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Späte Begegnung: Unterm Pflaster rauscht das Meer
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Späte Begegnung: Unterm Pflaster rauscht das Meer
eBook290 Seiten4 Stunden

Späte Begegnung: Unterm Pflaster rauscht das Meer

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Über dieses E-Book

Ein alter Mann und eine alte Frau begegnen und verlieben sich. Sind es ähnliche Erfahrungen oder eher die Unterschiede, die sie zueinander ziehen? Die Frau will es wissen und schreibt die eigene Lebensgeschichte und die ihres Mannes auf. Eine Freundin, Stimme aus dem Off, kommentiert Kindheit und Schulzeit, Studium, berufliche Orientierung und Liebesbeziehungen. Ein Buch für Jüngere, die Kraft für steinige Wege brauchen. Ein Buch für Ältere, die noch an die Liebe glauben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum17. Juni 2020
ISBN9783752903492
Späte Begegnung: Unterm Pflaster rauscht das Meer

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    Buchvorschau

    Späte Begegnung - Milla Burckhardt

    Ein Kind sein

    Björn

    Seine Eltern trafen sich während des Studiums an der University of Southern California in Los Angeles. Finn war aus Skandinavien gekommen¹ und wollte eigentlich schreiben, aber er brauchte Geld, und mit Literatur konnte er nichts verdienen. Es blieb die Wissenschaft und für das Fach Volkswirtschaft waren Stipendien ausgeschrieben. Er musste sich nicht sehr anstrengen, um eines zu gewinnen und war zunächst seiner finanziellen Sorgen ledig. Bei einem studentischen Fest lernte er Louise kennen und war fasziniert von ihrem Auftreten. Da er in den USA zunächst sehr alleine war, war er glücklich, dass sie sich zunächst auf ein Gespräch, dann auf mehrere Tänze einließ. Ihre großen Augen, ihr Lächeln und nicht zuletzt ihr Temperament beim Tanz verwirrten ihn, der bislang nur mit Männern näheren Kontakt hatte. Louise wiederum war unter Frauen aufgewachsen und hatte keinerlei Erfahrung mit Männern. Aber dass sie ein attraktives Mädchen war, das hatte sie schon als Jugendliche an den Reaktionen von Verwandten, Mitschülern und Freundinnen erfahren. Finn, den norwegischen Studenten, erlebte sie als höflich und liebenswürdig, ohne aufdringlichen Charme. Sein Flair aus der Welt Europas zog sie an, wie auch seine Klugheit. Sie verstanden sich auf Anhieb. Schnell wurden sie ein Paar. Sie wechselte ihr Studienfach und begann, ebenfalls VWL zu studieren. Beide fühlten sich einer intellektuellen Schicht in den USA zugehörig, die sozialistischen Ideen anhing und nicht nur in Amerika mehr Chancengleichheit realisieren wollte.

    Finn wie Louise trugen an schwerem Kindheitsgepäck. Louises Eltern waren kurz nacheinander an der Spanischen Grippe² gestorben, als sie fünf Jahre alt war. Sie wuchs bei der Großmutter auf, getrennt von ihren Geschwistern, die bei Schwestern ihrer Mutter untergebracht wurden. Finns Vater in Norwegen zog seinen Sohn alleine auf. Er konnte nicht verwinden, dass ihn seine Frau kurz nach der Geburt des Sohnes verlassen hatte. Sein Enkel erlebte ihn als einen Mann, der an der Welt und seinem eigenen Leben krankte. Finn wie auch Louise hatten frühe Bindung nur als eigene Sehnsucht erlebt. In die Ehe stolperten sie ohne sexuelle Erfahrungen.

    Finn hatte Freude an wissenschaftlicher Arbeit und sie fiel ihm leicht. Sofort nach dem Abschluss des Studiums erhielt er eine Stelle als Assistenzprofessor in Charlottesville im Staat Virginia. Damit war der Lebensunterhalt für ihn und eine künftige Familie gesichert. Er mietete eine Wohnung und kaufte einen gebrauchten Model T Ford, ein Auto, das noch mit einer Kurbel in Gang gebracht werden musste. Das Baby, das er und Louise sich wünschten, kam 1936 zur Welt und wurde nach Finns Vater Björn genannt.

