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Nicht ohne meine Schatulle
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eBook518 Seiten6 Stunden

Nicht ohne meine Schatulle

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Über dieses E-Book

Missbraucht, misshandelt und verschenkt.

Dieses schreckliche Geheimnis bewahrt Emma bis zu ihrem 77. Sommer wie einen Schatz. Dass der Mistkerl von Stiefvater mit seinen 94 Jahren noch immer nicht in der Hölle schmort, wohin er längst gehörte, ändert alles. St. Ägyd, ihr einstiger Ort des Grauens, streckt wie eine Krake seine Fänge nach ihr aus. Immer öfter taucht Emma in die Abgründe ihrer Seele hinab, dem Ruf der Geister der Vergangenheit folgend. Jetzt kann sie ihre Traumatisierung nicht mehr weglächeln oder darüber hinwegtäuschen.
Dann taucht auch noch ihr Bruder Fritz aus der Versenkung auf. Der Wunsch nach Rache eint sie.
"Wer mir wehtut, dem tu ich erst so richtig weh!", hatte sie sich als Mädchen geschworen. Zeit, dieses Versprechen endlich einzulösen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Apr. 2021
ISBN9783753184623
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    Buchvorschau

    Nicht ohne meine Schatulle - Barbara Schwarzl

    Prolog

    Mai 1956

    An einem prachtvollen Frühlingstag schwirrten Insekten um das bäuerliche Anwesen. Im tiefer gelegenen St. Ägyd läutete die Kirchenglocke zwölfmal. Bienen, Hummeln und farbenprächtige Schmetterlinge tummelten sich in der kniehohen Wiese vor dem Haus und naschten vom Nektar der Blumen. Vögel zwitscherten vergnügt. Eine zarte Brise verteilte eine wie aus einem geöffneten Flakon aufsteigende Duftwolke im Hof. Der vom Waldrand kommende Duft von Flieder und Holunder vermischte sich mit jenem der auf der Wiese blühenden Kirschbäume. Hühner liefen umher und pickten Grashalme und Körner auf.

    Die Idylle war trügerisch. Der zarte Blütenduft vermochte den Geruch, der vom Schweinestall her wehte, nicht zu überdecken. Geschrei ertönte aus dem Haus. Selbst die Hühner erschraken.

    Die winzigen, quadratischen Fenster des Bauernhauses standen offen. Trotzdem war die Luft in der Küche stickig und schwül. Selbst mitten am Tag drang nur wenig Licht hinein. Auf dem durchgetretenen Holzboden und auf dem Karomuster der ausgewaschenen Kleiderschürze der Bäuerin zeichnete sich ein schmaler Lichtkegel ab, während die abgewetzten Holzbänke um den großen Tisch und der Küchenschrank in der anderen Ecke im Halbdunkel lagen. Die Finsternis legte sich ebenso auf das Gemüt jedes einzelnen Bewohners.

    Im Ofen knisterte das Holz. Der Geruch frischen Brotes vermischte sich mit dem eines Eintopfs aus allem, was Grund und Boden hergaben. Die Bewohner träumten vom paradiesischen Schlaraffenland oder von einem Wunder. In den 1950er-Jahren waren manche Regionen Österreichs nach den Zerstörungen des schrecklichen, großen Krieges wiederaufgebaut worden, doch andere litten weiterhin bittere Not.

    „Wird´s bald, Saumensch? Hol den Vater!", herrschte die Bäuerin ihre dreizehnjährige Tochter an und rührte im verbeulten Blechtopf kräftig um, ohne innezuhalten.

    Das Mädchen erzürnte sie, weil es sich nicht sofort in Bewegung setzte. Die Bäuerin sah nach dem Brot im Ofen und wiederholte ihre Aufforderung. Ihr Tonfall ließ vermuten, dass sie während des Krieges eher eine Truppe befehligt als Kinder geboren und aufgezogen hatte. Die eisigen Blicke bohrten sich in das gepeinigte Innere des Mädchens.

    Damals hörte das Mädchen auf den Namen Erika. Später würde es diesen ablegen, um nicht mehr an seine grauenvolle Kindheit erinnert zu werden. Damals ahnte es nicht, dass es dazu mehr als einer Namensänderung bedurfte.

    Der Stiefvater, den Erika und ihr Bruder Fritz nicht Vater, sondern Hartmut nannten, wenn sie unter sich waren, schlief nebenan seinen Rausch aus. Erika graute vor seinen Ausdünstungen, einer Mischung aus altem Schweiß und Restalkohol, und seinen vulgären Sprüchen. Alkohol machte ihn unberechenbar. Deswegen wollte sie den unheilvollen Botendienst an ihren Bruder Fritz oder ihre Halbschwester Frieda abtreten.

    Die Mutter wehrte ab und schalt sie ein unnützes, blödes Ding. Als Erika sich noch immer nicht vom Fleck bewegte, traf sie unvermittelt ein schmutziges, nasses Tuch im Gesicht. Wasser tropfte auf ihre zerschlissene Kleidung. Ein beißend saurer Geruch stach ihr in die Nase. Die Beschimpfungen der Mutter gingen wie Gewehrsalven auf sie hernieder und brachten plötzlich ihre innere Festung zum Einsturz. Jeder Mensch, so stark er auch ist, erträgt nur ein gewisses Maß an Demütigungen. Irgendwann bringt etwas, manchmal etwas Unbedeutendes, das Fass zum Überlaufen.

    Erika kauerte am Boden und schrie die Mutter an: „Er tut mir weh! Er tut mir weh mit seinem Ding!"

    Kaum war es draußen, schalt sie sich wegen ihrer kindlichen Naivität. Wie dumm, ausgerechnet vonseiten der Mutter Hilfe zu erwarten! Sie war eine feige Mitwisserin und unternahm nichts. Absolut nichts. Sein Brunftschrei brachte die Mauern zum Beben. Nur ein Tauber, der gleichzeitig blind war, hätte nichts mitbekommen, so klein, wie das Haus war. Sie lebten zu fünft auf geschätzten sechzig Quadratmetern. Auf so engem Raum konnte niemandem etwas entgehen. Die Mutter duldete ihn trotzdem oder vielleicht gerade deshalb. Womöglich war sie froh, dass er nicht stockbesoffen über sie herfiel.

