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MONO - 1. Akt: Der Köder
MONO - 1. Akt: Der Köder
MONO - 1. Akt: Der Köder
eBook219 Seiten2 Stunden

MONO - 1. Akt: Der Köder

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Über dieses E-Book

Nach einer Serie religiös motivierter Anschläge verschiedener Glaubensrichtungen startet unter dem Decknamen MONO ein groß angelegtes Täuschungsmanöver. Auf seinem vorläufigen Höhepunkt wird die Existenz Gottes bewiesen. Die Länder, die ihn zur unerwünschten Person erklären, schließen sich zu einer religionsfreien Zone zusammen. Der Journalist Nikolaus Eckström deckt die zugrunde liegende Verschwörung auf und wird gleichzeitig tief in sie hineingezogen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. Juni 2020
ISBN9783752904420
MONO - 1. Akt: Der Köder
Autor

Michael Nolden

Michael Nolden arbeitet seit einigen Jahren als Autor: Romane, Kurzgeschichten, Hörspiele. Kriminalhörbücher: 31 TAGE, 2 WOCHEN, gesprochen von ENGELBERT VON NORDHAUSEN. Live-Hörspiele: FRÖHLICH SAUER, AMOK sowie AMOK27. Veröffentlichte eBooks sind u.a. DER KLEINE MORDRATGEBER, SAVANT - FLUCHT AUS NIGER (Trilogie), MONO - 1. Akt: Der Köder. Hörspielaufnahmen in Produktion: FRÖHLICH SAUER, HAPPYLAND, DER KLEINE MORDRATGEBER … Nach BÄR – CHIMÄRA ist bereits das nächste eBook in Arbeit.

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    Buchvorschau

    MONO - 1. Akt - Michael Nolden

    Danksagung

    Für meine Frau

    Vorwort von Frederike Swardson

    »Monotheismus ist keine Erfindung des Judentums, der christlichen noch der islamischen Strömungen innerhalb der Weltreligionen. Bereits lange vorher hatte der ägyptische Pharao Amenhotep IV. Gott Aton, den er mit der Sonne gleichsetzte, über alle anderen Götter Ägyptens erhoben. Amenhotep IV. regierte ungefähr 1350-1330 vor Christus. Über die genauen Jahreszahlen ist sich die Forschung nicht einig. [seufzt] Einerlei! Die Bevorzugung Atons war nicht nur ein Affront gegen die bisherigen religiösen Ausprägungen, sondern auch gegen eine politisch starke Priesterkaste. Der Pharao ging unter seinem viel bekannteren Namen Echnaton in die Geschichte ein. Echn-Aton – eine Wortschöpfung in Verbindung mit dem favorisierten Kult. Echnaton verfestigte die göttliche Vorherrschaft sozusagen in Stein ... – Ach, Schei- Ich meine – so interessiert schaut ihr nicht aus! Ich formulier's anders. Von einem Tag auf den anderen hatten andere Götter als Aton in Ägypten nichts mehr zu melden. Sie waren nicht verboten oder so, aber waren faktisch bedeutungslos. – [leise] Kacke! – Entschuldigung. – Das Ende Echnatons besiegelte diesen religiösen Vorstoß, der im Fachjargon Henotheismus heißt und die Vorstufe zum Monotheismus bildet. Konstantin der Große, römischer Kaiser, hat, um das Thema zu vertiefen ... – Hallo?! – Hört ihr – Also, ich hab's versucht! [genervt] Kann ich Ihnen mein Referat so abgeben?«

    Frederike Swardson, Internetvideo, Schulreferat zum Thema Monotheismus, die drei großen Weltreligionen, Mai 2015

    German International School, Mumbai, Indien

    Prolog: Tonios Abschied

    Mai 2027: Tonio Atlas' letzter Arbeitstag

    Kleinschwetzingen, Baden-Württemberg, Bundesrepublik Deutschland

    Es war ein Montag.

    Neben einer ungewöhnlichen sommerlichen Wärme hing der beißende Rauch verwehenden Tränengases über den Dächern der Gießerei.

    Ein dumpfes Ploppen begleitete die Treffer nicht tödlicher Geschosse. Ihr unnatürlich klingender Aufprall geriet zeitweilig lauter als die heranrollenden Lastkraftwagen. Die antiquierten und vor kurzem reaktivierten Dieselmotoren röhrten martialisch gegen den übrigen Lärm an. Jede Bodenwelle versetzte die metallene Fracht auf den Kipplastern in elendig lautes Gepolter.