    Louises Beziehung zu ihrem Kind war überschattet von beginnender Unzufriedenheit mit ihrer Hausfrauenrolle und ihrer Ehe. Sie fühlte sich weder sexuell noch intellektuell ausgelastet. Was der Ehemann ihr an Bestätigung nicht geben konnte und was ihr im Beruf fehlte, sollte nun ihr kleiner Junge bringen. Ein Kind zu haben, Mutter zu sein, bedeutete Erfolg im Leben einer Frau und einen Meilenstein auf dem Wege zu gesellschaftlichem Ansehen. Stolz fuhr sie mit dem Baby zu den Verwandten in Ohio, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte. Und die Anerkennung für das kleine blonde Wesen blieb nicht aus: Alle waren angetan von dem aufgeweckten Baby. Louise freute sich, dass ihr in dieser Woche auch viel abgenommen wurde: Großmutter und Schwester wollten immer wieder das Baby füttern, wickeln und mit ihm spielen. Es gab auch ein Fest im Haus der Verwandten, an dem die junge Frau gerne teilnahm. Ihr Baby legte sie in einem Dachzimmer ins große Doppelbett, damit es schlafen konnte. Als sie nach dem Fest das Zimmer betrat, war sie entsetzt: das Baby hatte sich wider Erwarten bis zum Ende des Bettes gerollt und war hinunter gefallen. Louise dachte, ihr Sohn sei tot, bis sie merkte, dass er nach dem Sturz ruhig weiter geschlafen hatte. Sie war unendlich erleichtert. Ansonsten befand sich das Kind nicht im Zentrum ihres Denkens und Fühlens.

    Bei ihrer Abfahrt hatten sich alle am Bahnhof eingefunden, um ihr Adieu zu sagen. Louise stieg in den Zug, der Zug fuhr los. Louise stand am Fenster und winkte. Erschrocken hörte sie ihre Großmutter schreien. „Louise, Louise!" Sie sah ihr Kind in den Armen der Tante und nun fiel ihr auf, dass sie es vergessen hatte. Der Schaffner zog die Notbremse und so kamen Mutter und Kind wieder zusammen. Louise war der Vorfall peinlich – dass eine Frau ihr Kind vergaß stand nicht im Guide zur erfolgreichen Mutterschaft. Finn konnte sie die Geschichte schon amüsiert erzählen und er, der immer noch begeistert war von ihr, fand sie ebenfalls lustig.

    Wenn Louise Björn ansah, ihn wickelte, sein Lächeln wahrnahm, wenn sie ihn, etwas später, beim Spielen beobachtete, fühlte sie nicht nur Stolz, sondern auch Zärtlichkeit. Wie war es möglich, dass sie ein solches Wesen auf die Welt gebracht hatte! Er war nicht nur ein sehr hübsches Kind, das anzusehen ihr Freude bereitete. Er reagierte sensibel auf alle Reize seiner Umgebung, auch auf jede ihrer Stimmungen. So war er oft ein Gefährte für sie, der ihr die eigene Befindlichkeit widerspiegelte.

    Sobald er sprechen konnte, stellte er Fragen zum Zustand der Welt und allem, was er um sich herum wahrnahm. Er lernte schnell und ließ sich in seinem Tun nicht leicht beirren – Misserfolge bei der Lösung einer Aufgabe, sei es beim Spielen, sei es im Haushalt, entmutigten ihn nicht. Er bemerkte die stolzen Blicke seiner Eltern. Sie konnten beide nicht mit ihm spielen, über diese Gabe verfügten sie nicht, aber sie erklärten ihm sehr früh den unbefriedigenden Zustand der Welt und die täglichen Herausforderungen, ohne Druck auszuüben.