    „Halt dein gottverdammtes Maul, du undankbares Gör! Wehe dir, wenn du damit hausieren gehst! Ihre Drohungen unterstrich die Bäuerin mit einem heftigen Tritt. Dann schob sie sich eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte, aus dem Gesicht. „Jetzt mach endlich und deck den Tisch!, schrie sie und zog Erika an ihren blonden Zöpfen empor. Schmerzimpulse jagten durch den jungen und gar so gepeinigten Körper. Mit jedem von ihnen wuchs Erikas Entschlossenheit, dieser Hölle zu entfliehen und sich irgendwann zu rächen. Wer ihr wehtat, dem würde sie erst so richtig wehtun!

    1.

    Juli 2016

    Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel. Seit Wochen hatte es keinen einzigen Tropfen geregnet. Der Rasen, früher dicht und saftig grün, war braun und verdorrt. Stellenweise lugten Flecken von ausgetrockneter, rissiger Erde hervor. Fritz wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. In Mexiko oder irgendwo in Afrika konnte es auch nicht heißer sein. Seiner Frau Inge zuliebe deckte er den Tisch im abgedunkelten Esszimmer und nicht auf der Terrasse. Sie fand es drinnen angenehmer, denn unter der Markise stehe die Luft so erbärmlich, dass es ihr das Herz zuschnüre. Er war eine jämmerliche Gestalt, nicht Manns genug, sich vor seiner Frau zu behaupten. In diesem Moment wäre er gerne so wie seine Schwester Erika gewesen. Sonderbar, dass er sich ausgerechnet jetzt an sie erinnerte, obwohl sie sich vor Jahrzehnten zuletzt gesehen und seither keinen Kontakt gehabt hatten.

    Fritz faltete mit Rosen umrankte Servietten, resigniert darüber, dass es zu spät für Veränderungen war. Schließlich feierten sie heute ihren 45. Hochzeitstag, der nach so einer langen Zeit ein Tag wie jeder andere war. Er wusste nicht, ob er Inge liebte oder jemals geliebt hatte. Das spielte in seinem Alter keine Rolle mehr. Sie hatten mehr als ihr halbes Leben miteinander verbracht und waren aneinander gewöhnt. Er wollte nur, dass sie zufrieden war, nicht lamentierte und ihn in Frieden ließ. Dann ging es auch ihm einigermaßen gut.

    Als sie geheiratet hatten, hatte er kurz davorgestanden, ein Gasthaus in Rebendorf zu übernehmen, das mittlerweile sein Sohn Bernhard führte. Sicher hatte sie ihm damals gefallen. Welcher junge Mann hätte nicht eine halbwegs gut aussehende Frau begehrt? Außerdem war sie als Tochter des Metzgers eine passable Partie, konnte mit Leuten umgehen und passte gut an die Seite eines angehenden Wirtes. Die Rechnung ist aufgegangen, sonst hätten wir keine 45 Jahre miteinander verbracht, sinnierte Fritz, während er das edle Besteck, das sie nur zu besonderen Anlässen benutzten, auf die Tischsets legte.

    Im Alter konnten sie ihren Hochzeitstag geruhsam verbringen. Die ersten zehn Jahre war er als Wirt im Dauereinsatz gewesen. Erst danach hatten sie sich im Hochsommer zwei Wochen Betriebsurlaub gegönnt, weil um diese Zeit sowieso Flaute herrschte. Damals hatten sie Urlaube in Österreich verbracht, anfänglich noch mit ihren Kindern Birgit und Bernhard, später alleine. In den letzten Jahren hatten sie Busreisen ins benachbarte Ausland unternommen. Nur für dieses Jahr hatten sie wegen Inges Hüftoperation nichts geplant.

    Inge rief nach ihm.

    „Gleich! Muss nach dem Essen sehen!", antwortete er, während er vom Esszimmer, das ursprünglich einmal Bernhards Kinderzimmer gewesen war, in die Küche ging, aus der es herrlich nach Schweinsbraten duftete. Als gelernter Koch und Kellner hatte er alles im Griff. Drei Gänge mit allem Pipapo: Suppe, Hauptgang mit gemischtem Salat, der wegen der hohen Temperaturen leider schon zu welken begann, und eine Dessertkreation, die dem Menü die Krone aufsetzte. Er warf einen Blick auf das Bratenthermometer und die Bratkartoffeln.

    „Draußen hat es 34°C und du heizt das Haus mit dem Backrohr weiter auf! Inge stützte sich auf ihre Krücken und ließ ihren Blick durch die Küche schweifen. „Eine Schüssel Salat und belegte Brote hätten gereicht.

    „Soll ich anrichten?" Fritz fügte im Geiste hinzu, dass sich wenigstens das Essen an diesem Tag unterscheiden sollte.

    „Hol die Wäsche aus dem Keller. Mit diesen Dingern kann ich keinen Korb tragen", antwortete sie und wies mit ihrem Kopf nach unten, als ob er nicht wüsste, dass sie vor sieben Wochen an der rechten Hüfte operiert worden war und nur unter größter Anstrengung Stiegen steigen konnte. Genauso wenig brauchte sie ihn daran zu erinnern, dass Birgit heute nicht kommen konnte, um ihnen im Haushalt behilflich zu sein.

    „Hol die Wäsche aus dem Keller!", hallte es in seinem Kopf nach. Eine Nebensächlichkeit, die ihn mit voller Wucht in die Vergangenheit katapultierte. Ein scheinbar bedeutungsloser Satz, der sein Leben nachhaltig verändert hatte. Längst vergessen geglaubte Sequenzen blitzten vor seinem inneren Auge auf. Er erschauderte. Warum hatte er nicht längst die zwei kaputten Glühbirnen ausgetauscht? Die erste hatte er immer aufgeschoben, weil er den Keller mied wie die Pest. Blöderweise war eine zweite kaputtgegangen, weshalb es im Abgang nun stockfinster war. Die Vorstellung bereitete ihm kalte Schauer.

