und die beiden nicht erwischt hätte? Nein, sagte sie sich, sie hätte ihm weiter vertraut, nicht ahnend, dass er sie betrog. Vielleicht gab es Frauen, die so etwas duldeten, aber Marlene gehörte nicht dazu. Eine Partnerschaft war immer ein Kompromiss, und sobald die erste Verliebtheit vorbei war, kam der Alltag. Aber das bedeutete nicht, dass sie es hinnehmen musste, wenn ihr Partner sie betrog.

    Als er an die Arbeitszimmertür gehämmert hatte, hatte sie geschwiegen. Nach mehreren Versuchen, sie dazu zu bewegen, mit ihm zu reden, hatte er aufgegeben. „Ich muss jetzt dringend los, in das Seminar über Wirtschaftsrecht, das ist wichtig. Aber danach komme ich zurück, dann reden wir und ich erkläre dir alles!"

       Sie hatte Schritte gehört, das Klackern des Schlüsselbundes, als er ihn vom Bord nahm, dann war die Tür ins Schloss gefallen. Er hatte sie nicht einmal gefragt, wie die Prüfung gelaufen war. Das war vielleicht das Schlimmste von allem.

       Und das letzte Bild von ihm, den nackten Hintern ihr zugewandt, während er in eine andere Frau hineinstieß und grunzte.

       Sie hatte noch einen Moment gewartet, dann hatte sie ihren Laptop und den Terminplaner vom Schreibtisch genommen, im Schlafzimmer einige Kleidungsstücke gepackt und ihre Kosmetikartikel lose in den Koffer geworfen, die Flasche lauwarmen Champagner obenauf. Dann war sie losgefahren, ohne Blick zurück, nach Speyer, in ihr Elternhaus, in ihr früheres Zimmer, das sie sechs Jahre zuvor verlassen hatte, für immer, wie sie damals dachte.

       Ihre Mutter hatte sie überrascht angesehen, als sie mit Gepäck vor der Tür stand. „Marlene, Kind, was ist denn los? Ich dachte, du feierst deine bestandene Prüfung."

       „Mit Tom und mir ist es aus! Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben!" Damit war sie die vertraute Treppe hochgerannt und hatte sich in ihrem Zimmer verkrochen.

    Jetzt war es später Abend. Es klopfte zögerlich. „Marlene, Schatz?" Ihr Vater.

       Sie rutschte vom Bett, tapste barfuß zur Tür und öffnete sie. Seine besorgten Augen sahen sie traurig an. Sie warf sich an seine Brust und schlang die Arme um ihn, während die Tränen, die sich seit dem Nachmittag in ihr aufgestaut hatten, aus ihr herausschossen, als hätten sich Schleusen geöffnet.

       Als sie sich etwas beruhigt hatte, sah sie zu ihm auf. „Paps, ich will nicht mehr in diese Wohnung zurück. Aber mein Schreibtisch, die Unterlagen, das neue Bett und die Winterklamotten -".

       „Sch, sch, wir kriegen das auf die Reihe. Ich kümmere mich darum!"

          ~~~

    Am nächsten Morgen wachte sie erst gegen elf auf, weil sie die halbe Nacht durchgeheult hatte. Der Schmerz saß tief, die Enttäuschung über Toms Verrat tat weh. Was Silvia dazu bewogen hatte, sich ausgerechnet an ihren Freund heranzumachen, war Marlene ein Rätsel. Sie hatte ihr vertraut, sie hatten miteinander für die Klausuren und Prüfungen gebüffelt; sie hatten Feten zusammen gefeiert. Da war auch Tom oft dabei. Hatten die beiden je miteinander geflirtet? Nicht dass sie wüsste.

       Sie hatte sich irgendwann aus dem Bett gequält und geduscht. Jetzt stand sie nackt vor dem Spiegel im Schlafzimmer ihrer Eltern und betrachtete sich kritisch.

       Lange, dunkelbraune Haare, die glatt bis zum Ansatz der Brüste herunterhingen. Rundes Gesicht, leicht römische Nase, zu schmal für ihren Geschmack; volle Lippen, die Mundwinkel heruntergezogen. Große, rehbraune Augen, die langen Wimpern dunkel. Zumindest das war ein Vorteil, so sparte sie das Geld für die Wimperntusche.

       Ihr Blick wanderte weiter. Die Brüste standen mehr oder weniger; naja, bei Größe 90C war der Sog nach unten nicht so stark. Der Bauch wölbte sich deutlich, sie hätte ihn sich flach gewünscht. Sie drehte sich zur Seite. Er war definitiv zu drall und um ihre Hüften hatten sich einige Polster angesetzt, die nicht dorthin gehörten. Die Oberschenkel waren kräftig, und natürlich hatte sie Cellulitis.