    Keiner der Demonstranten hatte etwas aufzubieten, das die vierachsigen Ungetüme stoppen konnte – nicht einmal sich selbst in Form lebender Barrikaden, wie es andernorts tatsächlich versucht worden war. Die protestierenden Menschenansammlungen skandierten ihre vorbereiteten Rufe, hielten Transparente in die Kameras der angereisten Nachrichtenagenturen, stellten sich provokativ unbewaffnet gegen die Reihen der ganz in schwarz gekleideten Polizeikräfte und spuckten, wo sich jemand ganz besonders mutig oder empört fühlte, gegen die Beamten aus.

    Aus den Fahrerhäusern der schweren Transportfahrzeuge winkten die Soldaten von der vor zwei Jahren neu aufgestellten Reservistenarmee bei der Einfahrt auf das Werksgelände der Gießerei den Polizisten zu. Von dieser erzwungenen Reibungslosigkeit an der Hauptzufahrt war am Nebeneingang, dem Tor für die Angestellten, nichts zu spüren.

    Tonio Atlas hielt seinen Firmenausweis in die Höhe und huschte am Kordon der Polizisten vorbei. Steine flogen. Bislang wurden sie von den Protestlern lediglich vom Straßenrand aufgelesen. Etwas knallte. Die angetretene Hundertschaft hielt eine gewalttätige Gruppe der Demonstranten vom Näherkommen ab. Sie schossen Gummischrot in die Menge. Tonio Atlas spürte einen Luftzug an seinen Ohren. Unangenehm nah sausten die kleinen Projektile an seinem Kopf vorbei. Die grob streuende Munition streifte auch den einen oder anderen Mitarbeiter des Werks, ehe dieser in die Sicherheitszone rund um das Metalltor am Zaun gelangt war. Der hoch und athletisch gewachsene Gießer Atlas rieb sich die Augen. Auf einem Acker feuerten die Einsatzkräfte gegen eine noch massiver anrückende Menschenmenge Tränengasgranaten in die Luft. Eine Windböe trieb den Reizstoff großzügig den zur Arbeit rennenden Angestellten hinterher. Obwohl bereits in der Luft sehr verdünnt, genügte das Kampfmittel, um Tonio Atlas' Augen wie bei einer Heuschnupfenattacke auf das Äußerste zu reizen. Derart zum Weinen animiert, betrat Atlas kurz darauf das Personalbüro.

    »Tränen zum Abschied?! Tonio!« Klara Keutner stand von ihrem Schreibtisch auf. Die Papiere zu Atlas' Kündigung hatte sie flink bei der Hand.

    »Frau Keutner«, sagte Tonio Atlas zur Begrüßung und schickte den beiden Worten ein vom Gas provoziertes Niesen unbeabsichtigt hinterher. Ein paar Tröpfchen aus seinen schmalen Nasenflügeln landeten auf dem modernen Stahltresen, der das Personalbüro in zwei Hälften teilte.

    »Klara. Sagen Sie doch Klara. Wir waren doch beim Du.«

    »Klara«, meinte Atlas schniefend. Mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der sie die offiziellen Dokumente ergriffen hatte, zauberte sie eine Packung Papiertaschentücher hervor und hielt sie ihm in einem angemessen freundlichen Abstand hin. »Danke. Dicke Luft heute morgen.« Atlas schnäuzte sich. Das Kribbeln in der Nase verlor sich kaum, wurde allenfalls durch die ablenkenden Bewegungen im Gesicht für Sekunden erträglicher. »Meine Papiere?«

    Klara Keutner reichte sie ihm wortlos. Sie schwang den Kopf, um ihr in einem honigblonden Ton gefärbtes Haar zu lockern. Wie immer in den vergangenen Jahren, da sie zu diesem zwischenmenschlichen Kommunikationsinstrument gegriffen hatte, erfuhr sie von Atlas keinerlei Reaktion. Ihre Enttäuschung beschränkte sich auf ein Minimum. Einmal hatte er ihr ein Foto seiner Frau Monica gezeigt und seither wusste sie, wieso er nicht auf ihre Annäherungsversuche ansprang. Das war allerdings noch lange kein Grund, Flirtversuche vollends aufzugeben. Sie beugte sich leicht nach vorne, in einem genau geprobten Winkel und präsentierte genauso viel von ihrem Dekolleté, wie es ihrer Ansicht nach ausreichen sollte, um selbst einen desinteressierten Mann in hormonelle Kopflosigkeit zu stürzen.