    Eine banale Bitte konnte in Sekundenschnelle eine Assoziationskette auslösen, Herzrasen, einen Schweißausbruch, ein Verkrampfen des Magens und in weiterer Folge eine Ehekrise.

    Fritz wischte sich hastig Schweißperlen von der Stirn. Er schob sich an Inge vorbei und schleppte sich zur Bar im Wohnzimmer. Inge beobachtete ihn mit Argusaugen, das spürte er in seinem Rücken. Sie folgte ihm und redete unaufhaltsam. Er erfasste nicht den Sinn ihrer Worte.

    Wie in Trance bewegte er sich durch die kalte Finsternis, in der Nase den Geruch von feuchter, modriger Erde, eingelagertem Gemüse, Äpfeln und Speck. Plötzlich war er wieder sechzehn. Erika war bei fremden Leuten in der Stadt. Hartmut reagierte sich fortan mit seinem Ledergürtel oder einem Stock an ihm ab. Einmal war er so mutig, zu fragen, was er angestellt habe. Dumme Frage, falsche Frage. Hartmut stieß ihn in den pechrabenschwarzen Kellerabgang und schrie ihn an, er solle seine Hose herunterlassen. Naiv, wie er war, dachte er, dass er Schläge auf den nackten Hintern bekäme. Aber anstelle des Leders verspürte er etwas Hartes. Alles verkrampfte sich in ihm. Er versuchte sich loszureißen, doch Hartmut drängte ihn an die kalte Mauer, sodass er nicht entkommen konnte, und stöhnte abartig dabei. Fritz schlug um sich. Tränen strömten aus seinen Augen. Auch wenn Hartmut sie gesehen hätte, hätten sie ihn niemals aufgehalten. Fritz schrie vor Schmerz, vor Abscheu und vor Angst. Zur Strafe, wie er sagte, schloss der Stiefvater hinter sich die Tür und ließ Fritz im fensterlosen, dunklen Keller zurück. Wie lange und als Strafe wofür, das wusste er nicht, noch weniger, warum es Wiederholungen gab. Seither hatte er panische Angst vor dunklen, engen Räumen.

    Mechanisch öffnete Fritz die Holzklappe der Bar und goss Schnaps in ein Glas. Er trank es ex, dann noch ein zweites. In Gedanken befand er sich im Keller seines Elternhauses. Er hob die Flasche ein weiteres Mal an, als er Inges Hand auf seiner verspürte.

    „Hör auf! Hör endlich auf damit! Sonst lasse ich mich scheiden. Hörst du?", schrie sie ihn an.

    „Scheidung? Wieso Scheidung?", stammelte er und verstand die Welt nicht mehr. Er stellte die Flasche ab und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an.

    „Ich habe genug von deiner Sauferei. Ich ertrage sie nicht mehr! Denk an deinen Diabetes! Wenn du nicht sofort einen Entzug machst – Hörst du? Sofort! –, ist es zu Ende!" Inge polterte mit ihren Krücken vor sich hin schimpfend in die Küche. Von draußen rief sie: „Und jetzt hol die verdammte Wäsche! Aber dalli!"

    Fritz starrte auf die Flasche in seiner Hand, unschlüssig, ob sie Freund oder Feind war. Seine Hände zitterten vor Aufregung und Angst. Warum sprach sie von Scheidung? Tickte sie richtig? Nach 45 verdammten Jahren wollte sie alles hinschmeißen?

    Fritz hatte ihr nie von seiner Traumatisierung erzählt. Das ging nur ihn etwas an. Was half Reden? Es war nicht mehr zu ändern. Sie hatten nie über sich oder ihre Gefühle gesprochen, immer nur über das Geschäft und die Kinder. Vermutlich hätte Inge ihn sowieso nicht verstanden. Gewiss hätte sie ihm die Schuld an allem gegeben oder darauf bestanden, dass er das längst überwunden haben müsste, so lange, wie das zurücklag. In ihren Augen war er ein Weichei. Deswegen passte grundloses Trinken gut ins Klischee.

    Fritz konnte und wollte sich nicht mehr daran erinnern, wie er es letztlich in den vermaledeiten Keller geschafft hatte. Auch nicht daran, wie das gemeinsame Mittagessen oder der restliche Tag verlaufen war. Er war mit den schrecklichen Erlebnissen beschäftigt, die mittlerweile Jahrzehnte zurücklagen. Inge wunderte sich, dass er sie mied wie der Teufel das Weihwasser. Er konnte und wollte noch immer nicht über seine Traumatisierung sprechen. Anfänglich schien sie sich an seinem Zusammenbruch zu ergötzen. Und dann tat er das, was dieses geschwätzige Weib am wenigsten ertrug: Er bestrafte sie damit, dass er sie anschwieg.

    Fritz verbrachte die folgenden Tage im Liegestuhl auf der Terrasse oder im Schatten der Bäume, in sich versunken oder vor sich hin dösend. Die Hitze dieses Sommers lähmte ihn. Er war gefangen in seinen Gedanken, die sich wie ein Karussell unaufhörlich im Kreis drehten.

