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Ein kleines Menschlein, ein stummes Vögelchen, ein Käfig und die Welt: Erzählungen
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Ein kleines Menschlein, ein stummes Vögelchen, ein Käfig und die Welt: Erzählungen
eBook248 Seiten3 Stunden

Ein kleines Menschlein, ein stummes Vögelchen, ein Käfig und die Welt: Erzählungen

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Über dieses E-Book

Erzählungen aus dem Warschauer Getto und vom Leben auf der Flucht: Bogdan Wojdowskis Prosa kommt der Wirklichkeit des Nicht-Erzählbaren so nah wie kaum eine andere Literatur.

Was Bogdan Wojdowski in seinem Opus Magnum »Brot für die Toten« mit dem langen Atem des Romans entfaltet hat, verdichtet sich in den Erzählungen mit expressiver Energie. Die ersten sechs Erzählungen geben in knapper Konzentration Szenen aus dem Alltag des Warschauer Gettos wieder. Die letzte, breit ausgearbeitete Erzählung – »Der Weg« – handelt von der Flucht eines jüdischen Mädchens aus dem Getto ins Warschauer Umland. Stets in Gefahr, entdeckt und verraten zu werden, schlägt die Jugendliche sich durch, kämpft um ihr nacktes Überleben.
Wojdowski schrieb diese Erzählung auf der Grundlage eines authentischen Berichts – unter dem Eindruck der geschilderten Erlebnisse, die seinen eigenen sehr ähnlich waren. Er selbst war 1942 aus dem Warschauer Getto geflohen und hatte dank der Unterstützung durch mehrere Polinnen und Polen in Verstecken im Warschauer Umland überleben können.
Die Reihe »Bibliothek der polnischen Holocaustliteratur« stellt herausragende Werke einer essentiellen Erinnerung vor - teils in Neuauflagen bereits existierender Übersetzungen, teils in Erstübersetzungen. Der zweite Band der Reihe führt aus der Sphäre des Gettos in die Wirklichkeit des besetzten Polens, in dem jeder Quadratmeter ein Ort tödlicher Gefahr ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberWallstein Verlag
Erscheinungsdatum9. März 2022
ISBN9783835348059
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    Buchvorschau

    Ein kleines Menschlein, ein stummes Vögelchen, ein Käfig und die Welt - Bogdan Wojdowski

    Erzählungen von jenseits der Mauer

    Ein kleines Menschlein, ein stummes Vögelchen, ein Käfig und die Welt

    Für Izaak Celnikier

    »Belcia! Bei so einem Wetter, bei so einem Schnee!« Eis hatte sie auf dem Kragen und auf dem Kopftuch, die grauen Strümpfe silbern bestäubt, helle Tropfen in Wimpern und Haaren. Alle starrten sie an wie eine Erscheinung. Wie war sie hierhergekommen? Allein?

    Lange stampfte sie im Flur mit den Füßen, schüttelte den Schnee von ihrem Mäntelchen, und später trat sie ein und sagte : »Guten Tag.«

    Und wo war der Rest, wo waren die anderen? Sie waren durchgekommen? Wenn sie durchgekommen waren, war es gut. Aber wozu war sie zurückgekehrt? Was erwartete sie hier Gutes? Das ist ein Los! In so einem Frost gehen Kinder zu Fuß vom Bug bis direkt nach Warschau. Wer hat so etwas je gehört? Entweder sie zerren am Bart und befehlen, eine Armbinde mit Stern zu tragen oder für den Grenzübertritt zu bezahlen. Denen, die hinüberkommen, und denen, die nicht hinüberkommen. Alles gehupft wie gesprungen. Du bist selber schuld, Jude. Und es kommt noch schlimmer.

    Sie standen gestikulierend im Kreis, und Belcia hielt die Füße in eine Schüssel mit brühendheißem Wasser. Solche Kosten, solch ein Verlust! Geld hat für sie der Wegführer genommen wie für alle. Aber sie konnte nicht . . . Sie wird niemals fliehen können, sie fühlt das in ihrem Herzen. Und das fünfzehnjährige Mädchen, schon kein Kind mehr, legte die rotgefrorene Hand auf den Pullover genau unter der Kehle.

    Während des Hinundhergeredes war das Wasser abgekühlt, und Mutter goss in hohem Bogen siedendheißes Wasser aus dem hellblauen Teekessel in die weiße Waschschüssel.

