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Gipfelkuss: Die Reporterin am Piz Bernina
Gipfelkuss: Die Reporterin am Piz Bernina
Gipfelkuss: Die Reporterin am Piz Bernina
eBook329 Seiten3 Stunden

Gipfelkuss: Die Reporterin am Piz Bernina

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Über dieses E-Book

Die Angst sitzt der Basler Reporterin Selma im Nacken, als sie auf dem Piz Bernina, dem König der Ostalpen, ein Paar aus besserem Haus bei ihrem Gipfelkuss ins beste Licht rücken soll. Ein alter Bergsteiger warnte vor der Tour über den gefährlichen Biancograt – der Tod klettert mit. Über Funk bekommen Selmas Freund Marcel und ihr aus Schweden angereister leiblicher Vater mit, wie sich oben auf dem Berg ein Drama abspielt. Selmas Mutter macht sich Vorwürfe. Sorgte die Familiengeschichte für eine Unkonzentriertheit bei Selma? Jahre lang wusste sie nichts von ihrem leiblichen Vater – er jedoch von ihr, wie Bilder vermuten lassen. Die Familiengeschichte fordert die Reporterin schon während des Trainings für die Höhentour emotional heraus.
SpracheDeutsch
Herausgeberorte Verlag
Erscheinungsdatum7. Sept. 2021
ISBN9783858302953
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    Buchvorschau

    Gipfelkuss - Probst Philipp

    1

    Sie war nackt. Und sie schwitzte. Ihre Brüste schmerzten. Ihr Bauch rumorte. Ihre Lippen waren spröde. Ihr Hals kratzte. Sie bekam keine Luft.

    Marcel lag neben ihr und schlummerte friedlich. Selma stand auf, ging auf Zehenspitzen zum Fenster und öffnete es. Sie genoss den herrlichen Ausblick vom dritten Stock ihres Hauses «Zem Syydebändel» auf das nächtliche Basel und den schwarzen Rhein. Es hatte schon lange nicht mehr geregnet, der Wasserstand war tief. Selma lehnte sich aus dem Fenster und spürte einen schwachen Luftzug. Sie genoss es, wie die leichte Brise durch ihre dunkelbraunen, halblangen, gewellten Haare fuhr.

    Sie ging zurück, setzte sich auf die Bettkante und schaute sich um. Ihre Kleider waren im ganzen Zimmer verstreut. Die Espadrilles mit hohem Keilabsatz lagen auf dem Boden, die kurze Jeanshose ebenso, die weisse Bluse hing am Schlüssel des Kleiderschranks, String und BH lagen neben der Nachttischlampe. Selmas Haut war klebrig. Ich muss schrecklich aussehen! Zum Glück habe ich keinen Spiegel im Zimmer, dachte sie. Es gibt doch tatsächlich Menschen, die einen Spiegel im Schlafzimmer haben. Einen Wandspiegel oder einen Spiegelschrank. Oder sogar einen Spiegel an der Decke. Wie kann man nur? Sich selbst nackt sehen? Sich alle Problemzonen vor Augen führen? Sich beim Sex zuschauen? Himmel!

    Sie legte sich zurück zu Marcel, schloss die Augen, öffnete sie kurz darauf wieder und starrte an die weisse Decke mit den Stuckaturen. Sie begann, die Ornamente, Röschen und Blätter zu zählen. Obwohl sie aus anderen schlaflosen Nächten wusste, wie viele es waren.

    Sie zählte nicht lange. Nicht, weil sie einschlief. Selma nervte sich. Es war einfach zu stickig im Zimmer. Und es roch anders als sonst. Es roch nach Mann. Das war zwar nicht grundsätzlich falsch, aber bei dieser Hitze einfach zu aufdringlich. Selma stand erneut auf, schlich ins Wohnzimmer und öffnete das Fenster zum Totentanz, dem kleinen Park mit der Predigerkirche vor ihrem Haus. Sie beobachtete die Blätter an den Bäumen des kleinen Parks. Sie bewegten sich kaum.