    Er hatte zu viel Zeit zum Nachdenken, anders als früher. Am liebsten wäre er in sein Wirtshaus gegangen. Dort hätte er mit den Gästen geschwätzt, die eine oder andere Weißweinmischung getrunken und alles wäre gut gewesen. Aber Bernhard hatte ihm Hausverbot erteilt. Er fand, sein Vater passe nicht zu dem Erholung suchenden Schickimicki-Klientel, das aus der Stadt zu ihnen aufs Land kam. Von Fritz hatte er das geschwollene Gerede und großspurige Gehabe nicht. Sein Sohn hatte die schönen Holzmöbel und das Tafelgeschirr hinausgeworfen, die Belegschaft ausgetauscht und einen horrenden Kredit aufgenommen. Modernisierung, schön und gut. Bertl, der jetzt nur mehr Bernhard genannt werden wollte, nannte das einen Relaunch, neu designt, oder benutzte andere chinesisch klingende Begriffe. Die Speisekarte las sich wie in einer Fremdsprache. Und das gute alte Wirtshaus hieß jetzt „Schilchers, natürlich ohne Stammtisch für die Leute aus dem Dorf. Seine Arbeit, die er mit so viel Herzblut verrichtet hatte, wurde kritisiert und mit Füßen getreten. Und er wurde wie ein seniler, alter Tölpel nach Hause abgeschoben, wo sein Eheweib ein eisernes Regiment führte. Die Dorfbewohner sah Fritz bestenfalls beim Arzt, in der Apotheke oder beim Einkaufen. Dann jammerten sie ihm die Ohren voll und wollten wissen, warum er zugelassen habe, dass sein Sohn das Wohnzimmer des Dorfes für die hochnäsigen Städter dermaßen verändert hatte. „Unsereins ist nicht mehr erwünscht, sagten die Bauern, die in Arbeitskleidung zwischen Feld- und Stallarbeit rasch ein paar Besorgungen einschoben.

    Nur Inge fand alles großartig. „Die Gäste kommen wegen der innovativen Küche", hielt sie Kritikern stolz entgegen.

    Inge hatte recht. Er trank zu viel. Natürlich bekam das seiner Gesundheit nicht. Er war kein Trottel, auch wenn sie ihn gerne als solchen hinstellte. Der Alkohol vertrage sich nicht mit seinen Diabetesmedikamenten, hatte ihn Dr. Wimmer längst gewarnt, besonders im Hinblick auf die hohen Laborwerte seiner Leberenzyme. Auch wenn Inge das Gegenteil behauptete, war ihm seine Gesundheit nicht egal. Er war ein Gefangener seiner Ängste und Rituale.

    Seine verhängnisvolle Beziehung zum Alkohol hatte in seiner Lehrzeit beim Kirchenwirt begonnen, als er mehrmals täglich Vorräte aus dem finsteren Keller hatte holen müssen. Damals hatte er damit begonnen, seinen Geist mit Alkohol zu benebeln, um seine Botengänge ausführen zu können. In seinem eigenen Lokal hatte er für entsprechende Beleuchtung gesorgt. Als Notanker waren ihm Wein und Schnaps geblieben, wodurch sich seine Zunge löste. Seine Gäste hatten es ihm gedankt. Sie waren gerne bei ihm eingekehrt, lustig, wie er war. Das war gut fürs Geschäft. Komisch, dass sich Inge damals nicht beschwert hatte.

    Ein Adriatief brachte Erlösung für die Pflanzen und für Fritz. Er konnte wieder durchatmen. Seine Lethargie löste sich. Das Gedankenkarussell hielt an.

    2.

    Juni 2019

    Emma fröstelte, obwohl die Sonne alles zum Glühen brachte. Der Asphalt flimmerte. Die Klimaanlage war auf gefühlte sechzehn Grad eingestellt. Es hieß, es wäre der heißeste je aufgezeichnete Juni. Emma ahnte nicht, dass sie sich später aus ganz anderen Gründen an diesen Sommer erinnern würde. Dass sie bald in die tiefsten Abgründe ihrer Seele hinabtauchen würde, dem Ruf ihrer Geister der Vergangenheit folgend, bis sie endlich bereit sein würde zu handeln. Noch ahnte sie nichts davon und sie beobachtete aufmerksam das Geschehen rings um sich, so wie sie es immer tat: Jedes Detail wahrnehmend, immer auf der Hut.

    „Kinder aus der Gewalt der Eltern befreit", flimmerte die Schlagzeile über den Bildschirm der Straßenbahn der Linie 7, der die Fahrgäste mit den Schlagzeilen des Tages versorgte. Obwohl Emma diese Zwangsberieselung verabscheute, wurden ihre Augen magnetisch angezogen. Sie las weiter und bemerkte entsetzt, dass niemand angesichts der schrecklichen Meldung die Miene verzog. Gleichgültigkeit, Abgebrühtheit und egozentrisches Verhalten begegneten ihr erschreckenderweise vielerorts. Die Jüngeren tippten unaufhörlich auf ihren Smartphones herum. Die Welt könnte untergehen, sie wären live dabei, aber sie würden es verpassen. Bei jedem Piepser schreckte Emma auf. Plötzlich ertönte ein infernalisches Hupkonzert, begleitet von quietschenden Reifen. Ein Radfahrer hatte einen PKW waghalsig geschnitten. Die Straßenbahn zuckelte gemächlich weiter, spuckte Fahrgäste aus und verschluckte neue. Emma, gänzlich aufgewühlt von der Nachricht über die misshandelten Kinder, dachte darüber nach, dass die Eltern auf den Fahndungsfotos so normal wirkten und ihnen ihre Taten nicht anzusehen waren. Der nächste Gedanke galt einem Lehrer der Abendschule, der gerne darüber doziert hatte, was normal sei und wer die Norm bestimme.

    „Enorm, was sich seit dem Weinstein-Skandal tut. Selbst in Deutschland gibt es Stimmen zu Me Too", begann Frau Spitzer das Gespräch. Sie wies mit der Hand auf das neueste Exemplar der Regenbogenpresse, das auf dem Friseurpult lag, und befestigte einen blitzblauen Kleiderschutz in Emmas Nacken. Sie schaute sie erwartungsvoll im Spiegel an.

    Emma ließ ihre langen grauen Haare schwungvoll auf den Nylonumhang fallen und antwortete gedehnt: „Ist wie eine Gratiswerbekampagne."

    „Wie bitte?", entfuhr es der Friseurin ungewohnt scharf. Diese ungewöhnliche Antwort hatte sie völlig aus dem Konzept gebracht. Emma Wolf war eine ihrer ältesten Stammkundinnen. Sie wusste um ihre Eigenwilligkeit und ihre manchmal sonderbar anmutenden Ansichten. Aber diesmal stieß sie dem Fass den Boden aus.