    »Ja, danke. Danke sehr.«

    In seinem hageren Gesicht war keine sexuelle Neugier abzulesen, eher meinte Klara Keutner Wehmut zu entdecken, nahe am Ausdruck der Ablehnung, und das war kein Gefühl, das eine Frau wie sie in einem Mann gespiegelt sehen wollte. Reine Gleichgültigkeit wäre ihr allemal lieber gewesen. »Schade, dass du gehst«, stellte sie schlicht fest und gab ihre nutzlosen Avancen auf.

    »Tja«, sagte Atlas, weil er nichts anderes zu erwidern wusste. Ihm tat es selbst leid, einen sicheren Lebensabschnitt hinter sich zu lassen und seiner Frau in die Ungewissheit zu folgen. Aber Tonio Atlas hatte seiner Monica ein Versprechen gegeben, und er war so erzogen worden, dass ein einmal gegebenes Versprechen so treu auszuführen und fest zu halten sei wie das berühmte Amen in der Kirche. »Diese Tage«, rang er sich den Beginn einer Erklärung ab und endete sofort, denn weitere Worte entglitten ihm im Wust seiner Empfindungen, die keine rechte Linie finden wollten.

    »Ich weiß, was du meinst.« Echtes Bedauern klang aus ihrem Tonfall.

    Dankbar nickte Tonio Atlas der Sekretärin zu. »Danke. Klara«, fügte er schnell hintan.

    Klara Keutner lächelte tapfer mit starren Augen. Je mehr sie über diesen Mann mit dem traurigen Blick nachdachte, umso mehr erkannte sie, wie sehr sie seine Begegnung vermissen würde.

    »Auf Wiedersehen.« Atlas gab ihr über den Tresen hinweg die Hand.

    Nach einem zu langen Zögern, resultierend aus dem Wissen um die Überwachungskameras, ergriff Klara Keutner die dargebotene Hand, erwiderte den Druck ähnlich behutsam, wie er ihr entgegengebracht wurde. »Auf Wiedersehen, Tonio. Alles Gute. Meine ich so.«

    Ein Ruck ging durch die Haltung des Gießers. In diesem Augenblick waren ihm seine hängenden Schultern aufgefallen. Sein Beruf hatte ihm über die Jahre hinweg durchtrainierte Muskeln beschert. Wenn er sein Rückgrat jedoch krümmte, der Kopf wie auf einem gebogenen Geierhals saß, wirkte Tonio Atlas wie der sprichwörtliche Schluck Wasser, der sich selbst als Ziel auserkor. Halbstarke hatten mehrmals versucht, ihn aufzumischen. Langer Lulatsch! Langes Elend! Ihre Ausrufe waren zugegebenermaßen fantasielos. Doch sie hofften natürlich, ihr Spott werde ihn aus der Reserve locken. Reagierte er nicht, fielen ihre Attacken handfester aus. Wie überrascht waren sie doch, wenn sie die von ihm ausgeteilten und sehr treffsicheren Antworten erhielten. Die Blutergüsse seiner Backpfeifen trugen sie noch Tage später zur Schau, zuerst verschämt, dann stolz, als handele es sich um Kriegsverletzungen. Aus einem unerfindlichen Grund heraus wollte er Klara Keutner nicht als nachlässig auftretende Erscheinung in Erinnerung bleiben. »Alles Gute«, sagte er, ließ sie los und drehte sich zur Tür um.

    »Dein Firmenausweis!« Härter ausgesprochen als gewollt, schallte der Ausruf einer Ohrfeige gleich durch das Büro.

    Tonio Atlas' erste Reaktion war ein heruntergeschlucktes »Oh?!«, gefolgt von einem verstohlenen Blick zu der sichtbaren Überwachungskamera, deren einziges Lebenszeichen das Blinken eines roten LED-Lichtes war.

    Am Tag der Installation einer ganzen Armada von Sicherheitstechnik quer über die gesamte Gießerei hinweg, nur wenige Tage bevor die Einschmelzung der religiösen Symbole anlief, waren noch Witze über das unregelmäßige Aufleuchten der Kameraapparaturen gemacht worden. Den Mitarbeitern war in den folgenden Wochen das Lachen und Feixen vergangen, so auch Tonio Atlas, der versuchte, seinen Verfolgungswahn abzuschütteln und sich bewusst in ein verbogenes Gummimännchen verwandelte, von dem er annahm, es lasse ihn zwischen den Arbeitskollegen sichtlich untertauchen. Nur war es von ihm ein Trugschluss zu glauben, jemand mit einer Größe von 1,90 Meter sei wirklich unauffällig.