    Eine kalte Dusche könnte helfen. Dann würde aber ihre Freundin Lea wach, die eine Etage unter ihr im zweiten Stock wohnte. Und auch Mama Charlotte im ersten Stock würde aufgeweckt werden. Schliesslich zischten die Wasserleitungen in diesem alten Haus ziemlich laut. Und weil kein Mensch um halb zwei Uhr morgens duschte, würden beide wissen, dass sie Sex gehabt hätten. Marcel und sie. Also Marcel mit ihr. Also Marcel. Sie hatte … Was hatte sie eigentlich? Klar, sie hatte mitgemacht, alles bestens, alles gut. Marcel war plötzlich so leidenschaftlich geworden. Sie wollte keine Spielverderberin sein, es war doch schön, dass er sie begehrte. Aber es war nicht so wie bei ihrem ersten Mal kurz vor Weihnachten in Engelberg.

    Nein, ihr Liebesleben war nicht mehr so prickelnd. Und das machte Selma traurig. Was war passiert?

    Zu gross die Frage. Selma schlüpfte in ihren Slip. Sie schloss die Schlafzimmertüre, verliess ihre Wohnung und stieg in die Mansarde, wo sie ihr Atelier hatte. Sie packte die Staffelei und trug sie die schmale Holztreppe hinauf auf die Dachterrasse. Dann holte sie Farben, Pinsel, Spachtel, die Palette, etwas Wasser und einen Lappen, schliesslich eine Leinwand und einen Hocker. Sie setzte sich, schaute hinauf zum Sternenhimmel und atmete tief durch. Hier draussen war die Luft einiges kühler als in der Wohnung.

    Sie hörte leise das Rauschen des Rheins. Ein beruhigendes Geräusch. Selma schüttelte ihre Haare, tunkte den Pinsel in die blaue Farbe, tupfte ein bisschen Weiss dazu und begann, die Leinwand zu grundieren. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Jetzt fröstelte sie. Wie damals in der Gletscherspalte auf dem Titlis.

    «Liebste, du malst!»

    Selma erschrak, drehte sich reflexartig um, sah Marcel – und musste laut herauslachen.

    «Okay, du lachst», sagte Marcel trocken. «Lachen ist gesund. Psychohygiene und so.»

    «Natürlich, mein …» Selma konnte sich kaum mehr erholen. «Mein Hobbypsychologe.»

    «Psychologe ausser Dienst, ich bitte dich», sagte Marcel. «Also immer noch studierter Psychologe, aber als Tram- und Buschauffeur tätig.»

    Selma wurde von ihrem Gelächter durchgeschüttelt.

    «Warum lachst du eigentlich? Lachst du über mich?»

    «Nein, natürlich …» Wieder prustete Selma drauflos.

    «Also doch. Erkläre mir bitte, was an mir so lustig ist.»

    Selma legte den Pinsel beiseite, putzte ihre Hände an einem Lappen ab, tätschelte ihre Wangen und versuchte, ein ernsthaftes Gesicht zu machen. Doch es half alles nichts. Sie musste schon wieder grinsen und Marcel ihr Grübchen in der rechten Wange präsentieren. Dabei zeigte sie auf Marcels Unterleib.

    Jetzt sah er es auch. Er trug diese Unterhose mit dem tränenlachenden Smiley verkehrt herum, das Lachgesicht war nicht hinten, wo es hingehörte, sondern vorne. Selma hatte ihm diesen Slip bei einer gemeinsamen Shoppingtour gekauft. Marcel hatte sich aber immer geweigert, ihn anzuziehen. Bis heute.

    «Sehr witzig», sagte Marcel. «Ich habe einfach in die Schublade gegriffen und nicht auf das Muster geachtet.»

    «Excusé, das sieht einfach zum Schreien aus», sagte Selma, «ein Lachsack vor deinem … du weisst schon!» Und dann musste sie nochmals laut herauslachen und nach Luft schnappen. Sie hielt sich den Bauch.

    Marcel strich ihr sanft über die rechte Wange mit dem Grübchen, neigte sich zu ihr hinunter und küsste sie zärtlich auf den Mund. Dann schaute er ihr lange in die Augen. «Du bist wunderschön», flüstere er.