    »Das Kind kommt von unterwegs, es ist ganz außer Atem und völlig verfroren, und ihr macht auf der Stelle eine Familienberatung. Lasst doch Belcia erst einmal verschnaufen!«

    Pajewskis wohnten in der Nähe, in der Łucka. Der alte Pajewski hatte in der Łucka eine Werkstatt – eine Nähmaschine Marke »Singer«, eine Glühbirne unter einem emaillierten Blechteller, der an einer Ziehschnur von der Decke herabhing , und ein dunkles Zimmer im Parterre voller Schnipsel und Fetzen schwarzer Watteline, wo in zwei Ecken zwei kopflose Rümpfe standen, bis zur Nacktheit entblößte Schneiderpuppen. Dort arbeitete und dort wohnte er. Ein Handwerksloch wie viele andere. Belcia war das älteste von vier Geschwistern. Ich erinnere mich an meinen kleinen Vetter Icie, der mit diabolischem Gekicher sein Hemd hochhob und mir die heiligen Enden des rituellen Leibchens zeigte, das mit Fadenbüschelchen gesäumt war. Ich trug so etwas nicht, für mich war das eine Neuheit. Nur dass diese Neuheit schon ein paar tausend Jahre zählte, aber das nur nebenbei. Ich erinnere mich an ihren anderen Bruder, Aron, der den Spitznamen »Kreisel« trug. Er hatte so eine Angewohnheit. Er ging ein Stückchen, drehte sich um sich selbst, ging wieder ein Stückchen und machte kehrt, als täte ihm leid, was er hinter sich zurückließ.

    Belcia, die Füße in der Schüssel, erzählte vom Überschreiten der Grenze, und ich sah Aron vor mir : Fern von mir bleibt er stehen, vollführt eine ganze Umdrehung und entfernt sich wieder in die Dunkelheit, schweigend und einsam wie ein Planet. So hat er sich mir eingeprägt an einem Sommertag auf dem Kazimierz-Platz. Nun war es schon Winter, Aron ein paar hundert Kilometer von mir entfernt, und der Kazimierz-Platz leer, denn Markt wurde hier nicht mehr abgehalten.

    Belcias Erzählung war traurig wie das unglückselige jüdische Los, kurz wie der Atem des Asthmatikers über seinem Schneiderbügeleisen und faulig wie erfrorene Füße in feuchten Lappen. Nacht und Angst und Frost. Finster, finster und schlimm. Eine Nacht, deren Augen ein feuchter Fußlappen zudeckt. Soll das heißen, dass die Nacht Augen hat? Nein. Soll das heißen, dass Fußlappen immer gleich nass sein müssen? Auch nein. Und soll das vielleicht heißen, dass man in einen Fußlappen so etwas wie die Nacht einwickeln kann? Nein und nochmals nein. Und wer beharrt darauf, Juden? Ich sag’ euch etwas anderes. Die Fußlappen hatte Belcia nass von Wyszków an, den ganzen Tag war Winter draußen und der Bug dick zugefroren. Das ist alles, nichts mehr.

    Gerade, als sie hinaustraten auf den Grenzstreifen, vertrieb der Wind die Wolken und zeigte aus Bosheit den Juden den Mond. Gar nicht gut! Das Los der Familie des Schneiders Pajewski aus der Łucka soll sich entscheiden, und da steht so ein Nichts im Wege, so eine Lappalie. Zu spät, schon ist das Geld aus dem Pelzmuff der alten Pajewska in den Filzschaft des Wegführers gewandert. Schon hat der Husten des alten Pajewski die Posten geweckt. Schon verwischt der Schmuggelbauer seine Spuren und kehrt durch das Waldstück zu seiner Hütte zurück. Nun ist er nicht mehr zu sehen. Die Wachen rufen, Karabinerschlösser klicken, und Belcia dreht sich um und sieht, wie die beiden Brüder, die Schwester Ela, die Mutter und der fürchterlich hustende Vater mit erhobenen Händen über das Eis des Grenzstreifens gehen. Alles in allem traurig und beklagenswert! Diese Nacht an der Grenze hinterließ ihre dauernden Spuren. Hände und Füße erfror sich Belcia bis aufs Blut, und mit diesen Erfrierungen kam sie zu uns zurück. Später, bis zum Krieg im Osten, trafen in dicken löschpapierartigen Umschlägen Briefe von den Pajewskis ein, und aus ihnen ging hervor, dass die, die in jener Nacht die Grenze überschritten hatten, heil und gesund waren.

