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Krautrock: Gegenkultur, LSD und kosmische Klänge
Krautrock: Gegenkultur, LSD und kosmische Klänge
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eBook660 Seiten10 Stunden

Krautrock: Gegenkultur, LSD und kosmische Klänge

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Über dieses E-Book

"KRAUTROCK ist ein Buch für Fans, Entdecker, Freunde origineller, schrulliger, schräger, einzigartiger und unglaublicher Musik made in Germany, die sich nicht nur für Fakten, sondern auch für das Phänomen, die Atmosphäre und den Zeitgeist interessieren."
(Gitarre & Bass)

Am Anfang war das Schmähwort: "Krauts" wurden deutsche Soldaten von den Briten im Zweiten Weltkrieg genannt. Als "Krautrock" bezeichneten Ende der Sechzigerjahre Journalisten weltweit alles, was musikalischen Ursprungs aus Deutschland daherstampfte, bevor der Begriff schließlich vor allem für experimentelle, anspruchsvolle Musik und psychedelisch angehauchten Art-Rock verwendet wurde. Vielseitige Gruppen wie Amon Düül, Faust, NEU! und Can definierten das Genre, ausufernde Klangwände, flirrende Elektronik und "kosmische Musik" bereiteten den Boden für Industrial und Techno. Auf Grundlage von Gesprächen mit Musikern und Zeitzeugen vermittelt Henning Dedekind das Lebensgefühl einer Zeit, die vom Vietnamkrieg und der Anti-Atomkraft-Bewegung geprägt wurde. Er analysiert die unterschiedlichen musikalischen Spielarten und zeigt auf, warum der Krautrock schließlich unterging und was von ihm geblieben ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberZweitausendeins
Erscheinungsdatum8. Dez. 2021
ISBN9783963181399
Krautrock: Gegenkultur, LSD und kosmische Klänge

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    Buchvorschau

    Krautrock - Henning Dedekind

    I. Krautrock – eine Spurensuche

    Ende der Sechziger befindet sich Deutschland im gesellschaftlichen Umbruch: Eine junge Generation revoltiert gegen Bürgertum, Springer-Presse, den Muff unter den Talaren und amerikanische Vormundschaft. Mit der geistigen Loslösung von der Bundesrepublik der Eltern geht die Ablehnung der bestehenden kulturellen Werte einher. Die angloamerikanische Popmusik bietet einen Ausweg. Doch der Vietnamkrieg zerstört schließlich auch den Freiheitsmythos Rock’n’Roll …

    Beseelt von dem Gedanken, über Neugier und Offenheit den Weg zu einer deutschen Identität innerhalb der modernen Popkultur zu finden, machen sich bundesweit Musiker auf die Suche nach einem eigenen Sound. In Köln formieren sich Can, in Düsseldorf Kraftwerk, in Berlin Tangerine Dream, und aus einer Münchener Kommune heraus entsteht die multimedial konzipierte Gruppe Amon Düül. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen: Ash Ra Tempel, Cluster, Faust, Guru Guru oder Kraan.

    Die deutsche Rockmusik befreit sich von ihren angelsächsischen Fesseln und setzt zu einem Quantensprung an: Anarchische Klangwände, wirre Elektronik und »kosmische« Musik, nicht selten unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Drogen eingespielt, bereiten den Boden für spätere Stilentwicklungen wie Techno oder Industrial. Auch jenseits des Ärmelkanals wird man bald hellhörig und prägt einen etwas abfälligen Begriff für die erstaunt bis misstrauisch beobachteten Umtriebe der schwerblütigen Teutonen: Krautrock.

    Nach einer radikalen Bildersturmphase verliert die Bewegung jedoch rasch wieder an Schwung. Die anfängliche Euphorie weicht leerem Bombast und einer Rückkehr zu traditionellen Formen. Wenig später wird die Republik von der »Neuen Deutschen Welle« überrollt … Ist die Krautrock-Revolution gescheitert? Was ist geblieben? Wie bewerten die Musiker der Ära ihr Schaffen selbst? Welche Ereignisse, Erfahrungen und welche Musik haben sie geprägt?

    Diesen und vielen weiteren Fragen geht das vorliegende Buch nach. Interviews mit Mitgliedern richtungweisender Gruppen und Zeitzeugen bilden die Basis der Recherchen und führen den Leser durch den Text. Natürlich können (oder wollen) hier nicht alle zu Wort kommen. Natürlich fehlt für den einen oder anderen DIE beste Schallplatte oder DAS wichtigste Festival. Um eine lückenlose Aufzählung und Katalogisierung geht es aber auch gar nicht. Vielmehr setzt sich während der Krautrock-Spurensuche aus unterschiedlichsten Fundstücken das Bild einer spannenden Zeit zusammen, in der Musik, politische Einstellung und das Lebensgefühl einer ganzen Generation miteinander verschmolzen.

    Eine Zeit, die weit mehr als nur eine Fußnote der Musikgeschichte sein sollte, da in diesen wichtigen Jahren der Grundstein für die moderne deutsche Musikszene gelegt wurde. Zwar mag uns vieles von dem, was einst als revolutionär galt, heute antiquiert und überkommen erscheinen, doch liegt dies gerade daran, dass viele Elemente des Krautrock mittlerweile zum festen Bestandteil moderner Pop- und Rockmusik geworden sind. Deutsche Popmusik ist für uns heute etwas ganz Selbstverständliches. Damals war sie ein Aufbruch ins Ungewisse.

