Nackt im Himmel
Von Ingrid Zavrel
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Buchvorschau
Nackt im Himmel - Ingrid Zavrel
Impressum
Ein unheimliches Erlebnis
Wien 3, Wassergasse 4
Es läutete stürmisch. Jemand hämmerte mit Fäusten gegen die Eingangstür. Meine Mutter fuhr erschrocken im Bett hoch. Sie tastete mit zitternden Fingern nach dem Schaltknopf der Nachttischlampe und knipste das Licht an. Ein kurzer Blick auf den Wecker: Fünf Minuten nach halb drei! Wieder drückte jemand wild die Glocke und trommelte mit den Fäusten gegen die Tür. Es musste etwas passiert sein, durchzuckte es sie. Wer würde sie mitten in der Nacht aus dem Bett läuten? Vielleicht eine der Töchter, die mit ihren Schlüsseln zwar das Haustor öffnen könnten, nicht aber ihre von innen verschlossene Eingangstür. Oder vielleicht eine der Nachbarinnen? Bloßfüßig schlich sie zur Kabinett-Tür und öffnete sie geräuschlos. Sie hatte Angst davor, welche Katastrophe in Kürze auf sie zukommen würde. Auf Zehenspitzen durchquerte sie die Küche bis zur Eingangstür. Sie schob den Messingdeckel des Spions zur Seite und sah auf den Gang hinaus. Alles finster! Dann öffnete sie leise die Tür, die zusätzlich noch durch eine dicke Kette gesichert war. Am Gang war es dunkel und still. Sie konnte sich dieses mysteriöse Erlebnis nicht erklären. Die Aufregung der letzten Minuten verursachten ihr starkes Herzklopfen und Magenschmerzen. Sie kochte sich einen Tee, nahm Baldriantropfen und legte sich wieder hin. Schlafen konnte sie nicht mehr.
Um halb sieben Uhr läutete bei mir das Telefon. Ich war gerade dabei, mich selbst fürs Büro und die Schulbrote für die Kinder herzurichten. Meine Mutter schilderte aufgeregt ihr unheimliches Erlebnis der letzten Nacht. Auch wollte sie sich vergewissern, dass mit uns alles in Ordnung wäre. Etwas gestresst versuchte ich ihr einzureden, dass das ein Albtraum gewesen sein müsste. Sie ließ sich zwar etwas beruhigen, war sich aber sicher, dass es auf keinen Fall nur ein Traum gewesen sein könnte.
In der Früh war immer der ärgste Stress im Büro. Ich musste die Arbeit für den Tag einteilen und hatte noch eine Besprechung mit dem Chef. Als ich gerade einen Vertrag schrieb, rief meine Mutter an. Sie schluchzte und konnte vor Aufregung kaum sprechen. Gerade hatte sie von ihrer Schwägerin aus Deutschland telefonisch die Nachricht erhalten, dass ihr Bruder in der Nacht gestorben war. „Fünf Minuten nach halb drei!" Ich war auch erschüttert, mir rieselte ein Schauer den Rücken hinunter. Der Onkel Fritz! Er war erst vor kurzem in Pension gegangen. Ich versprach meiner Mutter, am Nachmittag zu ihr zu kommen. Daraufhin rief ich meine Schwester Gerti an und wir vereinbarten, sie gemeinsam zu besuchen.
Nach der Arbeit, einer Halbtagstätigkeit in einem Großhandelsbetrieb in der Nähe meiner Wohnung, lief ich schnell heim und kochte das Mittagessen für meine beiden Kinder Michael und Daniela. Michael besuchte damals, im Jahr 1975, die dritte Klasse einer „Integrierten Gesamtschule", Daniela die vierte Volksschulklasse der Keplerschule im zehnten Wiener Gemeindebezirk. Ich überprüfte noch schnell die Hausaufgaben und ließ – entgegen meiner Gewohnheit – die beiden allein.
Dann fuhr ich mit dem O-Wagen vom zehnten in den dritten Wiener Gemeindebezirk bis zur Neulinggasse. Von dort aus ging ich zu Fuß, wie ich es immer schon gemacht hatte. Jahre waren vergangen, seit ich diesen Weg tagtäglich gegangen oder sogar gelaufen war. Beim Arenbergpark fiel mir ein, dass dort mein erstes Wien-Rendezvous mit meinem späteren Mann stattgefunden hatte. Hinter der Erdbergstraße geht die Neulinggasse in die Wassergasse über, wo meine Mutter wohnte. Ich überquerte die Erdbergstraße, wo auf der rechten Seite die Firma „Persil ihren Sitz hatte und auch heute noch hat. Der Firmenname wurde auf „Henkel
geändert. Dort hatte ich zwei Jahre gearbeitet. Jeden Tag um sieben Uhr fünfzehn, wenn ich zum Mitarbeitereingang ging, stand mein kleiner Sohn Michael am vergitterten Fenster der Wohnung meiner Mutter und winkte mir zu. Er wurde während der Woche von ihr betreut, ich kam abends und brachte ihn ins Bett, bevor ich wieder in unsere Wohnung im zehnten Bezirk heimfuhr.