    „Für die Betroffenen ist es furchtbar, keine Frage. Aber muss jeder x-beliebige Star, jedes noch so unbedeutende Sternchen seinen Senf dazu abgeben? Darüber zu sprechen scheint in zu sein, wirft ein gutes Licht auf sie, das Image wird poliert. Verstehen Sie?"

    Frau Spitzer wiegte unmerklich den Kopf. Nein, sie verstand nicht. Natürlich nicht.

    „Bei dieser ganzen Debatte vergessen wir die Frauen und Kinder, die zu Hause vergewaltigt und misshandelt werden, die nicht den Mut haben, aufzustehen und „me too zu sagen, weil es ihre Situation nur verschlimmern würde. Diese Menschen haben keine prominenten Fürsprecher. Es vergeht bald kein Tag ohne Zeitungsmeldung, meist nur als belanglose Randnotiz. Ich möchte nicht wissen, wie viele Fälle gar nicht publik werden. Der eine onaniert an einem stark frequentierten Radweg, der Nächste begrapscht ein Mädchen in der Straßenbahn und ein anderer zwingt einen Buben auf der Herrentoilette, sein Geschlechtsteil zu berühren. Schauen Sie nicht so! Alles Pressemeldungen der letzten Wochen. Und vorhin habe ich von Kindern gelesen, die über Jahre hinweg von ihren Eltern gefoltert wurden. Das werden sie nie verkraften, nie ein vernünftiges Leben führen können. Die Eltern gehören auf den elektrischen Stuhl oder noch besser am Stadtrand aufgehängt!, unterbrach Emma ihre Ausführungen, die Friseurin im Spiegel fixierend. Gewalt Kindern und Frauen gegenüber ertrug sie nicht. Ihre Emotionen gingen mit ihr durch. Anders konnte sie sich ihren Redeschwall nicht erklären.

    Frau Spitzer hatte es tatsächlich die Sprache verschlagen. Sie schaute ihre Kundin verunsichert an und fragte sich, ob diese jetzt komplett übergeschnappt war.

    Emma ließ sich von der verstummten Friseurin nicht irritieren. Sie lief in einem leidenschaftlichen Plädoyer für den Schutz von Kindern vor körperlicher, seelischer Gewalt und sexuellem Missbrauch zur Höchstform auf. Als sie wie ein Pfarrer von der Kanzel über Verderbtheit wetterte, hatte sie die Affäre Groer, die die Katholische Kirche in ihren Grundfesten erschüttert hatte, wieder deutlich vor Augen. „In einem Punkt gebe ich Ihnen recht, sagte sie und betrachtete das Spiegelbild der Friseurin, die ihren Mund nicht mehr zubekam. Offensichtlich hatte sie ihr zu viel zugemutet. „Wenn sogar prominente Frauen aus Hollywood oder der ganzen Welt aus Angst und Scham oft jahrzehntelang geschwiegen haben, können Sie sich vorstellen, wie viel Mut eine einfache Frau braucht, um sich gegen ihren Peiniger öffentlich zur Wehr zu setzen.

    „Möchten Sie einen Kaffee?", unterbrach Frau Spitzer plötzlich, weil ihr das Ganze zu weit ging und sie sich endlich an die Arbeit machen wollte. Frau Wolf hatte während ihrer enthusiastischen Rede so sehr mit dem Kopf gewackelt, dass es ihr unmöglich gewesen war, Hand anzulegen. In einer halben Stunde hatte sie einen Termin für eine Dauerwelle. Doch so wild, wie ihre Kundin gestikulierte, wagte sie nicht, sich ihr mit der Schere zu nähern.

    Emma lehnte, beleidigt darüber, unterbrochen worden zu sein, ab. Erst jetzt merkte sie, wie heftig ihr Herz klopfte. Dieses Thema brachte sie völlig unvorbereitet aus dem Gleichgewicht. Sie zog eine Gratiswochenzeitung unter den Klatschjournalen hervor und begann darin zu blättern.

    „Das ist leider nicht die Graz-Ausgabe", entschuldigte sich die Friseurin mit unsicherer Stimme.

    Emma machte eine beschwichtigende Handbewegung.

    Frau Spitzer setzte sich auf einen Hocker, steckte einen Großteil der Haare mit Klemmen hoch und begann die Spitzen der untersten Partie zu schneiden, entgegen ihrer Gewohnheit schweigend. Sie musste sich erst von Frau Wolfs Wort-Tsunami erholen.

    Emma blätterte währenddessen gelangweilt in der Zeitung und überflog die Überschriften. Sie war froh, dass Frau Spitzer verstummt war. Sie kam seit bald dreißig Jahren zu ihr, weil sie hingebungsvoll gegen ihren Spliss kämpfte und eine Meisterin der Hochsteckfrisuren war. Sie hatte bereits mit naturbelassenen Farben gefärbt, als noch kein Hahn danach gekräht hatte. Seit ungefähr zehn Jahren bekannte sich Emma zu ihrem naturgegebenen Friedhofsblond. Schließlich war sie bald siebenundsiebzig. Dieses reife Alter sollte wenigstens den Vorteil haben, dass sie sich diese Patzerei und das lange, untätige Herumsitzen sparen konnte.

    Plötzlich setzte Emmas Herz zu weiteren Galoppsprüngen an. Sie wollte die Zeitung geschwind zurückzulegen, aber sie fiel zu Boden.

    „Lassen Sie nur, sagte die Friseurin und bückte sich danach. Als sie sich aufrichtete, erschrak sie. „Mein Gott, Frau Wolf, was ist mit Ihnen? Sie sind so blass.

    „Vielleicht der Blutdruck."

    Die Friseurin holte ein Glas Wasser. Emma trank bedächtig. Allmählich zogen die Nebelschwaden ab. Es war nicht der Bericht über eine neu eröffnete Buschenschank gewesen, der sie aus dem Konzept gebracht hatte, sondern der Name eines Ortes, an den sie nie mehr zurückkehren wollte: Sankt Ägyd, ihr Ort des Grauens.