    So ein einziger Augenblick entscheidet über das Leben des Menschen. Dieser flieht in die Richtung , jener in die andere, und keiner von beiden weiß, wie die Zukunft aussehen wird. Aber wie soll mit Verlaub die Zukunft eines Juden schon aussehen? Ich frage mich. Hier schlecht und dort nicht gut. Der Frühling , der Sommer gingen vorüber, es kam der Herbst und der Umzug hinter die Mauern. Belcia zog mit uns. Aber . . . Dieses »Aber« bedeutete für sie einen unguten Anfang und ein schlimmes Ende. Sie hatte Angst, an die Wache heranzugehen, und beim Anblick eines Wachmanns wurde sie weiß wie eine Wand. Was sollte man da machen! Sie saß zu Hause und kochte in Ermangelung eines Besseren geschnitzelte Rüben mit ein paar kleinen Kartoffeln. Rüben waren billiger als Kartoffeln. Das erkläre ich hier zum gefälligen Gebrauch für einen jeden Juden aus wärmeren Ländern. Belcia füllte mit reinlicher Handschrift die Lebensmittelkarten für die ganze Familie aus und ging sich beim Hausmeister den Stempel holen. Die Karten nannten sich »Bons«, Leben sah damals ganz anders aus, und über diese Bons sangen die Bettler laut ein Lied.

    Bei uns gingen alle auf die andere Seite, sogar das achtjährige Schwesterchen, das sich die Händchen in einem Muff, der ihr an einer Schnur um den Hals hing , wärmte. Belcia durfte ruhig zu Hause sitzen. Und was hat sie gekonnt? Nähen konnte sie, zugegeben, saubermachen, ordentlich den Tisch decken und Steckrüben oder rote Rüben mit ein paar Kartoffeln auf den Tisch bringen. Sie konnte sich Zöpfchen flechten und mit einem Stoffrestchen zusammenbinden.

    Ein breites, flaches Gesicht mit roten Pickelchen, braune Augen, eine Kartoffelnase. Was kann man sonst noch über Belcia sagen? Und dabei so grau, so alltäglich. Sicher hätte ich Belcia vergessen, doch gerade mit ihr begann die ganze Geschichte.

    Als der Vater davon hörte, sagte er gleich :

    »Dieser Jude, meine Kinder, verkauft Zwirnknöpfe und spielt den Blindgeborenen.«

    »Er gibt sie umsonst her«, versteifte sich Belcia.

    »Äh, was weißt du.«

    Woher sie diesen Vogelhändler kannte? Das weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall hatte sie in Erfahrung gebracht, dass er hungrige Vögel umsonst abgab. Und ich ging mit ihr in die Ogrodowa.

    Das Zimmer in der Ogrodowa war mit Käfigen voll gehängt. Es zwitscherte, trillerte, tirilierte, tschilpte aus allen Ecken, und der Vogelhändler schüttete ein Häuflein Körner von einer Hand in die andere, blies hinein, um die Spreu auszusondern. Das Zimmer des Vogelhändlers war hell, grün tapeziert, mit Agavenstacheln gespickt, voll von Palmen in Kübeln, fleischigen Blättern des Affenbrotbaumes und biegsamen Ranken des Asparagus. Bunte Papageien, weiße und zitronengelbe Kanarienvögel, Schwarzdrosseln sangen hüpfend und mit den Flügeln gegen die Käfigstäbe schlagend im Chor ihr Lied beim Anblick der Sonne vor dem Fenster. Den Ärmel ein wenig hochgestreift, die Finger angezogen, steckte der Vogelhändler die Hand in die kleine Öffnung eines Käfigs, und mit dem Daumen zart die flatternden Flügelchen zusammendrückend, holte er die Hand wieder ein und zeigte ein Vogelköpfchen zwischen Daumen und Zeigefinger. Sicher war es eine Hybride ; von seiner ganzen Schar offerierte uns der Vogelhändler ein unscheinbares Vögelchen mit graubraunem Gefieder, das mich an einen Hofspatz erinnerte.