All diese Dinge gingen mir durch den Kopf, bevor ich das Haus in der Wassergasse 4 betrat. Wie würde ich mit ihr und ihrer Trauer fertig werden? Würde ich sie umarmen können? Außer den Begrüßungs- und Verabschiedungs-Küsschen hatten wir seit langer Zeit keinerlei körperlichen Kontakt zueinander. Aber als sie mir mit verweinten Augen und einem verzweifelten Gesichtsausdruck die Tür öffnete, umarmte ich sie spontan und hatte echtes Mitgefühl mit ihr. Ich wusste über die sehr enge seelische Verbindung zu ihrem Bruder Bescheid.
Als Gerti kam, hatten wir bereits Tee gekocht und Butterbrote vorbereitet. Meine Mutter hatte von ihrer Schwägerin erfahren, dass Onkel Fritz am Vortag ins Stuttgarter Krankenhaus eingeliefert worden war, weil die Ärzte seinen hohen Blutdruck nicht in den Griff bekommen konnten. In der Nacht war er dann an einem Herzriss sehr plötzlich gestorben.
Dann begann meine Mutter unter wiederholtem Schluchzen, aus ihrer Kindheit und Jugend zu erzählen. Die beiden Geschwister Fritz und Gerta, meine Mutter, wuchsen in Olmütz in Mähren auf. Fritz war schon als Kind immer ein Vorbild und Beschützer für meine Mutter. Oft nahm er sie bei den Eltern in Schutz, wenn sie etwas angestellt hatte, und nahm sogar Schläge in Kauf. Zu allen abenteuerlichen Unternehmungen durfte sie ihn begleiten, auch wenn seine Freunde die Anwesenheit der kleinen Schwester nicht so passend fanden. Als junger Student bot er ihr einen unvergesslichen Kletterurlaub in die Südtiroler Dolomiten gemeinsam mit seinen damaligen Studienkollegen. Ich glaube, meine Mutter hätte sich immer einen Mann gewünscht, der wie ihr Bruder war. Sie himmelte ihn an.
Nach der Matura studierte Fritz in Wien an der Wirtschaftsuniversität, während meine Mutter – wie das damals für die Töchter großbürgerlicher Familien so üblich war – eine „Höhere Töchter-Schule besuchte. Dort wurde vor allem auf Kochen, Nähen, Haushaltsführung, Kindererziehung, Grundbegriffe von Englisch und Französisch und Planung von Gesellschaften Wert gelegt. Heute würde man das „Event-Service
nennen. Sie bestand an dieser Schule die Gesellenprüfung für Schneiderei. Außerdem erhielt sie Klavier- und Gesangsunterricht.
Auch als ihr Bruder nach seinem Studium als Diplomkaufmann einen gut dotierten Posten im Stahlwerk in Mährisch Ostrau in der damaligen Tschechoslowakei annahm und meine Mutter während dieser Zeit mit ihrer besten Freundin Frieda in Olmütz einen Schneidersalon eröffnete, blieben die Geschwister in enger brieflicher Verbindung. Sie korrespondierten immer in „Gabelsberger Stenografie", die beide in der Schule gelernt hatten und die die anderen Familienmitglieder nicht lesen konnten. Es war daher eine Art Geheimschrift.
Fritz heiratete bald darauf Friedas Schwester, die wie meine Mutter Gerta hieß, bekam mit ihr zwei Kinder und zog nach Deutschland, wo ihm in Karlsruhe ein sehr gut bezahlter Posten angeboten worden war. Er konnte es sich sogar leisten, ein Haus in Ellwangen an der Jagst zu bauen, wo er mit Frau, Kindern, Schwägerin Frieda und Schwiegermutter wohnen konnte. Meine Mutter litt sehr unter der räumlichen Trennung von ihrem Bruder.
Wenn Onkel Fritz uns allein oder mit seiner Familie in Wien besuchte, herrschte schon tagelang vorher große Aufregung. Meine Mutter plante und organisierte sämtliche Einladungen und Besuche. Allen Freunden und Bekannten wollte sie ihn präsentieren.