    Frau Spitzers Klipp und Klapp beruhigte sie wie ein Wiegenlied.

    Emma erholte sich von ihrem Schrecken auf einem ausgiebigen Spaziergang durch die wunderschöne Grazer Innenstadt. Sie fand es lächerlich, dass sie sich von einem Zeitungsartikel aus dem Gleichgewicht hatte bringen lassen. Sie hatte mit St. Ägyd nichts mehr zu schaffen. Das war aus und vorbei.

    Viele Geschäfte lockten mit den Angeboten eines vorgezogenen Sommerschlussverkaufs. Emma verbannte ihre Erinnerungsfetzen energisch in die hintersten Winkel ihres in Anbetracht ihres reifen Alters vorzüglich funktionierenden Gehirns. Darin war sie seit Jahrzehnten geübt und hatte ihre Methoden. Einkaufen zählte nur in Ausnahmefällen dazu.

    Sie schärfte ihre Sinne, suchte Zerstreuung in Boutiquen und fand zu ihrem sicheren Auftreten zurück. Kopf hoch, Brust heraus, lächeln. Es funktionierte. Die Leute lächelten zurück und musterten sie von Kopf bis Fuß. Von Frau Spitzer grandios frisiert, in ihrem im Stil der 1950er-Jahre selbst genähten, weiß getupften Kleid mit Dreiviertelärmeln genoss sie ihren Spaziergang durch die Altstadt und fühlte sich wie ein Model auf dem Laufsteg. Sie liebte es, das Schwingen des Rockes zu spüren. Was für ein Frevel, dass Frauen heutzutage ihre hübschen Beine in Jeans oder unter irgendwelchen billigen Fetzen versteckten, dachte sie. Eine gute Figur zu machen war ihr seit ihrer Teenagerzeit wichtig. „Fare bella figura", hätten die Italiener gesagt. Von diesem Grundsatz wollte sie auch in ihrem Alter nicht abrücken. Was sich hinter ihrer Fassade verbarg, ging niemanden etwas an.

    Emma erstand neben Büchern, einem Paar Schuhe und diversem Kleinkram Kleidungsstücke für den Alltag, die womöglich von Kindern in Fernost gefertigt worden waren. Natürlich war sie eine Gegnerin von Kinderarbeit. Gleichzeitig dachte sie daran, dass für ihre Generation in den Nachkriegsjahren niemand Partei ergriffen hatte. In den 1940ern und 1950ern war es normal gewesen, dass Kinder hart anpacken mussten, menschenunwürdig gehalten oder gar verschenkt wurden, zumindest dort, wo sie aufgewachsen war. In St. Ägyd, dem grauenvollsten Flecken auf Erden.

    Straßenlärm drang in das schwüle Innere des Gelenkbusses der Linie 33. Die Luft war zum Schneiden. Emma fächerte sich mit einem Tuch Luft zu. Rings um sie herrschte babylonisches Stimmengewirr. Endlich. Der Bus setzte sich in Bewegung. Plötzlich bremste der Busfahrer in der Umkehrschleife abrupt ab, weil ein Passant vom Gehsteig sprang.

    „Autsch!", entfuhr es dem etwa achtjährigen Mädchen, das neben Emma saß. Es richtete die Schultasche zu seinen Füßen auf.

    Emma fragte sich, woher sie das Mädchen kannte.

    „In der Schule hat mir ein Viertklässler das Bein gestellt und jetzt ist die Schultasche ans Schienbein gestoßen", erklärte die Kleine.

    „Du Arme. Wie dumm von dem Jungen."

    „Wieso?" Das Mädchen zog seine Stirn unmerklich in Falten.

    „Weil du es ihm eines Tages zurückzahlen könntest. Aber mit Zinsen, versteht sich."

    Die Kleine schien kurz zu überlegen. Dann lachte sie verschmitzt. Sie sagte, sie heiße Pia, und begann draufloszuplappern.

    „Kopf hoch, das wird schon wieder!", sagte Emma, als sie beide ausstiegen.

    „Was?"

    „Na, das mit deinem Bein. Besuch mich das nächste Mal im Pfarrcafé!", antwortete Emma.

    „Und du kaufst bei meinen Eltern ein", entgegnete das Mädchen geschäftstüchtig.

    Die Begegnung mit Pia zauberte Emma ein Lächeln ins Gesicht. Unweigerlich musste sie an ihre Enkelin Iris denken, die sie schmerzlich vermisste. In der nächsten Sekunde verfluchte sie ihren Shoppingwahn. Sie vergaß ständig, dass sie nicht mehr so kräftig wie in jungen Jahren war. Den fünfminütigen Weg von der Bushaltestelle nach Hause empfand sie mit den schweren Taschen als beschwerlich.

    Sie lebte seit ungefähr vierzig Jahren in diesem beschaulichen Viertel aus Einfamilienhäusern, das sukzessive von großen Siedlungen umbaut worden war. Emma genoss die Vorstadtidylle. Die schmucken Einfamilienhäuser befanden sich inmitten großzügiger Gärten, wie man sie sich heute aufgrund der hohen Grundstückspreise nicht mehr leisten konnte oder gar nicht mehr bekam. Das einheitliche Bild mit den spitz zulaufenden Giebeln veränderte sich zunehmend durch den Zuzug junger Familien, die die alten Häuser gründlich umbauten, vergrößerten oder gar durch hässliche Betonklötze, die sich Niedrigenergiehäuser nannten, ersetzten.