    Selma fuhr mit der Hand durch Marcels kurze, schwarze Haare. Dann schnappte sie sich ein Kissen von einem der beiden Liegestühle und reichte es Marcel: «Setz dich neben mich auf den Boden. Wir malen zusammen.»

    «Wir malen zusammen?», fragte Marcel erstaunt.

    «Ja, Liebster», hauchte Selma.

    «Ich durfte dir noch nie zuschauen, wenn du malst. Was ist denn …»

    Selma hielt ihren Zeigefinger auf Marcels Mund. Marcel legte das Kissen neben Selma auf den Bretterboden der Dachterrasse, setzte sich und lehnte seinen Kopf gegen Selmas nackten Oberschenkel. «Stört dich das?»

    Selma gab ihm einen Kuss und sagte: «Nein, es ist schön.» Dann nahm sie die Palette und den Pinsel und begann, alle möglichen Blautöne auf die Leinwand aufzutragen. Das Bild wurde immer kälter, düsterer, bedrohlicher.

    Selma versank in ihrer Malerei. Das leise Rauschen des Rheins wurde lauter. Es verwandelte sich in das Tosen des Bachs, der tief unten in diesem schwarzen Loch des Gletschers zu hören gewesen war, in das Selma gefallen und erfroren wäre, hätte sie nicht das Seil der Skifahrer ergreifen und sich retten können.

    Sie bekam Hühnerhaut. Was war das für eine abenteuerliche Geschichte damals in der Vorweihnachtszeit. Die Reportage über die verrückten Freerider in Engelberg, ihr Sturz in die Spalte auf dem Titlisgletscher, die Lawine. Und natürlich ihre Begegnung mit den Wölfen.

    Ihr Auftraggeber Jonas Haberer hatte recht behalten: Selmas Fotos des jungen Wolfspaares aus dem Engelbergertal liessen sich erfolgreich verkaufen. Selma gab Interviews für Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen. Sie war ein kleiner Star geworden. Drei Mal war sie nochmals nach Engelberg gefahren, um die Wölfe zu suchen. Aber sie hatte sie nicht mehr gefunden. Niemand hatte sie noch einmal gesichtet. Das kleine Rudel war weitergezogen.

    Selma dachte oft an die Wölfe. Sie malte sie. Auch mit ihrem Nachwuchs, den die Tiere nun sicher hatten. Selma hatte alle möglichen Szenen gemalt: Die Wölfe beim Kuscheln in einer Höhle, beim Spielen, bei der Jagd. Ihre Gemälde waren manchmal realistisch, oft jedoch abstrakt. Selma liebte es, in ihren Werken eine Stimmung auszudrücken und die Wölfe nur anzudeuten. Eine Schnauze, ein Augenpaar, Pfoten.

    Bis heute hatte Selma nur noch Wolfsbilder gemalt. In den letzten Monaten hatte sie Zeit dazu. Es herrschte Flaute, Aufträge für grosse Reportagen blieben aus. Auch Werbeshootings gab es wenige. Selbst Tausendsassa Jonas Haberer kämpfte um neue Einnahmequellen. Er motivierte Selma, ein Buch mit ihren besten Wolfsfotos und ihren Wolfsgemälden zu machen. Selma malte und schrieb tage- und nächtelang. Es wurde ein schönes, ein spannendes Buch mit all ihren Erlebnissen. Bald würde es erscheinen.

    Sie lehnte sich zurück, kniff die Augen zusammen und betrachtete nun ihr eiskaltes Werk. Es schauderte sie. Am Horizont wurde es bereits hell. Die ersten Vögel piepsten.

    Marcel war längst eingeschlafen.

    2

    «Rufe mich bei Gelegenheit an. LG Jonas.»

    Diese WhatsApp-Nachricht fand die Reporterin auf ihrem Smartphone, als sie aus der Dusche kam. Nach ihrer nächtlichen Malaktion und nachdem Marcel zu seiner Schicht bei den Basler Verkehrs-Betrieben aufgebrochen war, hatte Selma doch noch schlafen können.

    Sie rief ihren Auftraggeber Jonas Haberer gleich an.

    «Ja, bitte?»

    «Jonas!»

    «Selma, du bist ja fix», sagte er mürrisch. «Braves Mädchen.»