    II. Unkraut vergeht nicht:

    Faszination Krautrock

    Im Juli 2006 feierte in London eine Partyreihe Jubiläum, die sich unter dem Banner »The Kosmische Club« einer gänzlich unbritischen Musik verschrieben hatte. Nach der Auftaktveranstaltung 1996 war »die einzige Krautrockdisko der Welt«, wie die Betreiber warben, rasch zu einer Institution im Nachtleben der englischen Hauptstadt geworden, nicht zuletzt durch eine wöchentliche Radiopräsenz beim angesagten Sender Resonance 104.4 FM. Mit alledem trug man einem Trend Rechnung: Eine junge Szene hatte die wagemutigen Experimente deutscher Musiker aus den Sechzigern und Siebzigern für sich entdeckt.

    Seit den Neunzigern berufen sich in Großbritannien mehr und mehr klassisch besetzte Rockgruppen auf die Errungenschaften deutscher Soundtüftler. Auch Musikzeitschriften wie The Face, Q-Magazine oder Mojo widmen dem fast vergessenen deutschen Rock-Phänomen seitenweise Aufmerksamkeit: In der Flut gleich klingender Neuerscheinungen versprechen die Aufnahmen von Faust, NEU! oder Harmonia offenbar einen interessanten, kreativen Ausweg. Nick McCarthy, Keyboarder und Gitarrist der schottischen Gruppe Franz Ferdinand, der nach seinem Musikstudium sogar eine Lehrzeit bei der Münchener Kraut-Legende Embryo absolvierte, gibt eine Bestandsaufnahme der Post-Millenium-Popszene:

    »Ich finde, dass schon seit ein paar Jahren wieder eine totale Aufbruchstimmung herrscht. Trotzdem sehe ich jetzt aber nicht DIE grandiose NEUE Musik auf mich zukommen. Es gibt ein derart riesiges Angebot, dass keiner mehr weiß, was er eigentlich denken soll. Überall ist Musik, aber was ist wichtig? Keine Ahnung. Ich finde Embryo und die frühen Amon Düül unglaublich. Tonangebend. Und Can natürlich, das ist immer noch ein Riesen-Einfluss.«

    Wie nachhaltig dieser Einfluss wirkt, zeigen regelmäßig Veröffentlichungen bekannter und weniger bekannter Gruppen: So kokettieren Coldplay 2002 mit deutscher Schreibweise (»Politik«), und auf dem Debütalbum der Early Years von 2006 findet sich nicht nur eine Variation des NEU!-Stückes »Hallo Gallo« (»All Ones and Zeros«), sondern auch ein eigener Song namens »Muzik der Fruhen Jahre«. Krautrock-Schick.

    »German Invasion« in den USA

    Späte Würdigung erfahren Amon Düül, Faust oder NEU! zunehmend auch in den Vereinigten Staaten. Schon im Januar 1996 widmete die altehrwürdige Washington Post der »deutschen Invasion« ein Special und betonte, dass britische Bands zwar stets die bessere Presse bekommen hätten, der »teutonische Einfluss« jedoch weit größer gewesen sei – insbesondere auf Musiker in den USA. Auch die junge Musikergeneration atmet gern den Hauch der deutschen Rockgeschichte. Brandon Curtis, Bassist, Keyboarder und Sänger der New Yorker Secret Machines, geriet Ende 2006 ins Schwärmen:

    »Bands wie Kraftwerk und NEU! veröffentlichten auf ihren Platten Musik, wie man sie noch nie zuvor gehört hatte. Bis zum heutigen Tage klingt sie, als würde sie erst morgen geschrieben. ›Immer wieder‹ von NEU! etwa ist eine unglaubliche Komposition, und die Instrumentierung ist revolutionär. Die eindringlichen Gesangspassagen, die schillernden Gitarrenfiguren und der pulsierende Rhythmus der Synthesizer und Schlaginstrumente erzeugen ständig wechselnde Stimmungen und Spannungszustände. Das war mehr als nur ein Song, den ich einfach nur nachspielen wollte, sondern vielmehr eine Lehrstunde in Musik, die ich unbedingt verinnerlichen musste. Ich glaube, damals war noch niemand bereit für dieses Maß an Kreativität.«

    Überdauern in der Sammler-Nische

    Bis zu seiner Wiederentdeckung fristete der Krautrock ein isoliertes, aber relativ unbeschadetes Nischendasein in kleinen kulturellen Biotopen. Altgediente Bands wie Grobschnitt oder Jane tingelten, entgegen sämtlicher Trends, unermüdlich über die Bühnen deutscher Dorfdiskos. Vereinzelt hielten auch jüngere Gruppen die Krautrock-Fahne hoch – etwa die Mitte der Achtzigerjahre in Hamburg gegründeten Passierzettel, die mit ihren »psychedelektronischen Improvisationen« direkt an das Werk ihrer Vorbilder anknüpften. Später trat die Formation regelmäßig mit Lothar Meid auf, der als Mitglied von Embryo und Amon Düül II zum Urgestein des Krautrock zählt.