    »Ein Weibchen«, sagte der Vogelhändler. »Es ist unmusikalisch, aber füttere es, wie es sich gehört, und es wird schon singen.«

    Ich habe nie gehört, dass es gesungen hätte. Das graue Kanarienweibchen gab einen leisen Zischlaut von sich, ein dünnes Gepiepse, aber diese Töne hatten mit Vogelgetriller nichts gemein. Der Vogelhändler übertrieb in seiner Liebe zu den Vögeln ; er hatte Angst, sich von ihnen zu trennen, obwohl er hinter den Mauern nicht mit ihrem Verkauf rechnen konnte.

    Der Käfig hing bei uns an der Wand, nahe beim Fenster, wo es ein wenig heller war. Das graue Kanarienweibchen hüpfte von der Stange auf den Sand, schluckte ein Samenkörnchen, wetzte seinen Schnabel an einem Stückchen Bimsstein, und manchmal, manchmal piepste es ganz schwach. Was das für ein sonderbares Geschöpf war, weiß ich nicht. Aber noch sonderbarer war etwas anderes : die Anhänglichkeit des Vogelhändlers an seine Vogelschar. Schließlich fütterte er sie mit Krumen seiner eigenen Brotration. Unglaublich! Das graue Vögelchen aus seiner Sammlung überdauerte bei uns hinter den Käfigstäben bis zur Großen Aktion im zweiundvierziger Jahr.[1]

    Sie machten sich über Belcia lustig. Vogelfräulein! Wenn die Leute vor Hunger sterben, wirkt die Verbundenheit mit einem lebendigen Geschöpf als etwas Absonderliches und Überflüssiges. Beschämt und verschüchtert versorgte Belcia ihr Vögelchen mit Nahrung und frischem Wasser, doch bald zeigte sich, dass sich das stumme Vögelchen ganze Tage mit einem Mohrrübenschnitzelchen, das man ihm zwischen die Käfigstäbe steckte, zufriedengeben konnte. Ihr breites, flaches Gesicht gegen das Vogelbauer gedrückt, flötete Belcia :

    »Sing doch mal! Aj, nu, nu!«

    Zu hören war ein leiser Piepser.

    Aus unserem Haus hatten sich durch Zufall drei Kinder und zwei Frauen gerettet. Das ist viel für so ein Mietshaus. Belcia war nicht darunter. Ein paar Monate nach der Aktion – schon auf dieser Seite, brachte jemand einen Brief von jenseits der Mauer.[2] Auch ich hatte sie in der Hand, diese zerknitterten, mit verblasster Schrift bedeckten Seiten, und ich las die undeutlichen, in Eile hingeschriebenen Worte. Belcia schrieb, dass sie nachts noch in die Wohnung zurückkehre und sich bei Tag mit einem Grüppchen Überlebender im Keller verstecke. Sie lebte . . . (Aber lebte sie noch, als dieser Brief zu uns gelangte?) Zum Schluss schrieb sie, dass sie zu Hause den Vogel füttere und ihm frisches Wasser gebe, dass er sorglos auf seinem Reitel umherhüpfe, dass er schon ein ganz klein bisschen singe . . . Nach ein paar schweren Tagen, als sie lange nicht zu Hause gewesen war, hatte sie sich um das hilflos eingeschlossene Tierchen gesorgt und in dem Glauben, dass sie es zum letzten Mal sähe, Käfig und Fenster geöffnet.

    Es war einmal ein Vogelhändler, dem die Vögel aus Mangel an Futter starben. Es war einmal ein Käfig in einer Wohnung in der Krochmalna-Straße. Es war einmal ein kleines Menschlein aus dem Grenzgebiet, das in den letzten Tagen seines Lebens den Käfig öffnete und ein stummes Vögelchen freiließ. Aber ob sich so ein kleiner Vogel, der zudem nicht einmal singen kann, unter den wilden Spatzen zurechtfindet? Und es war einmal ein Brief, den ich diesseits der Mauer las. Nur, dass er nicht erhalten geblieben ist.

    Das Lied ist aus!

    Jeder vernünftige Jude könnte mich fragen : »Nu, und? Auch ein Kummer. Und andere Sorgen hast du nicht? In solchen Zeiten?«

    Und ich sage dem Juden ins Ohr : »Andere Sorgen habe ich auch. Aber nicht darum geht es. Sie wollten eine ganze Stadt von der Landkarte ausradieren. Und das ist ihnen teilweise gelungen. Sie wollten die Gebeine aus der Erde graben und verbrennen, zermahlen, im Fluss versenken, auf den Feldern verstreuen. Und auch das ist ihnen gelungen. Sie wollten die Erinnerung aus dem Gedächtnis reißen. Aber das ist ihnen nicht mehr gelungen. Was stört dich das kleine, graue Vögelchen, Jude? Soll es leben, wenigstens im Gedächtnis.«

    Wäre das Vögelchen nicht gewesen, vielleicht hätte ich den Vogelhändler vergessen, der seinen Handel in der Ogrodowa hatte ; den Schneider und seine Familie aus der Łucka, das kleine Menschlein Belcia, Belcia aus dem Grenzgebiet und ihren letzten Brief.