    «Was ist denn mit dir los? Kein fröhliches ‹Selmeli, mein Mäuschen, mein Myysli›?»

    «Es ist zu heiss. Und dies schon um 10 Uhr morgens.»

    «Ich habe gerade geduscht. Mir geht es wunderbar.»

    «Du hast geduscht? Bist du etwa nackt?»

    Selma war etwas verlegen. Sie war tatsächlich nackt. Zum Glück führte sie ein Telefonat und keinen Videoanruf. «Ja, ich bin nackt.»

    «Selmeli!», schrie Haberer ins Telefon. «Das kannst du nicht machen, Kleines. Jetzt habe ich noch heisser.»

    «Du hockst doch in Bern. Also spring in die Aare.»

    «Selmeli, das machen Kinder und pensionierte Beamte.» Er prustete laut heraus. «Nein, nein», meinte er. «Dann fahre ich lieber nach Engelberg und hüpfe auf dem Titlisgletscher in eine Spalte. Aber im Gegensatz zu dir nehme ich Whisky mit. Dann habe ich Whisky on the rocks.» Wieder prustete Haberer drauflos.

    Selma musste ebenfalls lachen, obwohl er diesen Scherz nach ihrem Sturz in den Gletscher schon einmal gebrachte hatte. Dann sagte sie: «Die Aare ist doch herrlich.»

    «Wie der Rhein, nicht wahr?», sagte Haberer mit einem süffisanten Unterton.

    «Oh, ja, einfach toll.»

    «Du badest wirklich in dieser Kloake?»

    «Aber natürlich. Vielleicht springe ich später noch hinein.»

    «Selmeli, wie erbärmlich! Deine Frau Mama macht das sicher nicht. Sie muss sich schämen für dich.»

    «Charlotte weigert sich tatsächlich im Rhein zu schwimmen. Sie hat noch die Zeiten erlebt, als der Rhein wirklich eine Kloake war. Oder besser gesagt: ein Abwasserkanal der Industrie.»

    «Und Charlotte ist eine Dame von Welt. Sie hat Niveau. Ich passe wirklich besser zu deiner Mutter als zu dir, Liebes, es tut mir leid.»

    «Ich werde es überleben, Jonas. Und meiner Mutter einen Gruss ausrichten.»

    «Einen sehr lieben, bitteschön.» Er räusperte sich. So laut, dass Selma kurz das Telefon vom Ohr nehmen musste. «So ein eiskaltes Gläschen Aquavit mit Charlotte wäre jetzt nicht schlecht.»

    «Also, Jonas, worum geht es?», fragte Selma und wollte endlich zum Geschäftlichen kommen. «Etwas Dringendes kann es ja nicht sein, schliesslich hast du mir geschrieben, ich solle dich gelegentlich anrufen.»

    «Gelegentlich heisst bei mir innerhalb einer Viertelstunde, das solltest du wissen, Myysli. Bei mir ist immer alles dringend.»

    «Also?»

    «Ich habe einen neuen Auftrag.»

    «Endlich», seufzte Selma erleichtert. «Ist auch an der Zeit.»

    «Es geht um eine aussergewöhnliche Hochzeit.»

    «Du suchst eine Hochzeitsfotografin?»

    «Ja. Stinkreiches Mädchen heiratet stinkreichen Macho. Kohle ohne Ende. Deshalb ist das Honorar horrend. Es muss einfach die beste Fotografin der Welt sein.»

    «Das bin ich nicht.»

    «Wenn ich es sage, dann schon.»

    «Jonas, ich fotografiere keine Hochzeiten», sagte Selma barsch.

    «Auch wenn noch eine kleine Bergwanderung dabei ist und du extrem tolle Landschaftsbilder machen und vielleicht sogar Steinböcke, Gämsen, Wölfe und Bären fotografieren kannst? Und es für dich ein wahrlich grosses Abenteuer werden kann?»

    «Wie meinst du das?»

    «Selmeli, der Berg ruft!»

    «Und die Hochzeitsglocken läuten», meinte Selma sarkastisch. «Und nenn mich nicht immer Selmeli!»

    «Selmeli, Selma, warum bist du so hart zu mir?»