    Derweil reiften die Platten der deutschen Rockveteranen in einschlägigen Secondhandläden weltweit zu gefragten Sammlerstücken heran. Bei Haggle Records im Londoner Stadtteil Islington etwa findet sich unter der Rubrik »German Rock« ein guter Regalmeter mit Aufnahmen von Can, Ash Ra Tempel, Kraftwerk und Faust. »Die seltenen deutschen Sachen sind immer gleich weg«, sagt Lynn Alexander, der hinter einer Theke aus alten Katalogen und Memorabilia als Meister des Chaos residiert. Schallplatten der verschwundenen Krautrock-Labels Ohr, Pilz und Brain werden mit Preisen bis zu 100 Pfund gehandelt. Angelsächsische Zeitgenossen mit vergleichbarer Erfolgskurve – Gong, Touch, Wigwam, Egg, Henry Cow – sind hingegen großteils in Vergessenheit geraten. Ein paar Ecken weiter bei Flashback Records erklärt Nathan Bennett, ein langhaariger Enddreißiger und wandelndes Rocklexikon, mit ernster Miene die Bedeutung des Krautrock: »Diese Künstler haben ihren europäischen Hintergrund akzeptiert und kultiviert. Dadurch erhielt ihre Musik eine sehr direkte und ehrliche Ausdruckskraft, alles klang vollkommen frisch und interessant. In England hat man das schon sehr früh erkannt.«

    Nicht nur in England: Bei einem Urlaubsbummel über einen mexikanischen Flohmarkt verblüffte Nick McCarthy das breit gefächerte CD-Angebot: »Da gab es die schwarz gebrannten Greatest Hits von allen möglichen Bands – und mittendrin Embryo.« Lothar Stahl, ehemaliger Schlagzeuger der Polit-Band Checkpoint Charlie, die als eine der ersten Gruppen Rockmusik mit deutschen Texten verband, berichtet von einer Reise in die Türkei: »Vor drei Jahren waren wir in Istanbul. Ein paar Leute, die dort ein Studio haben, haben uns eingeladen, bei ihnen Aufnahmen zu machen. Die haben alles aus der deutschen Krautrockszene gekannt. Da habe ich mich schon gewundert. Auch in Italien gibt es etliche Krautrock-Spezialisten.« Ein besonderes Faible für die kosmischen Klänge aus Deutschland haben sich seit jeher die Japaner erhalten: Die Besucher des inzwischen geschlossenen Tokyo Wax Museum begrüßte – mit starrem Blick und umgeschnallter Gitarre – ein ewig junger Manuel Göttsching, einst Gründer der Berliner Band Ash Ra Tempel.

    Prophet im eigenen Land:

    Legendenpflege …

    In Deutschland hingegen sei es dem Krautrock viel zu lange »wie dem Propheten im eigenen Land« ergangen, beschreibt Stahl das mangelnde Interesse seiner Landsleute an der eigenen Rockszene. Das alte Klagelied gilt jedoch längst nicht mehr uneingeschränkt: Seit die deutsche Plattenindustrie das Marktpotenzial hinter dem neuen, internationalen Interesse erkannt hat, erlebt der Krautrock auch hierzulande eine kommerzielle Renaissance. Sorgfältig runderneuerte Alben von Can oder Kraan sind ebenso erhältlich wie inflationäre CD-Pakete mit Schlagwort-Titeln à la »Macht das Ohr noch einmal auf und hört den Sound der Pilze«. Der deutschen Ausgabe des Rolling Stone liegt im Juli 2004 ein eigener Krautrock-Sampler bei, und das WDR-Fernsehen strahlt 2006 eine sechsteilige Serie unter dem Titel Kraut und Rüben aus. Totgesagte Bands tauchen aus der Versenkung auf oder veröffentlichen, wie jüngst Exmagma, längst verschollen geglaubte Aufnahmen. Mancher Krautrock-Protagonist indes sieht die Wiedererweckung der deutschen Siebziger aus abgeklärter Distanz. Hellmut Hattler: »Es ist in Mode gekommen, sich darauf zu berufen, und das wird sich auch wieder ändern. Diese Zeit wird heute ein Stück weit verklärt.«

    Dabei pflegen diejenigen, die dabei waren, sorgsam die eigene Legende. Auf ihrer Tournee 2007 ließen Kraan alte Super-8-Filme aus seligen Wintrup-Tagen hinter die Bühne projizieren. Anfang desselben Jahres sorgte eine freizügige Verfilmung für Furore: Das wilde Leben von Ex-Kommunardin und Supergroupie Uschi Obermaier. Fast hätte man vergessen, dass die hübsche Münchnerin ihre bewegte Karriere einst als Percussionistin bei Amon Düül begann. Jahrzehnte nach ’68, APO, LSD und den Anfängen der RAF ist auch der Krautrock stets ein dankbares Thema: im Zuge eines neu erwachten Geschichtsbewusstseins, als Soundtrack zu Demo, Kommune und Hausbesetzung. Hans-Joachim Irmler, Organist von Faust, die als eine der radikalsten Gruppen ihrer Zeit gelten, freut sich über die ungebrochene Faszination: »Ich glaube, dass man die Konsequenzen dieser Zeit bis heute noch nicht richtig einschätzt. Vielen war das damals alles ein Dorn im Auge. Man wollte einfach nicht, dass jemand noch einmal so viel Freiheit hat wie wir damals hatten.«