       Ich bin zu dick, dachte sie. Kein Wunder, dass Tom sich eine Schlanke gesucht hat. Silvia war ein schmales Handtuch im Vergleich zu ihr. Wieder sah sie sie auf dem Küchentisch, die dünnen rasierten Beine angewinkelt. Stopp! Sie hatte sich vorgenommen, dieses Bild aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Es tat nur weh.

    Sie stellte sich im Bad auf die alte Waage. Erschrocken wiederholte sie den Vorgang. Doch das Display zeigte wieder 65,1 an. Und das nüchtern! Bei 1,64 m und in ihrem Alter hätte sie bestimmt höchstens 55 Kilo wiegen sollen. Sie hatte deutliches Übergewicht. Das Referendariat war verdammt anstrengend gewesen, da waren Schokolade und Kekse ihre ständigen Begleiter, die berühmt-berüchtigte Nervennahrung eben.

       Frustriert schlüpfte sie in ihre Bluejeans und streifte ein blau-weiß-kariertes Hemd darüber, das lose über den Hüften hing. Dann band sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz und machte sich auf die Suche nach Frühstück. Ihre Mutter hatte den Kaffee in einer Thermoskanne warmgehalten, ein Zettel lehnte daran: Im Backofen stehen frische Waffeln!

       Als Marlene die Tür herunterklappte, stieg ihr ein köstlicher Duft nach Vanille und Zimt in die Nase. Eingedenk ihres Gewichts holte sie sich nur eine heraus. Als sie ein Messer in das Glas mit der Schokocreme eintauchen wollte, zog sie es wieder zurück. Zu viel Zucker und Fett, entschied sie.

       Mit der Tasse in der Rechten und der angebissenen Waffel in der Linken ging sie zum Küchenfenster und sah in den Garten hinaus. Ein leichter Nieselregen benetzte die Büsche und Bäume.

       Und wie sollte sie jetzt ihre Zeit totschlagen? Sie hatte das Gefühl, in einem absoluten Vakuum gelandet zu sein. Und irgendwie konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Nichts war mehr so wie zuvor. Naja, nicht ganz. Am folgenden Tag würde sie wieder in die Schule gehen müssen.

       Verdammt! Sie hatte alle Unterlagen in ihrer Wohnung und für den Unterricht in dieser Woche kaum etwas vorbereitet. Die Spanisch-AG ist kein Problem, dachte sie, da gehe ich in der Lektion weiter vor. Auch die Lerneinheit für die Siebte in Französisch habe ich im Griff. Aber die Doppelstunde in Geschichte für den Elfer Grundkurs am Donnerstag muss ich komplett vorbereiten. Das bedeutet, ich muss meine Unterlagen holen.

       Bei dem Gedanken, in die gemeinsame Wohnung mit Tom zurückgehen zu müssen, brach ihr der Schweiß aus. Ich kann das nur durchstehen, wenn ich ihn nicht noch einmal sehe. Wenn er mich mit seinen Hundeaugen anschmachtet und mich um Verzeihung bittet, werde ich schwach. Falls er mich dann noch anfasst, bin ich komplett verloren.

       Sie wischte die Tränen weg und trank ihren Kaffee aus. Zum hundertsten Mal seit dem vorigen Nachmittag fragte sie sich, warum er sie betrogen hatte. Und ausgerechnet mit Silvia! Die beiden hatten doch nichts gemeinsam. Was hat sie, was ich nicht habe? Was fehlt ihm bei mir? War ich ihm zu langweilig? Zu brav? Zu dick?

       Es war sinnlos. Was auch immer der Grund für seine Untreue gewesen war, sie konnte ihm das nicht verzeihen. Vor allem vertrauen konnte sie ihm nicht mehr.

       Sie sah auf ihre Uhr: kurz nach zwölf. Dienstags um diese Zeit war Tom in der Vorlesung. Sie konnte also jetzt sofort in die Wohnung fahren, ihre Unterlagen holen und gleich wieder verschwinden, er kam für gewöhnlich erst am späten Nachmittag nach Hause. Kurz entschlossen setzte sie sich ins Auto und fuhr nach Neustadt.

    Als sie vor dem Dreifamilienhaus ankam, in dem ihre Mietswohnung lag, klopfte ihr Herz bis zum Hals. Sie nahm

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