    «Ich bin Fotoreporterin und keine Hochzeitsfotografin.»

    «Verstehe, du hast recht. Hochzeitsfotografie ist unter deiner Würde. Wie konnte ich dich überhaupt fragen? Kapelle, Kutsche, Küsschen, Küsschen, jede Menge Kohle, Selmeli, vergiss es, mir kommt das Kotzen. Ich engagiere irgendeinen Nachwuchsfotografen, der mal in New York, Dubai oder Shanghai war und verkaufe ihn als trendy. Also, bis dann!»

    Die Verbindung brach ab. Selma starrte auf ihr Smartphone und schüttelte den Kopf: «Hochzeitsfotografin», murmelte sie. «Der hat sie doch nicht mehr alle.»

    Selma ärgerte sich auch eine Stunde später noch über ihren Auftraggeber Haberer. Deshalb kam ihr der Coiffeurbesuch bei ihrer besten Freundin Lea gerade recht. Lea wohnte nicht nur im gleichen Haus wie sie, sondern hatte im Parterre auch ihren Salon.

    «Hast du Ärger, Madame Selma Legrand-Hedlund?», fragte Lea, nachdem sie Selmas Haare gewaschen hatte. «Schlecht geschlafen? Du wirkst etwas …»

    «Ich bin sauer», unterbrach Selma. «Mein Boss, der tolle Jonas Haberer, wollte mich tatsächlich als Hochzeitsfotografin engagieren.»

    «Aha. Aber sonst ist alles in Ordnung? Marcel hat letzte Nacht wieder einmal bei dir geschlafen, oder?»

    «Jetzt redest du wie meine Mutter», murrte Selma. «Ist nicht verwunderlich. Charlotte ist schliesslich omnipräsent, da sie ebenfalls in diesem Haus wohnt. Und ja, Marcel hat bei mir übernachtet. Aber Schluss jetzt, Lea. Bring meine Haare in Ordnung.»

    Lea griff zur Schere und begann vorsichtig zu schnippeln. «Ihr seid wirklich ein Traumpaar. Ich würde mich freuen, wenn Marcel bei dir einziehen würde. Vielleicht arbeitet er dann auch wieder als Psychologe und gibt diesen Tram- und Busfahrerjob auf.»

    «Lea!», sagte Selma unwirsch. «Du denkst schon wie meine Mutter. Ich möchte jetzt nicht über meine Beziehung sprechen.» Natürlich liebte sie Marcel. Er war der perfekte Mann. Gutaussehend, aufmerksam, witzig, gebildet. Und er konnte kochen. Putzen nicht so. Aber kochen konnte er wirklich.

    Andererseits: Marcel war auch der perfekte Freund. Und genau diese Freundschaft hatte sich verändert, seit sie ein Paar waren. Sie waren körperlich intim, aber ihre Freundschaft war es jetzt weniger. Was sich schon allein daran zeigte, dass sie mit Marcel darüber nicht reden konnte. Und genau dies vermisste sie. Was sollte sie ihm denn sagen? Dass sie ihn liebe, aber …? Zu doof. Selma wollte Marcel nicht verletzen.

    «Nellie hat mir geschrieben», sagte Selma und wechselte das Thema.

    «Wie geht es denn deiner Nichte? Oder Halbnichte? Wie nennt man die Tochter eines Halbbruders überhaupt?»

    «Für mich ist sie einfach meine Nichte. Sie schreibt gerade eine Arbeit für ihr Studium der Medienwissenschaften.»

    «Oh, dann begibt sie sich also in deine Fussspuren und wird ebenfalls eine grosse Reporterin.»

    «Ich hoffe nicht, die Geschäfte laufen gerade alles andere als gut.»

    «Ach komm, Süsse, das wird schon wieder. Wann besuchst du Nellie und deine schwedische Familie endlich einmal?»

    «Sie lädt mich in jedem Mail ein.»

    «Na dann, los.»