    Diese Freiheit im Denken, diese zuweilen halb ironische, umstürzlerische Respektlosigkeit ist es, die Menschen wie Nathan Bennett immer wieder in ihren Bann zieht: »Faust sind vor einiger Zeit in der Garage, einem Club gleich hier an der Ecke Highbury/Islington aufgetreten. Am Ende ihres Konzerts haben sie Tränengas versprüht und wurden dafür mit Hausverbot belegt. Haha! Großartig!«

    III. Was heißt hier Krautrock?

    »Krautrock ist nach wie vor ein schwieriges Wort. Wir haben es nie benutzt.«

    – Roman Bunka, Gitarrist und Oud-Spieler unter anderem bei den »Erfindern« des Ethno-Pop, Embryo, und der Herforder Jazz-Krautrock-Gruppe Missus Beastly –

    »Der Ausdruck ›Krautrock‹ hat mich damals nicht gestört, auch wenn das vielleicht ein bisschen abfällig gemeint war. Heute ist es ein Qualitätsbegriff. Ein Musiker hat den Begriff ›Krautrock‹ jedenfalls nicht erfunden – es sind andere Leute, die sich um so etwas Gedanken machen.«

    – Lothar Stahl, Schlagzeuger unter anderem bei den Karlsruher Deutschrock-Pionieren Checkpoint Charlie –

    »›Kraut‹ war für mich ein Schimpfwort. Da war ich nicht drauf aus, und mit dieser ganzen Szene wollte ich auch nichts zu tun haben. Ich wollte mich schleunigst davon absetzen. Das konnten wir nur, wenn wir so viel Erfolg hatten, dass man uns ›Kraut‹ nicht mehr unterstellen konnte. Wir mussten also in den offiziellen Charts auftauchen. Das war bis dato für eine deutsche Band durch Plattenverkäufe nicht möglich.«

    – Frank Bornemann, Sänger und Gitarrist der Hannoveraner Band Eloy, ehemaliger Produzent der Scorpions –

    »Die Scherben sind kein Krautrock, Embryo ist kein Krautrock. Krautrock ist etwas, das woanders gewachsen ist – Eloy, Hölderlin und was es in dieser Ecke nicht alles gab. Die Band, die immer dazwischen stand, war Can. Es war schon phänomenal: Man konnte sie nirgends einordnen. Die Leute von der Industrie sind immer die Ersten, die eine Schublade für die Vermarktung brauchen. ›Krautrock‹ war ein Begriff, der dann auch international akzeptiert und erfolgreich wurde. Darunter verstand man aber meistens diejenigen Bands, die schon etwas erfolgreicher waren als die Szene, von der wir hier sprechen. Für uns war ›Krautrock‹ daher immer schon mehr an den Konsumgeschmack, den Publikumsgeschmack angelehnt.«

    – Othmar Schreckeneder, Musikmanager und Gründer von Schneeball Records –

    »Was man gemeinhin unter Krautrock versteht, das sind vielleicht fünf Bands. Später hat man da alles mögliche noch dazu gepackt. Das war ein Markenartikel, der sich gut verkauft hat.«

    – Hans-Joachim Irmler, Keyboarder der in Hamburg gegründeten Krautrock-Legende Faust –

    »Ich glaube nicht, dass es Krautrock als Bewegung gab. Es gab einfach ein paar Marketing-Leute, die ein paar Bands unter Vertrag genommen haben, die dann einem bestimmten Etikett gerecht werden mussten. Labels wie Pilz oder später Brain haben versucht, ein Etikett auf die Flasche zu kleben, was natürlich auch legitim ist. Wenn es ein Etikett gibt, bekommt so eine Sache gleich viel mehr Schwung. Ich bin auch schon mal mit Elton John verglichen worden. Warum, habe ich gefragt; wegen der Brille, hat es dann geheißen. Na gut.«

    – Hellmut Hattler, unter anderem Bassist der Ulmer Formation Kraan, Fehlfarben, Tab Two –

    »Das Harmonia-Album ›Deluxe‹ war für mich der Moment, in welchem diese Musik, die ich eigentlich nur mit ein paar wenigen Bands in Zusammenhang gebracht hatte, zumindest für mich zu einer Bewegung wurde, zu etwas Größerem als nur einer zufälligen (stilistischen) Ähnlichkeit. Ich glaube, der Begriff Krautrock hat sich über seine wörtliche Bedeutung hinaus entwickelt und steht heute für eine ganz bestimmte Ästhetik.«

    – Brandon Curtis, Sänger, Bassist und Keyboarder der New Yorker Band The Secret Machines –

    »Ich finde, dass Can, Embryo und Amon Düül schon etwas gemeinsam hatten. Bei Can war dieses Motorische gemischt mit einer gewissen Mystik. Das war alles eben auch sehr psychedelisch, wie damals weltweit.«

    – Nick McCarthy, Gitarrist, Keyboarder und Sänger der schottischen Band Franz Ferdinand –

    Wort und Unwort

    Um die Frage, wer den Begriff Krautrock nun tatsächlich erfunden hat, ranken sich zahlreiche Legenden. Eine davon besagt, ein subversiv betiteltes Stück der Münchener Amon Düül habe die Vorlage geliefert: »Mama Düül und ihre Sauerkraut-Band spielt auf«. Dem widersprechen andere Kraut-Protagonisten freilich vehement, zumal das einstige Unwort inzwischen als Marke salonfähig geworden ist. »Den Begriff Krautrock gab es gar nicht – auch, wenn Amon Düül behaupten, das käme von ihrem Lied«, sagt Hans-Joachim Irmler von Faust. »Aber Sauerkraut und Krautrock ist doch noch ein gewisser Unterschied, oder?«