Gerti und ich blieben einige Stunden bei unserer Mutter und achteten darauf, dass sie sich aussprechen konnte. Um sie aufzuheitern, erwähnte ich ein Erlebnis aus meiner Kindheit. Bei einem Besuch von Onkel Fritz im Jahr 1954 hatte er mir sehr geholfen, als ich mir die langen, dünnen Zöpfe abschneiden lassen wollte. Meine Mutter hatte es strikt verboten. Ich klagte ihm mein Leid. Da nahm er mich an der Hand, ging mit mir zu dem Friseur in der Erdbergstraße und sagte einfach: „Schneiden Sie die Zöpfe ab!" Meine Mutter war zwar im Moment sehr entsetzt, als ich mit einem Bubikopf vor ihr stand, aber ihm konnte sie nicht böse sein. In der Erinnerung daran musste sie lächeln. An diesem Abend versuchten Gerti und ich, auf reale Dinge umzuschwenken, was uns schließlich auch gut gelang. Wir sprachen über das Begräbnis. Gerti beschloss, mit unserer Mutter nach Deutschland zu fahren, um bei der Verabschiedung persönlich anwesend zu sein. Wir schlugen vor, dass sie längere Zeit bei ihrer Schwägerin und einstigen Jugendfreundin verbringen sollte. Nach langer Überlegung stimmte sie zu.
Gedankenvoll trat ich spät nachts den Heimweg an, hatte aber doch das befriedigende Gefühl, meiner Mutter ein kleines Stück über ihre Verzweiflung geholfen zu haben. Ihr unheimliches nächtliches Erlebnis beschäftigte mich jedoch noch lange.
Meine Vorfahren
Familie Tröger
Mein Großvater mütterlicherseits, Rudolf Tröger, war Elektroingenieur und wuchs in Wien auf. Ihm wurde die Position als Direktor des Elektrizitätswerks in Olmütz (Olomouc), Mähren, übertragen. Zur damaligen Zeit war es durchaus üblich, Österreicher und Deutsche, die entsprechende Qualifikationen hatten, in anderen Ländern der Kaiserlich-Königlichen Monarchie beruflich einzusetzen. Er war sehr tüchtig und auch von den Tschechen hochgeschätzt, weil er seine Mitarbeiter gut und gerecht behandelte und im Laufe seiner Tätigkeit 1899 die erste Straßenbahn in Olmütz einführte. Alle deutschsprachigen Einwanderer aus Deutschland und Österreich, ob in der Mitte des Landes oder in den grenznahen Gebieten, wurden als „Sudetendeutsche" bezeichnet. Der Name stammt von dem Gebirgszug der Sudeten, die sich von Deutschland über Tschechien bis Polen hinziehen. In Olmütz, einer Provinzstadt, gab es eine sehr große Anzahl von Sudetendeutschen. Heute hat die Stadt etwa 100.000 Einwohner.
Bei einem seiner häufigen Wien-Besuche bei seinen Eltern und Freunden lernte mein Großvater Stefanie Kraus kennen und heiratete sie 1906. Meine Großmutter war mit ihren beiden Schwestern Mitzi und Paula in Krakau, Polen, aufgewachsen, das damals ebenfalls zu den österreichischungarischen Ländern gehörte. Der Vater der drei Mädchen war ein hochdekorierter General aus Wien und in Polen stationiert. Seine Töchter erhielten eine hervorragende Ausbildung in einer Privatschule, die hauptsächlich auf die Führung eines großen Haushalts ausgerichtet war. Es war nicht üblich, Mädchen studieren zu lassen, auch wenn Intelligenz und Vermögen vorhanden waren. Die drei Schwestern waren sehr umschwärmt, weil sie attraktiv und lebenslustig waren. Regelmäßig fuhr die ganze Familie nach Wien, wo die Mädchen in die erste Wiener Gesellschaft eingeführt wurden und womöglich eine „gute Partie" kennenlernen sollten. Um bei diesen gesellschaftlichen Ereignissen eine Übernachtungsmöglichkeit zu haben, mietete mein Urgroßvater eine Wohnung im dritten Wiener Gemeindebezirk, in der Marokkanergasse 3. Diese Wohnung sollte später noch eine wichtige Rolle im Leben unserer Familie spielen.
Als die drei jungen Damen etwa zwanzig Jahre alt waren, starb ihre Mutter und der Vater heiratete die jüngere Schwester seiner Frau, mit der er noch einen Sohn bekam.