    «Ach Lea, ich weiss immer noch nicht, ob ich das möchte. Nichts gegen Nellie. Sie ist eine tolle junge Frau. Aber meine Geschichte ist nicht ihre. Ich habe bis vor Kurzem geglaubt, ich hätte den gleichen Vater wie meine Schwester Elin, Dominic-Michel Legrand. Dass mein Erzeuger in Wirklichkeit Nellies Grossvater Arvid Bengt Ivarsson ist, ganz ehrlich, damit tue ich mich schwer.»

    «Du solltest diesen Knoten lösen und nach Schweden reisen. Sonst kannst du das nie klären.»

    «Es wird geklärt.»

    «Aha. Und wie?» Lea stellte sich neben den Friseurspiegel und schaute Selma fragend an.

    «Nellie will im August in die Schweiz reisen und uns besuchen. Zusammen mit ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrem Bruder. Und mit ihrem Grossvater. Mit meinem Vater.»

    «Echt jetzt?»

    «Ja.»

    «Weiss Charlotte davon?»

    «Nein.»

    «Nein?»

    «Lea, ich weiss es erst seit zwei Wochen.»

    «Seit zwei Wochen?»

    «So ungefähr. Vielleicht sind es auch drei Wochen.»

    Lea verdrehte die Augen und fragte: «Was hast du Nellie geantwortet?»

    «Nichts.»

    «Nichts? So, so. Und wer weiss ausser mir davon? Marcel?» Lea schaute ihrer Freundin tief in die Augen.

    «Niemand», sagte Selma.

    «Niemand?»

    «Jetzt schau mich nicht so an.»

    «Wo liegt eigentlich dein Problem, Süsse? Wir wohnen im Haus des schwedischen Ex-Königs Gustav …»

    «Tun wir nicht. Der wohnte weiter hinten in der St. Johanns-Vorstadt. Und im Hotel Drei Könige. Und nur weil meine Mutter so ein Theater um ihn macht, heisst das noch lange nicht, dass er ein guter Kerl war. Ich habe viel über ihn gelesen, liebe Lea, und ich muss sagen: Er war kein Sympathieträger.»

    «Was aber nichts mit Nellie und deinem Vater zu tun hat.»

    Selma wurde sauer: «Sag mal, was ist denn mit dir los? Wenn ich keinen Bock auf diese dämliche schwedische Verwandtschaft habe, ist das meine Sache.»

    Lea machte sich wieder ans Werk, frisierte Selma weiter und sagte: «Natürlich. Ich finde trotzdem, du solltest dich dieser Sache stellen. Nellie ist nett. Da kann dein Vater kein Idiot sein.»

    Wie recht sie hatte, dachte Selma und hatte bereits ein schlechtes Gewissen ihrer Freundin gegenüber.

    «Sorry, ich wollte dich nicht verletzen», sagte Lea. «Aber mal ganz ehrlich: Die Sache belastet deine Mutter und deine Schwester. Und Marcel. Und mich ebenso. Nellie vermutlich auch. Deine ganze Familie leidet. Seit Monaten schiebst du das alles vor dich hin. Niemand getraut sich, mit dir darüber zu sprechen. Gib deinem Vater eine Chance.»

    Tausend Gedanken schwirrten in Selmas Kopf herum. Als Lea ihr Werk beendet hatte, betrachtete sich Selma im Spiegel. Lange. Die Frisur war top. Trotzdem gefiel sie sich nicht. Sie hatte so markante, harte Gesichtszüge bekommen.

    «Selma, bist du unzufrieden?»

    «Alles gut. Bist ein Schatz.»

    «Aber?»

    «Nichts aber. Du hast recht. Ich werde Nellie schreiben. Ich werde ihr schreiben, dass ich mich auf sie und ihre Familie freue. Auf meine Familie.»

    3

    Der Vorsatz war da, aber mit der Umsetzung haperte es. Selma sass an ihrem Laptop, trank bereits den dritten Milchkaffee und hatte noch keinen Satz zustande gebracht. Der Cursor blinkte unaufhörlich unter der Anrede «Hei Nellie».

    Selma hatte selten einen Schreibstau, wenn sie eine Reportage schreiben musste. Und wenn, dann half Kaffee. Aber in diesem Fall hatte auch das nichts gebracht.