    Als gesichert gilt jedenfalls, dass »Krautrock« nicht aus deutschen Wortschmieden stammt, sondern eine britische Erfindung ist. Wurden die Deutschen bereits in den Weltkriegen aufgrund ihres Sauerkrautverzehrs verächtlich als »Krauts« tituliert, so lag es nahe, auch der Musik der ehemaligen Gegner ein entsprechendes Etikett anzuheften. »Krautrock« verwies dabei nicht nur auf Rockmusik »Made in Germany«, sondern stellte gleichsam einen Widerspruch in sich dar: Die schwerblütigen, gemütlichen, rationalen Krauts und die lockere, freie Jugendmusik aus Amerika – zusammen eine mehr als lächerliche Vorstellung! Peter Leopold, Schlagzeuger von Amon Düül und Amon Düül II, bestätigt dies mit dem ihm eigenen Wortwitz: »Das Etikett ›Krautrock‹ haben uns die Engländer mit dem entsprechend negativen Wortsinn verpasst. Die haben das als Anti-Radar-Symbol erfunden.«

    Taufpate, so wollen verschiedene Quellen wissen, sei der legendäre BBC-Radiomoderator John Peel gewesen. »Das ist ganz falsch«, winkt Hans-Joachim Irmler ab. »Bei wem das richtig eingeschlagen hat, das war Ian McDonald. Der war damals beim NME (New Musical Express). Er war ein begeisterter Anhänger der Musik, die aus Deutschland kam. Er hörte das Lied und war begeistert, weil es den Nagel auf den Kopf traf.« Bei dem angesprochenen »Lied« handelt es sich um das erste Stück der LP Faust IV aus dem Jahre 1973: »Krautrock«. Tatsächlich stellt der Titel aber nur eine Reaktion auf die von den Briten gebrauchte Bezeichnung dar, eine selbstironische Flucht nach vorn. Faust, die vor allem in England größere Erfolge verzeichneten, hatten freilich keinen Grund, sich hinter ihrem Deutschsein zu verstecken. Im Gegenteil: Man unterstrich voller Selbstbewusstsein die eigene Leistung. »Die Verknüpfung von Kraut und Rock ist entstanden, weil wir klarmachen wollten, wir sind nicht diese ›Krauts‹, für die ihr uns haltet und die ihr so hasst«, erklärt Irmler. »Wir spielen aber auch nicht diesen ›Rock‹, den ihr uns an den Hals hängen wollt. Also haben wir gesagt, jetzt machen wir mal so ein richtig fettes Lied, und das nennen wir dann ›Krautrock‹.«

    Krautrock als Geisteshaltung

    Wer immer die Wortschöpfung für sich beanspruchen darf – die musikalische Bandbreite jedenfalls ist enorm und macht eine genaue Einteilung in »Krautrock« und »Nicht-Krautrock« beinahe unmöglich: Am einen Ende der Skala dekonstruierten Faust mit Pressluftbohrern und Flipperautomaten die Fundamente der Rockmusik und legten bereits mit ihrem Debüt den Grundstein für Industrial-Rock und heutige Sampling-Techniken. Den Gegenpol bildeten Kraftwerk, die in monotonen Rhythmen und kühlen Melodien das Konzept der Maschinenmusik bis zu dessen logischer Konsequenz durchexerzierten und damit wiederum eine Basis für die künftige Entwicklung afroamerikanischer Musik schufen. Dazwischen eröffnete sich ein weites Feld unterschiedlichster deutscher Gruppen, deren Klangexperimente an der Schnittstelle von technologischem Fortschritt und Bewusstseinserweiterung so vielfältig waren wie die Persönlichkeiten der Musiker – vom Space-Rock der Amon Düül II über die Trance-Landschaften von Tangerine Dream bis hin zur östlich gefärbten Mystik von Popol Vuh. Krautrock (zumindest im Sinne dieses Buches) ist daher weniger ein klar definierter, einheitlicher Stil als vielmehr eine gemeinsame Geisteshaltung: Der Wille, alles Alte in Frage zu stellen, neue Territorien zu erkunden und so schließlich eine eigene musikalische Sprache zu entwickeln.

    TEIL I:

    Vorgeschichte

    1. Bundesrepublik-Blues:

    Schlagermuff und Nazi-Erbe

    »Die Kriegsgeneration war von allem abgeschnitten. Wenn sie besoffen waren, haben sie vom Krieg geredet und von den Gräueltaten. Danach setzte der Verdrängungsmechanismus wieder ein.«

    – Hellmut Hattler –

    »In Deutschland gab es eine Schlagerkultur, und alles, was neu war, kam am Anfang aus anderen Ländern, auch die Protagonisten der elektrischen Musik.«

    – Roman Bunka –

    Neubeginn in Trümmern:

    Die »Stunde Null«

    Nach Kriegsende steht die deutsche Musikindustrie vor einem schwierigen Neubeginn: Es herrscht nicht nur ein akuter Mangel an Gerät und Material, sondern schlicht auch an »politisch korrekter« Musik.