    Mit dem kleinen Elefanten, den Louise ihm zum zweiten Geburtstag schenkte, hatte Björn zum ersten Mal in seinem Leben einen Freund. Das Stofftier war fast so groß wie der kleine Junge und wurde zu seinem ständigen Begleiter. Louise fragte nicht lange, wie er das Tier nennen wolle, sondern gab ihm den Namen Aloysius. Mit diesem Namen verband Björn mit der Zeit die Nähe und Wärme, die er manchmal bei beiden Eltern vermisste. Beide waren zeitlich sehr eingebunden. Finn musste sich anstrengen, im Wettbewerb der akademischen Welt zu bestehen. Louise strebte ebenfalls eine akademische Karriere an, so war die Zeit für das Kind knapp. Dafür war der Elefant immer da, er war der Gefährte, der aufmerksam Björns Vorträgen lauschte. Und darauf verstand sich der Dreijährige. Er nahm Inhalte schnell auf und konnte sie auch wiedergeben. Seine Eltern hatten ihm erklärt, dass sie mit Volkswirtschaft ihr Geld verdienten, und Volkswirtschaft, so lernte er, befasste sich mit der Verteilung knapper Güter. Björn zitierte seine Eltern, obwohl er nicht alles verstand und hielt Aloysius Vorträge auch zu diesem Thema. Er war beglückt über den interessierten Zuhörer.

    Aber er verlor seinen Freund. Bei einem Ausflug ins Gebirge kurvte der Bus hin und her und Björn wurde so schlecht, dass er sowohl auf seinen Elefanten wie auch auf den Sitz erbrach. Der Busfahrer, wütend über die nun verdreckten Sitzkissen und den ihm drohenden Ärger, riss Aloysius aus Björns Armen und warf ihn den Abhang hinunter. Björn war verzweifelt, schrie und wollte seinem Freund hinterher springen, um ihn zu retten. Das konnten die Eltern verhindern. Nicht aber den Schmerz über den verlorenen Freund.

    Als Ersatz für Aloysius kauften sie einen lebendigen Hund für ihren Sohn. Der Hund kam seiner Aufgabe nach, den Schmerz Björns zu lindern. Björn war glücklich, wenn Bobby schwanzwedelnd auf ihn zukam, sich zu seinen Füßen legte, seine Hände oder auch das Gesicht leckte. Mit diesem Freund konnte er reden und bekam auch eine Antwort, was nicht hieß, dass der Hund immer folgte. Aber er achtete auf das, was Björn zu ihm sagte. Immer wenn Björn ihn liebevoll, auffordernd oder strafend ansah oder ansprach, reagierte er unterschiedlich. Er war lebendig. Björn hatte nun wieder einen Gefährten, der ihn überallhin begleitete, wo ein Hund erlaubt war. Bobby war ein richtiges Familientier und freute sich auch, mit den Eltern oder einem von ihnen zusammen zu sein.

    Eines Tages, als Björn noch im Kindergarten war, fuhr der Vater in die Garage. Bobby kannte den Wagen und freute sich dermaßen, dass er ihm ins Auto lief. Finn hatte den kleinen Hund nicht bemerkt und überfuhr ihn. Der Hund war nur noch ein blutiges Etwas und starb vor seinen Augen. Entsetzt berichtete er seiner Frau, was passiert war. Als Björn nach Hause kam, fragte er als Erstes: „Wo ist Bobby?" Denn er war es gewohnt, dass der Hund ihm entgegen sprang. Finn war gerade nicht im Raum, Louise senkte kurz die Augen und sagte ihm dann, sie hätten den Hund in eine Klinik bringen müssen, er sei schwer krank. Björn brach in Tränen aus, wollte in die Klinik, aber seine Mutter sagte, der Hund müsse sich erholen. Und Bobby kam nicht wieder. Damit der Schmerz um den Hund, der nicht wiederkommen würde, abgemildert würde, kaufte Finn einen Bruder von Bobby. Der solle nun so lange bleiben, bis Bobby wieder käme, sagten er seinem kleinen Jungen. Aber Björn konnte sich an den neuen Hund nicht gewöhnen – er war doch ganz anders als Bobby. Bobby kam nicht wieder, und Björns Schmerz war noch schlimmer als die Trauer um Aloysius. Wieder war der nun Vierjährige alleine.