    Da sie nicht nur genügend Kaffee getrunken, sondern auch schon ihre Haare hatte frisieren lassen, gab es nur noch eines: einen Spaziergang. Oder Marcel. Oder beides. Sie schrieb Marcel eine Nachricht und freute sich, dass er kurz darauf antwortete. Sie verabredeten sich in einer Stunde in der Confiserie Seeberger an der Schifflände. Also würde sie vorher noch ein bisschen durch die Stadt spazieren. Sie warf einen prüfenden Blick in den grossen Spiegel, der im Entrée stand, war zufrieden und wollte ihre Wohnung verlassen. Doch dann drehte sie um, ging ins Schlafzimmer und zog sich bis auf die Unterwäsche aus. Ihr war in den Sinn gekommen, dass sie die kurze Jeanshose, die sie gerade anhatte, gestern Abend schon getragen hatte, als Marcel zu ihr gekommen war. Also musste sie etwas anderes anziehen. Nein, sie musste nicht, sie wollte. Marcel würde es wahrscheinlich nicht bemerken, aber schliesslich musste sie sich selbst gefallen. Zweimal hintereinander in den gleichen Kleidern zu erscheinen, ging nicht. Das hatte sie von ihrer Mutter Charlotte gelernt.

    Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Es war erneut ein heisser, wolkenloser Frühsommertag. Selma hatte Lust auf ein Kleid. Oder doch auf einen Rock und ein freches Oberteil? Jedenfalls etwas Leichtes, Kurzes. Sie tänzelte von einem Bein aufs andere, fuhr mit den Händen durch ihre Haare, drehte an ihren silbernen Fingerringen. Ach, sie hatte einfach nichts anzuziehen. Sie müsste unbedingt shoppen gehen.

    Sie entschied sich schliesslich für das weisse Sommerkleid mit dem Pflanzenmuster, betrachtete sich im Spiegel, ging zum Schuhschrank und musste feststellen, dass sie keine Schuhe besass, die zu diesem Kleid passten. Sie müsste auch Schuhe kaufen. Unbedingt. Sie nahm die weissen Sneakers aus dem Kasten, zog sie an, prüfte sich erneut im Spiegel – und war einigermassen zufrieden.

    Im Treppenhaus setzte sie sich wie fast immer auf den Handlauf und rutschte Etage um Etage ins Parterre. Erst dort wurde ihr bewusst, dass ihr Kleid weiss war und durch die Rutscherei jetzt dreckig sein könnte. Schnell huschte sie in Leas Coiffeursalon und fragte ihre Freundin, ob das Kleid verschmutzt sei. Lea verneinte und strich das Kleid an ihrem Po glatt.

    «Du siehst toll aus», sagte Lea. «Hast du ein Date?»

    «Ja», antwortete Selma, zwinkerte Lea zu und lächelte.

    «Oh, dieses umwerfende Lächeln und das süsse Grübchen», meinte Lea. «Du wirst Marcel den Kopf verdrehen.»

    «Marcel? Besteht meine Männerwelt nur noch aus Marcel?»

    «Natürlich nicht», sagte Lea gespielt erstaunt. «Wie hiessen deine letzten Lover schon wieder? Res, Lasse, Björn?»

    Res, der Senn vom Saanenland, mein Jugendschwarm, den ich auf der Alp wiedergetroffen habe, sinnierte Selma. Lasse und Björn, die beiden Schweden, die ich in Engelberg kennengelernt habe. «Tiefste Vergangenheit», sagte Selma zu ihrer Freundin. «Res hat mit seiner früheren Sennerin und heutigen Frau Martina einen Sohn bekommen. Hotelier Björn verträgt sich dank Marcels Therapie wieder mit seiner Frau. Und der schöne Alles-ist-easy-Lasse ist tatsächlich mit der gestalkten Sylvia nach Schweden zurückgekehrt.»

    «Und du bist endlich mit Marcel zusammen», sagte Lea. «Nur ich bin alleine.» Sie liess die Mundwinkel hängen und tat so, als müsste sie weinen. Dann lachte sie und umarmte Selma.

    Mit leichten Schritten und schönen Gedanken verliess Selma Leas Salon und ging Richtung Innenstadt.

    Doch schon nach wenigen Metern hörte sie, wie

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