    »Natürlich.« Seine Stimmlage geriet zu einem Nuscheln. Er nestelte das kreditkartengroße Dokument aus der Tasche, wandte sich auf dem Fuße um, machte den Arm lang und legte den Ausweis auf den Stahltresen. Ein flappender Laut ertönte, als habe er eine Spielkarte auf die metallene Oberfläche geschnippt. Atlas zuckte entschuldigend mit den breiten Schultern. »Die brauch ich natürlich nicht mehr.«

    »Natürlich«, erwiderte Karla Keutner, und die Freundlichkeit im Gesicht der Sekretärin war allenfalls noch vage zu nennen.

    »Also, dann.«

    »Alles Gute.«

    Es spielte keine Rolle, wer von ihnen beiden was gesagt hatte. Die Peinlichkeit zum Schluss, die hierdurch aufgepumpte, eben noch unterschwellige Angst hatten den kleinen Funken Zuneigung zunichte gemacht.

    Tonio Atlas ließ die Bürotür hinter sich zufallen und atmete befreit auf.

    Von seinen fünfunddreißig Lebensjahren hatte er fünfzehn als Gießer gearbeitet, zehn davon am Standort in Kleinschwetzingen, der vor einem Jahr hätte geschlossen werden sollen, wäre nicht festgestellt worden, dass die Kapazitäten landesweit nicht ausreichten, um der Vernichtung religiöser Symbole aus Metall im von Regierungsseite geforderten Zeitrahmen nachzukommen. Atlas hatte das zusätzliche Jahr genutzt, damit er seine Gefühle in dieser Zeit des Umbruchs besser zu begreifen lernte. Er selbst war italienisch-maltesischer Abstammung. Seine Mutter kam aus dem Inselstaat Malta, genauer gesagt aus Victoria auf der Insel Gozo, während sein Vater in Neapel auf dem italienischen Stiefel geboren war. Die Eltern hatten sich auf Sizilien in den Ferien kennengelernt und waren gegen Ende der 1980er Jahre nach Deutschland ausgewandert, pünktlich zur Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Die Arbeitsmöglichkeiten für fleißige Menschen in dieser Aufbauphase erschienen ihnen damals verlockend genug, um die Heimat hinter sich zu lassen. Nach wenigen Jahren im neuen Osten des Landes zogen die Atlas' in den alten Westen nach Baden-Württemberg. 1992 kam Antonio Maria Giovanni Atlante, kurz Tonio zur Welt. Weil sie sich ihrer deutschen Umgebung enger zuwenden wollten, beantragte Tonios Vater einige Jahre darauf nicht nur die deutsche Staatsbürgerschaft, sondern gleichzeitig eine Namensänderung von Atlante in Atlas. Deutsche Freunde beschrieben die Familie Atlas in jeder Hinsicht als vorbildlich.

    Vater und Mutter Atlas waren stark im Katholizismus verhaftet, Tonio selbst, obwohl er sämtliche Zeremonien und Feiertage über das Jahr hinweg mit den Eltern, Verwandten, Freunden, Gemeindemitgliedern und Nachbarn teilte, bezeichnete sich als christlichen Mitläufer, der all das eben tat, was seine Eltern ihm in dieser Hinsicht vorlebten und vorbeteten, weil es offensichtlich zu jemandem mit seinen Wurzeln dazu gehörte, und die Annahme dieser Strukturen einfach bequem war.

    Seine Frau Monica lernte er über die Gemeinde kennen. Ihre italienische Familie betrieb ein Eiscafé in einer Fußgängerzone in Tübingen. Monica war eine ziemlich gläubige Katholikin, so empfand es jedenfalls Tonio, der ein schlechtes Gewissen in sich wachsen fühlte, da jemand seines Alters sich derart zu christlichen Glaubensidealen und Prozeduren hingezogen fühlte.