    Die Eltern spürten, dass es bei Björn ein großes Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit gab. Sie hatten selbst in ihrer Kindheit nicht genug davon bekommen und waren von daher nicht ausreichend in der Lage, seine Bedürfnisse zu erfüllen. Weitere Kinder, die ein Gegengewicht gebildet hätten, vermieden sie. Louise hatte schon mit einem Kind genug zu kämpfen, um in der Arbeitswelt Fuß zu fasen. Manchmal nahm sie Björn in den Arm und küsste ihn. Aber das war nicht oft, und immer, wenn er anfing, die körperliche Nähe zu genießen, setzte sie ihn ab und wandte sich ihren anderen Interessen zu. Seine Sehnsucht wurde nie ganz erfüllt.

    Mit vier Jahren verliebte sich Björn in Vera, ein gleichaltriges Mädchen aus der Nachbarschaft. Er wollte ihr nahe sein, ihren Körper berühren und sich an sie schmiegen. Später würde er sie heiraten. Er zog das Mädchen liebevoll und voller Neugier auf den Mädchenkörper aus. Sie sagte: „Was machst du da?", unterbrach ihn aber nicht. Sie genoss, dass er sie streichelte und beide Kinder dachten sich nichts Böses. Nachdem Vera zu Hause erzählt hatte, was Björn mit ihr spielte, verboten ihre Eltern den Umgang mit ihm – für Björn ein Schlag in das Gestrüpp seiner Sehnsüchte. Hatte er etwas Schlechtes getan? Er verstand Veras Eltern nicht. Louise verurteilte ihn zwar nicht, sie ließ den Vorfall auf sich beruhen. Aber sie versäumte, mit ihm darüber zu sprechen, so dass sich bei dem kleinen Jungen eine gewisse Unsicherheit festsetzte. Wenn er nun Vera sah, vermied er ein Näherkommen, um nicht noch einmal enttäuscht zu werden.

    Andere Jungen erlebte er als aggressiv und gewalttätig. Ein Junge, kleiner als er, war langsamer als die anderen Kinder und einige der Jungen verspotteten ihn. Wenn es Streit gab, waren zwei Jungen, Ronald und Herbert, auch gleich zu Schlägen bereit – man musste sich vorsehen. Björn hatte Angst, selbst die Rolle des gedemütigten Jungen übernehmen zu müssen. Und er gab den aggressiven Kindern Anlässe. Er war gesichtsblind³, ohne es zu wissen. Wenn er ein Gesicht sah, das ihm eigentlich bekannt war, konnte er sein Gegenüber nicht erkennen. So hielt sein Gegenüber – Kind oder Erwachsener – ihn häufig für unhöflich oder dumm. Freunde fand er nicht.

    Seine Position in der Hierarchie der Kindergruppe wurde durch eine weitere körperliche Schwäche beeinträchtigt. Die Kinder im Kindergarten und später in der Grundschule nutzten die Gelegenheit, ihn auszulachen, denn seine Beine konnten auf Druck nicht standhalten. Björn konnte nicht mehr aufrecht stehen, wenn ein Kind ihn von hinten schubste, er fiel sofort auf die Knie, und die waren immer lädiert. Diese Unfähigkeit wurde als Schwäche betrachtet. Die Kinder machten sich über ihn lustig, auch die Erwachsenen hielten ihn für einen Schwächling. Sie kümmerten sich nur dann um ihn, wenn die Knie bluteten und ein Pflaster nötig war. Seine Schwäche gab ihm immer wieder das Gefühl, nicht so stark und leistungsfähig wie die anderen zu sein. Jahre später, als die stärkeren Beschwerden schon fast der Vergangenheit angehörten, wurde die Auffälligkeit als Morbus Ollier diagnostiziert. Als er das erfuhr, dachte er: Vielleicht war es ein Glück, dass im Kindesalter keine Diagnostik stattfand – man hätte ihn möglicherweise operiert, was nicht erforderlich war, weil das Leiden sich meistens auswächst.