    Unter der Herrschaft der Nazis wurden jüdische Musiker wie die Comedian Harmonists mit Auftrittsverbot belegt oder im Konzentrationslager ermordet, andere (etwa Walter Jurmann, Autor von »Veronika, der Lenz ist da«) konnten rechtzeitig emigrieren. Mit ihnen verschwand die frivole Leichtigkeit und Freiheit der »Wilden Zwanziger« aus Text und Musik. Der Schlager fiel der Gleichschaltung zum Opfer und wurde fortan als Propagandainstrument missbraucht. Noch kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch des »Tausendjährigen Reiches« versuchte das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda vergeblich, über den Äther die Stimmung zu heben – und machte dabei an sich harmlose Titel wie »Davon geht die Welt nicht unter« oder »Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern« zu beschwingten Durchhalteparolen.

    Als Ende 1945 die ersten Rundfunkstationen den Sendebetrieb wieder aufnehmen, erhebt sich auch die Schallplattenindustrie langsam aus den Trümmern und versorgt den deutschen »Otto Normalverbraucher« (verkörpert von Gert Fröbe in dem Spielfilm Berliner Ballade) zunächst mit leichter Kost: »Wer soll das bezahlen?«, fragt man sich in »Trizonesien«, wie das dreigeteilte Westdeutschland in einem beliebten Stück scherzhaft genannt wird. Der Schlager ist nun ein willkommenes Mittel, die oft hoffnungslose eigene Situation für ein paar Minuten zu vergessen, wenn auch nicht ganz ohne Galgenhumor.

    Mit der Vergangenheit versucht man recht und schlecht abzuschließen, um nicht zur Salzsäule zu erstarren. Irmin Schmidt, Organist der Kölner Gruppe Can, erinnert sich: »Ich bin 1937 geboren, zu Kriegsende war ich acht Jahre alt. Von einem Tag auf den anderen bin ich in Nürnberg gelandet – nur Ruinen, wohin man blickte, und es stank grässlich. Wenn man als einzige Erinnerung das Berlin von früher hatte oder Salzburg, war das ein großer Schock, der fürs Leben reicht.«

    Vakuum im Wirtschaftswunderland

    Während der langen Adenauer-Ära bleibt die Vergangenheitsbewältigung tabu. Der Blick zurück auf die Wurzeln der eigenen Kultur ist durch deren Missbrauch und Pervertierung verstellt; eine Mauer des Schweigens trennt die musikalischen Errungenschaften der »Goldenen Zwanziger« oder die Berliner Jazzszene der späten Dreißigerjahre von der Gegenwart. Für neue, eigene Impulse fehlt der besiegten Nation noch das Selbstbewusstsein. In der Bundesrepublik entsteht ein kulturelles Vakuum.

    Mit Nazi-Deutschland ist die deutsche Kultur somit nicht nur untergegangen – »Adolfs langer Arm«, wie sich der Musiker Heinz-Rudolf Kunze einmal ausdrückte, verhindert auch ihre Wiederauferstehung. »Wir stammen aus einer Generation, die, als sie anfing, Kunst wahrzunehmen, in einem Trümmerhaufen stand«, sagt Schmidt. »In einem Land, dessen gesamte Kultur so aussah wie die Städte: zerstört, abgeschafft.« Deutschland sei nach dem Dritten Reich »an einem kulturellen Nullpunkt angelangt«, bestätigt der ehemalige Missus-

    Beastly-Gitarrist Roman Bunka. »Ich denke, dass es eine große Rolle spielte, dass man auf einer verwüsteten Kultur aufbaute.«

    Fluchtverhalten in verschiedensten Ausprägungen – ob in den Alkoholismus oder in die Science-Fiction-Welten eines Perry Rhodan – ist für die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik symptomatisch. Konsum wird zur fast kultischen Ersatzhandlung. Man reist im Goggomobil oder im Käfer nach Italien, frisst sich mit Eisbein und Klößen die Bäuche dick und »ist wieder wer« – froh, noch einmal davon gekommen zu sein.

    Die heile Welt der neuen Wohlstandsgesellschaft findet in der populären Musik jener Tage ihr Abbild: Das »Volkslied der Demokratie«, wie der Publizist Helmuth de Haas den Schlager einmal bezeichnete, verklärt mit unkritischen Idyll-Klischees von Heimat und Liebe den Alltag in der jungen Bundesrepublik. Während in den frühen Fünfzigern der Rock’n’Roll bereits den Unmut der amerikanischen Elterngeneration auf sich zieht, begleiten hierzulande Künstler wie Peter Alexander und Margot Eskens die Deutschen auf ihrem Weg ins Wirtschaftswunderland. Zum geflügelten Wort wird der Titel eines Cha-Cha-Stücks von Hazy Osterwald: »Geh’n sie mit der Konjunktur«.