    Wollt ihr, da habt ihr. Kein Wort ausgedacht. Alles, wie es war. Die Wahrheit – die Geringste unter den Geringen. Nach so vielen Jahren kann man sich irren. Aber worin? Eben, vielleicht war es nicht die Ogrodowa-Straße, sondern ein Stückchen weiter. Vielleicht war es auch nicht die Łucka, sondern die Wronia . . . Falls irgendeiner der Pajewskis noch irgendwo auf der Welt zu finden ist, bringe ich auch das in Erfahrung. Aber unterdessen muss ich auf dem Bild, das ich male, in einem kleinen dunklen Winkel, ein kleines dunkles Plätzchen für den Käfig finden und für den grauen Vogel, der niemanden mit seinem Gesang erfreut hat.

    Der Sack

    »Motełe-Kaufmann«,[1] riefen alle hinter ihm her. Motełe deshalb, weil er dumm den Schlauen spielte. Kaufmann, weil er Sommer wie Winter mit einem Sack auf den Schultern herumlief. Er kaufte altes Zeug von den Leuten, legte es in diesen Sack und ging weiter. Dann frischte er das alte Zeug auf, flickte es und verkaufte es anderen Leuten.

    Einer verkauft, ein anderer kauft, und Motełe verdient dabei. Alle seine Lieferanten kannte er beim Namen, und auch die Kunden. In der Ceglana, der Ciepła, der Grzybowska und in der Waliców.

    »Meine Verehrung , wie trägt sich denn so das gute Stück?«

    Auf der Straße erkannte er die Garderobe wieder, seine aufgefrischte Ware. Er geht, nehmen wir einmal an, in ein Restaurant. Und mit dem Ärmel wischt er ein Stäubchen vom Jackett eines Gastes, der mit einem Fräulein am Tisch sitzt. An einem solchen Ort kann ein Gast sogar die Beine übereinanderschlagen.

    Motełe-Kaufmann tritt heran und sagt höflich :

    »Verzeihung. Und noch einmal Verzeihung. Das gibt Falten«, und stellt das übergeschlagene Bein auf der Erde ab. »So ein Rappaport . . . hundertprozentiger. Schade drum!«

    Motełe war Kaufmann, Handwerker und Reklamefachmann in einer einzigen armseligen Person. Er konnte einem sagen, wo man eine alte Kaffeemühle oder einen Messingstößel loswurde. Oder wem man am besten die von einem alten Bettbezug abgetrennten Zwirnknöpfe verkaufte. Er lieferte seinen Kunden Nachrichten von der Front. Und er wusste, ob das Brot teurer wird. Wann die Deutschen mit der Beschlagnahme der Pelze beginnen. Was die Kohlrüben vor Winterbeginn kosten werden. Was Hitler in der Depesche an Mussolini nach dem Fall von Paris geschrieben hat.

    Früh am Morgen weckte sein Ruf ein Haus nach dem anderen. »Mäntel, Jacken, Hooo kaufe ich. Westen kaufe ich. Alte Garderooo, Schuhe kaufe ich!«

    In der Krochmalna sagten sie :

    »Oj, schon sechs. Motełe kommt die Leute wecken.« An dem Tag ging ich ihn suchen ; sein kläglicher Singsang führte mich schon von Weitem auf seine Spur. An der Ecke Ciepła-Ceglana hielt er ein paar Knickerbocker gegen das Licht. Motełe hatte den Rücken eines Bettlers, doch einen stolz erhobenen Kopf und die klare Stirn eines Weisen. Geduldig wartete ich, und Motełe handelte :

    »Und was sehe ich? Krakau sehe ich, und was schlimmer ist, von dort sieht man mich auch . . .«

    Er zerrte an den Knickerbockern und drehte sie aufmerksam nach allen Seiten. Die Hosenbeine flatterten im Wind.