    Verhielten sich manche Kinder im Kindergarten Björn gegenüber unduldsam und unfreundlich, so waren sie gegenüber jenen, die den Kindergarten gar nicht besuchen konnten, voller Verachtung. Schwarze galten nicht als vollwertige Menschen. Man sah sie nicht im Kindergarten, außer vielleicht in Kinderbüchern. Sie traten nur als minderwertige Objekte in Erzählungen oder Berichten in Erscheinung. Björn nahm diese Überheblichkeit mit Erstaunen zur Kenntnis, denn Finn und Louise hatten ihm vermittelt, dass alle Menschen ohne Ansehen der Hautfarbe oder Religion ein Recht auf Glück hatten. Praktiziert wurde ihre Einstellung täglich, wenn sie respektvoll mit ihrem schwarzen Dienstmädchen die Alltagsprobleme und -aufgaben besprachen. Björn merkte, dass die Prinzipien, an die seine Eltern glaubten, nicht überall galten. Insofern erweiterte die Enge des Kindergartens seinen Gesichtskreis.

    Björn hatte Vera geliebt. Die Fragen, die er in der Begegnung mit ihr hatte, waren durch den Abbruch der Beziehung nicht beantwortet worden. In der Begegnung mit Mädchen im Kindergarten stellten sie sich neu. Wie sah ein Mädchen aus im Vergleich zu ihm? Welches waren die Unterschiede? Wie reagierte es auf eine Berührung hier oder dort? Manchmal versuchte er, Mädchen auszuziehen, um ihren Körper zu bewundern. Drei der kleinen Mädchen ließen das gerne geschehen. Hier war es eher sein Forscherdrang, der ihn antrieb, nicht die Sehnsucht nach Nähe. Aber die Mädchen erzählten, was geschehen war, den Erzieherinnen, die empört reagierten. Rosina sah ihn böse an und sagte: „Wie kannst du solche Schweinereien machen? Gretel, die zweite Erzieherin, sah ihn ebenfalls vorwurfsvoll an und sagte: „Was du da tust ist unkeusch. Der kleine Björn war niedergeschmettert. Schweinereien? Unkeusch? Was ist das? Er begriff die Worte für sein Tun nicht und konnte nichts zu seiner Verteidigung vorbringen. Für die professionellen Erzieherinnen war er ein perverser Junge, sie kündigten den Vertrag mit seinen Eltern. Finn und Louise, denen Freud nicht unbekannt war, konnten an Björns Verhalten nichts Schlimmes finden und nahmen sein Verhalten als Ausdruck von Entdeckungslust, vielleicht auch früher sexueller Neugierde wahr. Das war nichts Schlimmes, wie sie wussten. Es war nicht das einzige Mal, dass ihnen Amerika rückständig vorkam. Aber sie sprachen nicht mit ihm, um ihm die unterschiedlichen Normen im Kindergarten und zu Hause verständlich zu machen. Björn behielt im Ohr, wie empört die Erzieherinnen mit ihm und über ihn sprachen. Er durfte nicht mehr in den Kindergarten gehen und fühlte sich ausgestoßen. Seine Unsicherheit im Umgang mit Mädchen wurde verstärkt. Was war richtig, was falsch? Musste man sich generell fern von diesen Geschöpfen halten, die er doch so gerne mochte? Er wusste es nicht und erhielt auch keine Antwort.