    Emma bog in ihre Gasse ein und freute sich, als sie ihr Haus erblickte. Das frische Brombeerrot blitzte ihr selbstbewusst entgegen. Es harmonierte mit den grauen Dachziegeln und den dunkelgrau lackierten Fensterläden. Als Theo und sie vor wenigen Jahren in eine moderne Wärmedämmung investiert hatten, hatte sich Emma mit der extravaganten Farbe für die Fassade durchgesetzt. Sie hatte einen Kontrapunkt zu den langweilig wirkenden zitronengelben, ockerfarbenen, beigen, weißen, hellgrünen und hellblauen Häusern der Umgebung setzen wollen. Um sich von ihrer Nachbarin, Frau Hirschinger, abzuheben, hätten sie nicht renovieren müssen. Aber das war eine andere Geschichte.

    Emma war stolz auf ihr 1200 m² großes Grundstück. Nicht nur dass Theo und sie sich von ihren bescheidenen Gehältern ein Haus mit einem so großen Garten hatten leisten können, sondern auch was sie daraus gemacht hatten. Immer wieder blieben Passanten stehen, um anerkennend einen Blick auf ihr Blütenmeer zu erhaschen. Oft wurden Vergleiche mit englischen Gärten angestellt. Dabei war sie noch nie in ihrem Leben in Großbritannien gewesen. Überhaupt war sie nicht viel in der Welt herumgekommen.

    Als Emma in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel kramte, sah sie Frau Stahl, die zwei Quergassen weiter wohnte, auf sich zukommen. Meist blieb es beim Gruß, obwohl die Stahls seit mindestens zehn Jahren hier wohnten. Manchmal folgten ein paar belanglose Worte über das Wetter, über Emmas Garten und selten über Frau Stahls Sohn Michael. Man wusste wenig über sie. Herr Stahl war ein widerlicher Paragrafenreiter und darüber hinaus Bundesheerangestellter. Und der elfjährige Sohn wirkte mindestens so verschreckt wie seine Mutter.

    „Was für eine Plackerei", stöhnte Emma, als sie das Tor aufschob. Das Quietschen erinnerte sie wehmütig daran, dass Theo nie mehr die Scharniere ölen würde.

    Frau Stahl bot Hilfe an, aber Emma wehrte ab: „Sie schleppen selbst genug", und wies mit dem Kopf auf die Einkaufstaschen der Nachbarin, aus denen ein Kopf Salat und Erdbeeren hervorlugten.

    Ein älterer Herr in Jeans und kariertem Hemd, die Ärmel sorgfältig aufgekrempelt, kam scheu um sich blickend auf sie zu.

    Plötzlich wandte sich Frau Stahl zu ihm um und sagte, auf Emmas Haus weisend: „Hier ist Nummer zwölf."

    Emma sah fragend von Frau Stahl zu dem Fremden, der in ihrem Alter sein mochte. Ganz genau erkannte sie das nicht wegen der weit ins Gesicht gezogenen, hellgrünen Baseballkappe. Der Fremde schaute sie unverwandt an und nuschelte dankend, dass er sich geirrt haben müsse. Er schlurfte die Gasse hinab Richtung Bushaltestelle und ließ die beiden Frauen kopfschüttelnd zurück.

    Gleich einem Automatismus regte sich in Emma Misstrauen, auch wenn der Unbekannte alt war und harmlos aussah. Sie konnte ihren Gedanken nicht weiterspinnen, weil Frau Stahl, die gegen ihre Gewohnheit nicht weiterhastete, sie ablenkte. „Sie sehen aus wie Audrey Hepburn", sagte sie bewundernd und blickte sogleich schüchtern zu Boden.

    „Übertreiben Sie nicht!"

    „Ihre Kleider sind alle wunderschön."

    „Wenn Sie wüssten, wie alt das schon ist, antwortete Emma mit einer abwehrenden Handbewegung. Sie fand, dass die Kleider der 1950er der Figur besser schmeichelten als jene aus anderen Epochen. Emma entging nicht, dass Frau Stahl ihren Blick von ihrer dunkelblauen, weiß getupften Silhouette weiter über ihr eigenes verblichenes Shirt und die abgewetzten Jeans wandern ließ. „Wenn Sie den Stoff besorgen, nähe ich Ihnen eines, schlug Emma spontan vor, als sie die sehnsüchtigen Blicke auffing. Als gelernte Schneiderin war das ein Klacks für sie. Wenn sie nächtens nicht schlafen konnte, war es einerlei, ob sie las, bis zur Erschöpfung putzte oder nähte. Wenn sie dieser armen, gequälten Kreatur Freude bereiten konnte, freute das auch sie.

    „Wann soll ich so etwas Schönes tragen?", wandte die Nachbarin ein.

    Emma wusste zu gut, woher der Wind wehte. Herr Stahl wünschte nicht, dass seine Frau Kontakt zu den Nachbarn pflegte. Emma hingegen ertrug es nicht, wenn Männer ihre Frauen unterdrückten. Deswegen hätte sie ihm zu gerne eine Lektion erteilt.

    Frau Stahls Blick wanderte von Emmas Kleid weiter zu den Rosen in ihrem Garten. „Möchten Sie welche?", fragte Emma unvermittelt.

    Plötzlich schaute Frau Stahl verstohlen auf die Uhr und schüttelte den Kopf.

    „Wehe, wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch steht", antwortete Emma und stellte sich vor, dass Herr Stahl salutierte und mit der Trillerpfeife zur Nahrungsaufnahme pfiff.

    Frau Stahl biss auf ihrer Unterlippe herum und schickte sich an, weiterzugehen.

    „Kommen Sie! Das haben wir ratzfatz", redete Emma auf die Nachbarin ein, deren sehnsüchtiger Blick ihr nicht entgangen war. Auch wenn sie sich schon darauf freute, endlich die Pumps von ihren angeschwollenen Füßen zu streifen, eine knusprig angebratene Scholle und ihren morgens zubereiteten Kartoffelsalat zu verzehren, wollte sie sich gerne gedulden, wenn sie dieser malträtierten Seele etwas Gutes tun konnte.