    »Keine Experimente«:

    Braune Altlast und Doppelmoral

    »Mein Opa hat immer gesagt, ›Ei wie nett, der Peter im KZ‹ – und ich rüttelte an den Gitterstäben.«

    – Peter Leopold, Schlagzeuger von Amon Düül –

    Nach dem enormen Schwung der Anfangsjahre weist das System der Kanzlerdemokratie Ende der Fünfzigerjahre erste Anzeichen der Erstarrung auf. »Keine Experimente« lautet 1957 der Wahlslogan der regierenden CDU. Diese Politik der Bewahrung ist begleitet von einem aggressiven Antikommunismus und einer offensichtlichen Blindheit auf dem rechten Auge: Nicht selten gelangen belastete Personen in der jungen Bundesrepublik wieder in Führungspositionen. »Als ich in den Sechzigern Musikwissenschaften studiert habe, hat unser Professor Sprüche gemacht wie ›Die Afrikaner haben größere Schädeldecken und eine kleinere Gehirnmasse‹«, erzählt Embryo-Gründer Christian Burchard. »In seiner Vorlesung! Für den waren das Primitive. Das war noch der Nazi-Gedanke.« Braunes Gedankengut gedeiht unterschwellig weiter an Schulen, in Familien und in Betrieben. Hans-Joachim Irmler erinnert sich an die unerträgliche Doppelmoral jener Jahre:

    »An der Schule herrschte Zucht und Ordnung. Die Rektoren und die Richter waren alles ehemalige Nazis, die erstaunlicherweise von heute auf morgen entnazifiziert waren. Man durfte den Vater nicht fragen, wie es im Krieg gewesen war, und den Opa auch nicht. Natürlich wollten wir uns von diesem ganzen Wust befreien, diesem ganzen Dritten Reich, von dem man nur hinter vorgehaltener Hand sprechen durfte. Das war eine heftige Altlast.«

    »Halbstarke« und »Negermusik«

    Die traumatisierte Nachkriegsjugend passt sich der Kultur der Besatzer an. »Deutschsein« gilt als verpönt, Amerika und technischer Fortschritt werden zum Synonym für eine lebenswerte Zukunft. In der Schlagerindustrie hat man den Kontakt zur Jugend längst verloren. Musik und Text werden nach Vorkriegsmuster an der neuen, kaufwilligen Zielgruppe vorbeiproduziert, die sich ihre »Negermusik« lieber aus Übersee holt. Wer die eigenen Platten nicht in der Musiktruhe der Eltern abspielen darf, weil im Wohnzimmer Onkel und Tante beim Kaffee sitzen, trifft sich sonntagnachmittags in Vereinsheimen oder im örtlichen Gemeindehaus zum Musikhören und Tanzen. Der tragbare Plattenspieler wird zum Statussymbol, Opas Dampfradio stellt über Radio Luxemburg oder AFN (American Forces Network, der Rundfunk der US-Armee) den Kontakt zur Welt außerhalb des deutschen Schlagersumpfs her.

    Im Jahre 1955 schießt Bill Haleys »Rock Around the Clock« aus dem Film »Saat der Gewalt« an die Spitze der deutschen Hitparade. Obwohl bald auch deutsche Interpreten wie Peter Kraus (»Sugar Sugar Baby«) oder Ted Herold (»Moonlight«) eine brave Variante des Rock’n’Roll präsentieren, bleiben sie doch Imitationen. Als Haley drei Jahre später als erster amerikanischer Rock-’n’-Roll-Star auch in Deutschland auftritt, zeigt sich das andere Gesicht einer Jugend, die nicht in den Schemata einer sich selbst verleugnenden Kriegsgeneration verharren will, sondern aufbegehrt: In Essen, Hamburg, Berlin und Stuttgart kommt es zu Tumulten, Stühle werden zertrümmert. Der Rheinische Merkur nennt Haley einen »Komet der Triebentfesselung«. Allein im Berliner Sportpalast entsteht ein Schaden von über 50.000 Mark – jenseits der Mauer süffisant kommentiert vom SED-Organ Neues Deutschland, das in den Ausschreitungen eine »Orgie der amerikanischen Unkultur« sieht. »Rock Around the Clock« wird zur Halbstarken-Hymne, die US-amerikanischen Rock’n’Roller zu neuen Jugendidolen, welche mit Texten über Teenager-Nöte und Freizeitspaß gegen den Mief der Fünfziger ansingen – eine Stellvertreterfunktion, die das Genre Rockmusik bis zum Punk der späten Siebziger kennzeichnen soll.

    Der Staat steht dem neuen Lebensgefühl seiner Jugend hilflos gegenüber. Häufig kommt es zu Überreaktionen gegen Subkultur und »linke« Presse. Im Oktober 1962 gehen die Behörden mit der Begründung des Landesverrats rücksichtslos gegen das Hamburger Nachrichtenmagazin Spiegel und seinen Herausgeber Rudolf Augstein vor. In der »Spiegel-Affäre« sehen viele eine ernste Bedrohung von Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Als sich ein wirtschaftlicher Einbruch zum Ende des Nachkriegsbooms zur handfesten Regierungskrise ausweitet, zieht ausgerechnet die 1964 gegründete NPD mit überraschenden Wahlerfolgen ihren Nutzen daraus. Im Herbst 1966 wird eine Große Koalition zur Überwindung der Krise gebildet.

    Mit den ersten Erfolgen der Beatles in Deutschland – und insbesondere durch die deutschen Versionen von »I Wanna Hold Your Hand« (»Komm gib mir deine Hand«) und »She Loves You« (»Sie liebt dich«) – öffnet sich der bürgerliche Publikumsgeschmack während der Sechziger immer mehr für internationale Popmusik. Die Musikbranche trägt dieser Entwicklung Rechnung, indem sie ausländische Interpreten mit unüberhörbarem Akzent deutsche Liedchen trällern lässt. »Memories of Heidelberg« wird für Peggy March 1967 zu einem Riesenerfolg, aber auch der ehemalige Jazzsänger Bill Ramsey, Esther Ofarim, Wencke Myhre oder Connie Francis profitieren von der neuen Masche. Die Abkehr der Jugend von dem zum Inbegriff des Spießertums verkommenen Schlager ist trotzdem nicht mehr aufzuhalten.