    Zu Hause machte Björn ein störendes Leiden zu schaffen. Wie in den USA üblich, war er als Neugeborener beschnitten worden. Die Operation wurde fehlerhaft durchgeführt und der Junge erlitt bleibende Schäden. Er hatte Schwierigkeiten, die Kontrolle über die Blase zu behalten, und nässte immer wieder nachts ein. Der Vater weckte ihn nachts, um das Bett trocken zu halten und Björn entwickelte große Ängste. Er wollte doch alles richtig machen! Die nächtlichen Überfälle durch warmen Urin jagten ihm immer wieder Schrecken ein – Schrecken vor sich selbst, der nicht in der Lage war, sein Pipi zu halten. Der Vater verzog sein Gesicht in leichtem Ekel, wenn er das Bettzeug wechseln musste. Die Mutter sprang in diesen Situationen nur ein, wenn Finn nicht anwesend war. Auch ihr war diese Entwicklungsverzögerung ihres Sohnes peinlich. Tagsüber wurde nicht darüber gesprochen, und das Schweigen verstärkte die Angst Björns vor der nächsten Nacht, wenn „es" denn wieder einmal passiert war. Beide Eltern wussten nicht, dass die Blasenschwäche eine besondere körperliche Ursache hatte und behandelten ihn in diesem Punkt als Versager. Erst als Schulkind hatte er die Kontrolle über die Blase, aber auch dann versagte sie manchmal in Stresssituationen.

    Bei all diesen Unsicherheiten waren seine Eltern doch ein sicherer Boden, von dem aus er neue Erfahrungen machen konnte. Aber dieser Boden begann zu schwanken. Finn war weichherzig und seine Familie bedeutete für ihn sein ganzes Glück. Kam es zu Konflikten im Alltag, gab er Louise eher recht, als sich zu streiten. Diese Nachgiebigkeit wertete sie als Schwäche. Je weniger er Louise entgegentrat, umso mehr fühlte sie sich zu „starken" Männern hingezogen. Sie hätte jetzt lieber einen anderen Mann gehabt. Nicht nur war ihr die Beziehung zu ihrem Mann lästig, auch mit ihrem Hausfrauendasein war sie unzufrieden. Finn hatte eine Professur in Lawrence/Kansas bekommen, Louises Karriere machte keine Fortschritte. Der Krieg kam ihren Trennungsabsichten in gewisser Weise zu Hilfe, weil er das Auseinanderbrechen der Familie beschleunigte.

    Nach dem Überfall Japans auf Pearl Harbour traten die USA in den Krieg ein⁴, der nachträglich der Zweite Weltkrieg genannt wurde. Das Erste, was die Familie davon merkte, war die Zuteilung von Lebensmittelkarten. Sein Leben lang erinnerte sich Björn daran, dass er während des Krieges nicht mehr so viel Fleisch bekam, wie er es gewohnt war. Seinem Vater gab der Krieg eine Chance, seine Solidarität mit der neuen Heimat und seinen Abscheu gegenüber dem Hitler-Regime zum Ausdruck zu bringen. Unmittelbar nach der Kriegserklärung meldete er sich zum Militär. Aufgrund seiner norwegischen Herkunft erhielt er das Angebot, eine Ausbildung als Spion in Europa zu absolvieren. Er nahm das Angebot gerne an. Diese Ausbildung fand an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Ländern statt, so dass er nur selten bei seiner Familie lebte.

    Seine Abwesenheit nutzte Louise, sich um die eigene Karriere zu kümmern. Sie nahm einen Lehrauftrag an einem College in Winfield/Kansas an; so kam es zum nächsten Umzug. Björn vermisste den Vater, aber der Wechsel der Umgebung machte ihm keine Probleme.

    Um ihm Kontakte zu anderen Kindern zu ermöglichen, aber vor allem, um einige Stunden für sich zu haben, schickte ihn Louise in eine Sonntagsschule. Björn hörte erstaunliche Geschichten von Gott und Jesus – seine Eltern hatten nie mit ihm über die Religion gesprochen und er hatte Gott nie vermisst. In der Sonntagsschule litt er nicht darunter, dass die anderen Kinder ihn für dumm hielten, weil er von ihrer Religion nichts wusste. Er wunderte sich nur über die so anderen Gewissheiten seiner peers.