    Mit Gartenhandschuhen und Schere bewaffnet verscheuchte Emma die Nachbarskatzen. Vögel jagen, in ihren Beeten nach Schätzen graben, sich gemütlich auf Terrassenmöbeln niederlassen, markieren oder sich gar erleichtern sollten die Ungeziefer transportierenden Bestien der alten Hirschinger anderswo. Wenn sie nur über ihren Grund spaziert wären, ohne Schaden anzurichten und vor allem ohne Emma regelmäßig zu ärgern, hätten sie gut miteinander auskommen können. Emma holte ein paar Mal mit der Gartenschere aus und zischte ihnen furchterregende Flüche zu. Frau Stahl war irritiert. Dieses aggressive Verhalten gegenüber den armen Tieren passte nicht zu der kultivierten Frau Wolf, die sie kannte.

    Nachdem die Katzen fauchend davongelaufen waren, schnitt Emma ein paar Triebe von der drei Meter hohen, zitronengelben, zart duftenden Heckenrose, wickelte die Enden in altes Zeitungspapier und überreichte sie der Nachbarin. „Mögen sie Ihnen Kraft für die richtige Entscheidung geben." Emma glaubte ein Zucken der Augen zu erkennen. Der lückenlos bewölkte Himmel ließ den ganzen Tag über keinen einzigen Sonnenstrahl durch. Aber Frau Stahl trug beharrlich eine dunkle Sonnenbrille, die ihr über die halben Wangen reichte. Groß genug, um Hämatome zu verbergen. Emma hätte alles verwettet.

    „Entscheidung?", stammelte Frau Stahl mit zittriger Stimme.

    Emma schaute ihr tief in die Augen – oder dorthin, wo sie sie hinter den schwarzen Gläsern vermutete, und sagte mit ruhiger, Vertrauen einflößender Stimme: „Hat wieder etwas im Weg gestanden? Waren Sie unachtsam und haben sich gestoßen? Oder sind Sie rein zufällig in seine Faust gelaufen?"

    Frau Stahl bedankte sich hastig für die Blumen und griff nach ihren Taschen.

    „Wollen Sie warten, bis er sie zu Tode prügelt?" Plötzlich fühlte sich Emma so kampfeslustig wie Erika, damals mit dem scharfen Metallstück in der Hand.

    3.

    Noch eine Geschichte, Tante Emma", japste der kleine Sebastian und griff sich intuitiv an den von der Mandeloperation schmerzenden Hals.

    „Das ist wirklich die letzte." Emma bemühte sich, ernst zu klingen und ließ ihre Augen von Sebastian zu Lena mit dem gebrochenen Bein, weiter zu Florian mit der Lebensmittelvergiftung, dann zu Jutta mit den kosmetisch korrigierten Segelohren und zuletzt zur bellend hustenden Jana wandern. Die Kinder schauten sie erwartungsvoll an. Eines bohrte in seiner Nase, ein anderes wetzte auf seinen Knien ungeduldig auf der Couch hin und her. Emma liebte es, diesen kleinen Geschöpfen Freude zu bereiten und wie sie in fesselnde Geschichten einzutauchen. Dann fühlte sie sich wie ein unbeschwertes Kind, das sie selbst nie hatte sein dürfen.

    Schließlich begann sie zu lesen: „Es war einmal ein Krokodil, das den ganzen Tag faul herumlag und seinen Bauch der Sonne entgegenstreckte. Eines Tages …" Man hätte eine Stecknadel fallen hören, so ruhig war es. Die Kinder hingen gebannt an Emmas Lippen. Ihre Beschwerden waren wie weggeblasen. Die glücklichen Gesichter brachten Emmas Herz zum Hüpfen.

    Deswegen kam sie jeden Mittwochnachmittag als sogenannte gelbe Tante auf die Kinderstation der Universitätsklinik, um ihren ehrenamtlichen Dienst zu verrichten. Mit ihren Laien-Kolleginnen verband sie der Wille, die kleinen Patienten von ihren Wehwehchen abzulenken, sie ihren Schmerz und ihr Leid vergessen zu lassen.

    Emma hätte sich in diesem zarten Alter die besorgte und liebevolle Anteilnahme von Erwachsenen gewünscht. Vermutlich trieb sie dieser unerfüllte Herzenswunsch seit bald zwanzig Jahren an und ließ sie auch nach der Geburt ihrer Enkelin nicht aufhören. Emma wollte für alle da sein. Für die fremden und kranken Kinder in der Klinik und für Iris.

    Mittlerweile zählte sie zu den am längsten Dienenden und wie sie mit gewissem Stolz vernahm, war sie die am meisten geliebte und geschätzte gelbe Tante. Nach ihrer Pensionierung hatte sie – wie andere Leute auch – nach einer sinnvollen Aufgabe gesucht. Ihre Tochter Petra hatte längst das Nest verlassen. Enkelkinder waren keine in Sicht. Zeitraubenden Freizeitbeschäftigungen gingen Theo und sie nicht nach. Am ehesten nahm sie der Garten in Anspruch, doch war er längst Routine. Darum studierte sie regelmäßig den Anzeigenteil der KLEINEN, weil ihr die Tage auf einmal zu lang und bedeutungslos vorkamen.

    Emma erinnerte sich noch gut an ihren ersten Tag, als sie mit zittrigen Knien die Türklinke zum Krankensaal hinuntergedrückt hatte. Inzwischen hatte sich viel verändert. Die Zimmer waren jetzt kleiner, außerdem freundlich und kindgerecht gestaltet. Statt ödem Weiß blitzten kräftige Farben von den Wänden, an denen sogar lustige Bilder in bunten Rahmen hingen. Die Türen waren mit Zeichnungen geschmückt. Farbenfrohe Bettwäsche mit fröhlichen Motiven vermittelte den Eindruck, in irgendeinem Kinderzimmer zu sein. Den Aufenthaltsraum dominierten gemütliche Polstermöbel, ein Schrank voll mit Spielsachen, ein Bücherregal und allerlei Krimskams. Grünpflanzen sorgten in den Gängen für ein behagliches Klima. Natürlich waren auch die Behandlungsmethoden moderner geworden, aber davon verstand Emma nichts.

    Auch wenn ihre Besuche heute routiniert abliefen, erschütterten Emma

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