Aus welchen Gründen General Kraus später keinen Kontakt zu seinen Töchtern haben wollte und sie enterbte, konnte ich im Laufe meiner Recherchen nur teilweise herausfinden. Darauf werde ich in einem späteren Kapitel zurückkommen. Vieles über diese Zeit bleibt im Dunklen.
Meine Großeltern Tröger bekamen 1907 Sohn Fritz und 1909 Tochter Gertrude, meine Mutter. Fritz studierte an der Wirtschaftsuniversität in Wien und wohnte während dieser Zeit bei Tante Mitzi in jener besagten Wohnung im dritten Bezirk, die Tante Mitzi übernommen hatte.
Meine Mutter wohnte weiterhin bei den Eltern in Olmütz, weil sie auch meiner Großmutter zur Hand gehen musste, die zu dieser Zeit schon an chronischer Polyarthritis litt und große Schmerzen hatte. Immer wieder kam auch meine Großtante Mitzi aus Wien und half im Haushalt ihrer Schwester mit.
Familie Knöll
Mein Vater Wilhelm wurde 1897 als jüngstes von fünf Kindern geboren. Sein Vater, Heinrich Knöll, war Fleischhauer- und Selchermeister in Wien. Er hatte ein eigenes Geschäft im zehnten Bezirk, in dem er gemeinsam mit seiner Frau Christine arbeitete.
Etliche Verwandte der Familie Knöll hatten Fleischergeschäfte im zehnten Bezirk. Es gab bis zur Schließung der Markthalle im dritten Bezirk bei der Landstraßer Hauptstraße im Jahr 2009 auch einen verwandten Großhändler mit dem Namen Knöll in diesem Gebäude.
Stolz war die gesamte Familie auf den Großonkel meines Vaters, der als Bezirksvorsteher des zehnten Bezirks und als Privatperson viele positive Maßnahmen gesetzt hatte. Er kümmerte sich um die ausgebeuteten Arbeiter der Wienerberger Ziegelwerke und unterstützte sie sowohl finanziell als auch bei der Durchsetzung ihrer Forderungen nach Verbesserung ihrer sozialen Rechte. Er ließ aus seinem Privatvermögen eine Schwesternschule und eine Volksschule in der später nach ihm benannten Knöllgasse erbauen. Als wir in der dritten Klasse Volksschule lernten, wonach oder nach wem die Gassen und Straßen unseres Bezirks benannt wurden, wurde er als Wohltäter des zehnten Bezirks bezeichnet.
Weil meine Großeltern oft bis zum späten Abend in der Kühl- und Selchkammer arbeiten mussten und deshalb keine Zeit für den Nachzügler Wilhelm hatten, wurde mein Vater von seiner um dreizehn Jahre älteren Schwester Therese betreut und aufgezogen. Ich lernte diese Tante erst mit etwa sieben Jahren kennen und konnte sie überhaupt nicht leiden. Sie war sehr resch und unfreundlich. Hin und wieder lud sie meine Schwester Erika und mich in den Ferien nach Bockfließ ein, wo sie ein Grundstück mit Obst- und Nussbäumen und einem düsteren und muffigen Sommerhäuschen besaß. Auch eine Ziege gehörte zu ihrem Besitz. Tante Therese kochte miserabel und wir Kinder mussten Ziegenmilch trinken, vor deren Geruch mich ekelte. Haus, Ziege und Garten wurden von einer alleinerziehenden Frau mit Sohn betreut, während Tante Therese als Regierungsrat-Witwe mit ihrer Tochter Grete und ihrer Haushälterin Betty im neunten Bezirk in Wien in einer sehr großen Wohnung lebte. Nach Bockfließ, das sich etwa zwanzig Kilometer nördlich von Wien befindet, konnte man leicht mit der Bahn fahren. Meist saß ich dort in der Astgabel eines Pfirsichbaumes und las ein Buch nach dem anderen. Erika interessierte sich eher für die Pflanzen im Garten und das Gemüse. Der Gemüsegarten war für uns Kinder jedoch tabu. Er war mit einem Drahtzaun umgeben und das Gittertor abgeschlossen. Erika spielte auch gern mit dem Sohn der Haushälterin, dem Schurli. Er hatte eine interessante Kakteenkultur im Garten aufgebaut, die er liebevoll pflegte.
Nach dem Tod von Tante Therese 1965 erbten alle Nichten und Neffen – natürlich auch Gerti, Erika und ich – ihre reichlichen Besitztümer, nur