    Die Lehrerin erwartete fraglosen Gehorsam und der war nicht seine Art. Sie erzählte, wie Gott die Welt geschaffen hatte und die Kinder erhielten die Aufgabe, auf einem Blatt Papier den Schöpfungsprozess darzustellen. Den Anfang machte die Lehrerin mit der Erschaffung von Tag und Nacht. Die Kinder sollten dieses große Ereignis auf ein Papier malen, indem sie auf der einen Seite den Tag weiß und auf der anderen die Nacht schwarz ausmalten. Björn sagte: „Aber das Papier ist doch schon weiß, dann muss man es doch nicht weiter bemalen. „Nun tu, was ich dir gesagt habe, antwortete die Lehrerin und ihr Tonfall verriet eine aufsteigende Wut. Die Kinder lachten ihn aus, weil ihnen schien, er hätte die simple Anweisung nicht verstanden. Björn gehorchte schließlich, um seine Ruhe zu haben. Beim Abschied von der Lehrerin zeigte diese auf ein Jesusbild an der Wand und mahnte ihn mit erhobenem Zeigefinger, er müsse Jesus immer bei sich tragen. Björn gehorchte diesmal ohne zu zögern und überzeugt, das Richtige zu tun: Er hängte das Bild ab, um es mit nach Hause zu nehmen. Die Lehrerin wertete das Missverständnis als Frechheit und schimpfte. Björn hatte die Regeln der Schule, die in Anpassung bestanden, nicht begriffen, eine Auswirkung seines Asperger-Syndroms. Auch später geschah ihm dies immer wieder. Von zu Hause war er in diesem Punkt mehr Verständnis und keine Schimpfereien gewöhnt. Als er Louise erzählte, wie es ihm ergangen war, verzichtete sie darauf, ihn wieder in die Sonntagsschule zu schicken.

    Louises Lehrauftrag wurde nicht verlängert, die akademische Karriere blieb aus. Sie war enttäuscht und zog mit ihrem Sohn nach Washington. Dort, so glaubte sie, würde es leichter sein, eine Stelle zu finden. Außerdem bot diese Stadt auch Finn die Möglichkeit, seinen Sohn zu sehen, da seine Ausbildung teilweise dort stattfand. Finn war es wichtig, Frau und Kind so häufig wie möglich zu besuchen.

    Louise fand eine Anstellung als Volkswirtin in einem Ministerium. Sie war glücklich, endlich ihr eigenes Geld verdienen zu können und unabhängiger von Finn zu sein. Auch als Frau blühte sie in Washington auf. Finn war häufig abwesend und sie hatte die Gelegenheit, auszugehen. Sie lernte zunächst bei ihrer Arbeit, dann auch in der Freizeit Männer kennen, die sich für sie interessierten. Manchmal, wenn Finn nicht anwesend war, brachte sie tagsüber auch einen Mann nach Hause. Björn nahm die Veränderungen zur Kenntnis und genoss es, wenn sie über Nacht fort blieb und ihn alleine ließ. Dann fand er Geld auf dem Tisch, von dem er sich zu essen kaufen konnte, was er wollte. Das häufige Alleinsein tat ihm gut, er konnte sich gut allein beschäftigen.

    Als Finn wieder einmal kam, war Louise im Haus beschäftigt. Er rief nach ihr, wer kam, war der kleine Björn, der sich über alle Maßen freute, den Vater wiederzusehen. Finn nahm den Jungen in den Arm, warf ihn hoch, Björn jauchzte. Dann betrat Louise das Wohnzimmer. Finn wollte sie in den Arm nehmen, aber ihr Körper versteifte sich. Er konnte nicht anders, als eine Entfremdung zwischen sich und Louise wahrzunehmen, die er nicht ganz verstand. Der Grund, dass sich seine Frau ihm verweigerte und nicht gut gelaunt war, musste seine häufige Abwesenheit sein. Da er Louise liebte, hatte er kein Bedürfnis nach einer anderen Frau und konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie andere Bedürfnisse hatte als mit ihm zu leben. Björn registrierte die Zurückhaltung seiner Mutter und war traurig, dass die Eltern nicht mehr so liebevoll und freundlich miteinander waren wie in den ersten Jahren seiner Kindheit. Eine Scheidung gab es in seinem Kinderkosmos nicht.

    Clara

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