    Nun, so viele Jahre später, verstand er instinktiv Monicas Entschluss, ihrem Glauben nicht abzuschwören und Deutschland den Rücken zu kehren. Monatelang hatten sie die Auswanderung nach Malta geplant. Italien, was ihnen lieber gewesen wäre, hatte zwar anfänglich mit der Aufnahme ausreisewilliger Christen geworben, sah sich jedoch nach einer wahren Flut von Katholiken dazu gezwungen, dem Strom der Einwanderer Einhalt zu gebieten und einen Einreisestopp zu verhängen, der sogar militärisch streng kontrolliert wurde. Malta hingegen setzte auf Verwandte von Einheimischen und hielt so die Zahl derer, die in den naturgemäß eng begrenzten Raum des Inselstaates einreisen wollten, klein. Tonios Mutter hatte die Anträge ausgefüllt und nun stand dem Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr im Weg. Die Macht der Gewohnheit trieb Tonio, sich zum Arbeitsplatz zu begeben. Er blieb stehen. Unschlüssig verharrte er auf der Stelle und sah sich mit der Nervosität eines Menschen um, dem der nächste Schritt verweigert blieb. Ein Kribbeln jagte von seinem Nacken her das Rückgrat hinunter. Seine Ohrläppchen röteten sich, ein untrügliches Anzeichen von Scham, bemerkte er. Wegzulaufen gehörte sich nicht. Dazubleiben aber auch nicht. Tonios Unruhe wuchs.

    Die Temperaturen draußen auf dem Platz vor der gewaltigen Halle Eins der Gießerei waren nichts gegen die Hitze, die von den Schmelzöfen aufstieg. Sie flirrte noch im Torrahmen, durch den die Lastkraftwagen ein und aus fuhren. Das Werk war das Wochenende über nicht zur Ruhe gekommen. Verunsichert durch den Widerstand von Gläubigen, die sich weigerten, den allgemeinen Aufforderungen Folge zu leisten und das Land zu verlassen, beschleunigte man seitens der eigens zu diesem Zweck aufgebauten verantwortlichen Stellen die Entsorgung der, wie es offiziell genannt wurde, religiösen Altlasten. Im Inneren der Halle stieben Funken in die Höhe. Sie sprangen wie Derwische über die Betonböden und tanzten bis zu ihrem irrlichternden Tod zum Takt einer wahnsinnigen Komposition.

    Niemals in der Vergangenheit war Tonio Atlas in derart feiner Kleidung zur Arbeit erschienen wie an diesem ganz speziellen Tag. Der Anzug war nicht neu oder von besonderer Qualität. Er war gerade so ausreichend, um auf Hochzeiten und Beerdigungen getragen zu werden, die einzigen Gelegenheiten, die Tonio Atlas einfielen, damit sich der Kauf eines solchen Ensembles für einen längeren Zeitraum rechtfertigte. Irgendwie ordnete Atlas diesen Lebensabschnitt unter der Kategorie Beerdigung ein, denn von diesem Schritt gab es für ihn kein Zurück mehr. Heute ging etwas zu Ende und kehrte nicht wieder. Ein weiteres orangefarbenes Ungetüm auf vier Achsen fuhr in einer Wolke aus Abgasen und Dieselgestank an ihm vorbei, hüllte ihn sekundenlang in seinem dunkelgrauen Gift ein und holperte daraufhin über die Schwellen und die Führungsschienen des Lauftores hinein in die Halle Eins. Innen stand schon ein Fahrzeug. Die Entladung war in vollem Gange.

    Tonio Atlas hörte Berge von Metallteilen krachend auf die Förderbänder fallen, die wiederum die Fracht tiefer ins Innere des Werks transportierten, wo sie bei 1500° Celsius binnen kürzester Zeit in den Schmelzbecken ineinander zerflossen.

    Das Werk war eine Mischkonstruktion aus dunkelrotem Backstein, Beton und über die Jahre blind gewordenen Panoramafenstern. Es hockte wie ein zweihundert Meter langes L auf einer schwarzen Asphaltfläche im Osten von Kleinschwetzingen in einem einstmals modernen Gewerbegebiet. Der Zahn der Zeit hatte von außen an den Backsteinen genagt. Die Metallrahmen der Fenster rosteten unter einer schlecht aufgetragenen grauen Farbschicht. Nicht nur im sprichwörtlichen Sinne war hier der Lack ab. In den vergangenen Jahren hatte es eine Auswanderung von Hochindustrie gegeben. Ein früher blühendes Konglomerat von Firmenniederlassungen war auseinandergebrochen. Zulieferer sahen sich infolge der Verzahnung mit umsatzstärkeren Produzenten plötzlich im Niedergang begriffen. Zu speziell waren die von ihnen belieferten Nischen, so dass der Weg in die Zahlungsunfähigkeit vorprogrammiert war. Die Gießerei blieb davon nicht verschont – bis zu jener Zeitperiode, als in der Bundesrepublik Deutschland den Religionen und im Besonderen Gott der

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