    Wurden zu Anfang des Jahrzehnts noch die meisten Nummer-eins-Hits in deutscher Sprache gesungen, so sinkt deren Anteil in den Folgejahren auf unter zehn Prozent. Der Musikjournalist und spätere Krautrock-Produzent Rolf-Ulrich Kaiser fällt ein hartes Urteil über die Drahtzieher der Schlagerbranche: »Zu satt, zu fett, zu alt«. Eine neue Richtung, an der sich die junge Generation musikalisch orientieren könnte, hat sich in Deutschland noch nicht entwickelt. Von Hamburg aus, wo englische Bands harte Lehrjahre in den dortigen Clubs absolvieren, erobert schließlich der britische Beat den Markt.

    Identifikationsmodell Beat

    »Die englischen Beat-Gruppen haben etwas Neues gemacht«, erinnert sich Roman Bunka. »Ich weiß noch deutlich, wie die ersten Sendungen des Beat-Club im Fernsehen kamen, die wir begeistert verfolgt haben.« Als am 25. September 1965 die erste Folge des legendären TV-Formats von Radio Bremen live ausgestrahlt wird, beginnt eine mediale Durchsetzung der jüngeren Bevölkerungsgruppen, die sich wohl nur noch mit der Wirkung von MTV in den Achtzigern vergleichen lässt. Die Stars aus Großbritannien und Übersee flimmern erstmals zum Greifen nah über die Bildschirme der Wohnstuben. Musik, Kleidung, Instrumente, Haarschnitte sind nun direkt erlebbar und ergeben das Gesamtbild einer neuen Kultur, die zum Vorbild für die deutsche Jugend wird – auch für Bunka: »Das war DIE Serie, wo zum ersten Mal Beatmusik im Fernsehen kam. Meine Mutter hat voller Entsetzen ein paar Kommentare dazu abgegeben. Ein paar von den Jungs mochte sie aber auch. Es gab eben die Guten und die Bösen. Die Pretty Things waren die Bösen.«

    Auf deutschen Bühnen tummelt sich englischer Pop-Import, Jugendliche feiern fanatisch ihre Idole. Die bürgerliche Gesellschaft ist angesichts dieser neuen Hysterie verunsichert. Lothar Stahl, späterer Schlagzeuger der Karlsruher Checkpoint Charlie, erinnert sich:

    »Hauptsächlich sind damals englische Bands rübergekommen, da war es immer voll. Alle Kids sind hingerannt. Die Schwarzwaldhalle in Karlsruhe, wo drei-, viertausend Leute hineingehen, war übervoll, und es standen nochmal ein paar hundert, vielleicht tausend Leute vor der Tür. Dann wurde die Halle gestürmt. Wir sind als Kids um die Halle gekreist und haben geguckt, wo man noch reinkönnte, ob vielleicht einer ein Klofenster offen gelassen hat oder sowas. Irgendwann ging eine Scheibe zu Bruch, dann kamen sie mit Hundestaffeln und haben angefangen, alles abzusichern.«

    2. Vorbilder und erste Gehversuche

    »Es gab in Deutschland verschiedene Musikkulturen, bedingt durch die verschiedenen Besatzungszonen. Im Norden waren die Engländer, im Süden die amerikanische Zone. Die ganzen deutschen Beat-Bands kamen daher aus Hamburg und nicht unbedingt aus Bayern.«

    – Roman Bunka –

    Beat-Bands in Deutschland

    Bald beginnen auch deutsche Musikgruppen, die Briten zu kopieren. Bands wie The Lords und The Rattles eifern in Musik, Text und Kleidungsstil (oft erfolgreich) ihren Vorbildern nach. In Schulaulen und Kneipensälen entwickelt sich zaghaft eine deutsche Beatszene: »Während der Beat-Zeit habe ich in Kassel gewohnt«, erzählt Roman Bunka. »Meine erste Beat-Band habe ich mit dreizehn, vierzehn auf dem Weg zur Schule gesehen – da wurde ein Eiscafé eröffnet. Man trat auch viel in Sportclubs, bei Schulfesten und Uni-Feten auf. In Kleinstädten wie Rothenfels am Main fanden Beat-Wettbewerbe mit Gruppen aus der Gegend statt.«

    Besonders im Norden der Bundesrepublik entsteht, unter dem Einfluss der von den Beatles geprägten Hamburger Clubszene, eine ambitionierte Liga von Imitatoren. Anschauungsmaterial gibt es reichlich: Viele, auch weniger bekannte britische Bands spielen regelmäßig auf dem »Kontinent«, Hamburg wird zum deutschen Mekka des Beat. In der Gruppe The Cavern Beat spielt und singt der junge Frank Bornemann: »Wir haben viel von den Beatles nachgespielt – ich musste immer die McCartney-Stimmen singen.« Von einer lokalen Musikerszene im heutigen Sinne ist man freilich auch im Norden noch Jahrzehnte entfernt. »Vor allem die Schlagzeuger waren damals zum Teil furchtbar schlecht«, sagt

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