    »Jeder beliebige Fetzen beansprucht heilige Geduld, wie der Mensch auch. Ich stehe hier mit Euch und rede ; die Hosen taugen nichts, die Fasson ist veraltet, keine Schnalle, und unterdessen rennt die Zeit davon. Wem soll ich das verkaufen?«

    Und wem verkaufte er das? Vor dem Krieg gab es da so eine Marktbude auf dem Pociejów. Man konnte dort eine Hutschachtel aus Pappe hintragen. Sie beguckten sie von der einen Seite, sie beguckten sie von der anderen Seite, fragten, woher das stammte, und ob die Schwiegermutter nicht ihrs zurückfordern würde, taxierten die Sache, und dann zahlten sie. Einen Groschen, einen halben Groschen, aber sie zahlten. Das nächste Mal wusste der schlaue Kerl schon, wohin mit dem alten Hut. Reklame. Nun ja, aber das waren Vorkriegszeiten und Vorkriegspappe. Wer hat schon heute noch so was? Die Zeiten ändern sich, und niemand wird von Motełe solche Hosen kaufen. Ruhig , ruhig. Alles kann man sagen, alles kaufen und alles verkaufen . . . Alles kann man umarbeiten, dass es wie neu aussieht. Hat Motełe schlecht gesprochen? Gut hat er gesprochen, genau so gesund möge er sein bis zum nächsten Schabbes, amen. Aber der Preis muss ein bisschen, ein bisschen . . . auf Zuwachs, da könne er zwar bei Kinderkleidung überbezahlen, aber nicht bei Hosen für einen erwachsenen Mann von ein Meter achtzig und siebzig Zentimetern Bundweite, den Hemdkragen nicht mitgerechnet.

    »Hier ’ne Heftnaht, dort ’ne Heftnaht, allein für Garn gehen zehn Złoty drauf. Arbeitslohn, Material, es kommt genug zusammen. Und wo ist mein Gewinn? Ich sehe keinen. Aber was sehe ich? Krakau durch diese Hosen sehe ich, und was das schlimmste ist, von dort sehen sie mich auch. Und sie lachen. So sehen meine Geschäfte aus. Und die Tasche? Durchlöchert! Warum durchlöchert? Beinah hätte ich mich selber angeschmiert! So geht’s im Leben. Der eine schlägt was für sich raus, der andere schlägt nichts für sich raus, und wenn sie auf die Straße gehen, gleich geraten sie sich in die Wolle!«

    Der Besitzer der unglückseligen Knickerbocker mit Schottenmuster trug sein Geld davon, das ein Viertel Kilo Brot wert war. Motełe-Kaufmann ging weiter, und ich, der ich meinen Auftrag ganz vergessen hatte, schlich hinter ihm her und lauschte seinen Gesprächen mit den Passanten.

    Es war schon spät, als er mich und meinen Sack bemerkte. Er fragte :

    »Was hast du da?«

    Mein Sack war leichter als der Sack des Händlers. Ich hatte den schwarzen Ausgehanzug meines Vaters von Zuhause mitgenommen. Er war damit einmal beim Zahnarzt und zweimal im Kino gewesen. Ich hatte in diesem Sack noch etwas. Motełe kehrte die Innenseite des Jacketts nach außen, betastete das Futter, und seine flinken langen Finger glitten rasch über die Nähte des Kleidungsstückes. Er jammerte :

    »Aj waj, was sehe ich? Die Krochmalna-Straße sehe ich . . . Mordarski stolziert in seinem fast neuen Anzug einher, den er von mir gekauft hat für den halben Preis. Und ich sehe ihn. Und was schlimmer ist, er sieht mich auch. Und er sagt, dass er den von mir nicht kauft. Wozu braucht er einen zweiten Anzug? Einen schwarzen? Das soll ein Futter sein. In solchem Zustand. Wer kauft das von mir in solchem Zustand?

    Die Ellenbogen ausgebeult – die Hosen abgewetzt, und das Jackett fast ohne Futter. Die Reparatur kommt teurer als die Ware, wie man’s auch dreht. Ich verliere bloß Zeit und Geld. Und wo ist die Weste?«

    Die Weste hatte ich tief unten versteckt und auf diesen Augenblick gewartet. So hatte die Mutter befohlen. »Die Weste versteck! Zeig sie erst her, wenn er selber danach fragt. Ich kenne doch Motełe.« Es ging um den Preis. Lange

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