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In unseren Seelen der Schmerz: Die California Chroniken
In unseren Seelen der Schmerz: Die California Chroniken
In unseren Seelen der Schmerz: Die California Chroniken
eBook733 Seiten10 Stunden

In unseren Seelen der Schmerz: Die California Chroniken

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Über dieses E-Book

Wer bislang gedacht hatte In unseren Herzen die Welt wären die ganze Geschichte, muss neu denken: mit In unseren Seelen der Schmerz erscheint nun Band II der Erzählung.

Ohne zu viel verraten zu wollen kann man allen Fans der Story um Phil, Katy, Pete und Victor versprechen, dass sie wieder genau so nahe dran sein werden am Geschehen um die Familie van Pelt und all den Dingen, die den Helden widerfahren, wie im ersten Band.

Phil ist unterwegs in Amerika, um sich einen Traum zu erfüllen. Katy tritt die Nachfolge an von Isaac Blunt. Pete tastet sich weiter heran an seinen Traum, als Querie wieder auf dem Bike zu sitzen und Victor ist eigentlich tot.

Mit In unseren Seelen der Schmerz erscheint Band II der Erzählung um den van Pelt Clan. Sie schließt direkt an die Geschehnisse aus Band I an und erzählt vom Werdegang der Figuren in den Jahren 2019 bis 2021. Wir erfahren nicht nur, was den Protagonisten in dieser Zeit alles widerfährt, sondern rekapitulieren auch die Umstände, unter denen das geschieht.

In unseren Seelen der Schmerz greift einerseits das Zusammenleben der Menschen in Zeiten einer wachsenden Digitalisierung auf, und ist andererseits eine beinahe schon minutiöse Chronik der Verhältnisse in Zeiten der Corona-Pandemie.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum20. Mai 2021
ISBN9783753473642
In unseren Seelen der Schmerz: Die California Chroniken
Autor

Virgil Kane

Virgil Kane ist das Pseudonym eines Autors aus dem süddeutschen Raum. "In unseren Herzen die Welt" ist sein erster Roman.

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    Buchvorschau

    In unseren Seelen der Schmerz - Virgil Kane

    lose

    1. Phil – Only dead men are free

    Montag, 1. März 2021, 2:00 pm Uhr Ortszeit Colorado, Flug San Francisco – Frankfurt am Main

    Eine Boeing 767 fliegt in elfeinhalb Stunden nonstop von San Francisco/Kalifornien nach Frankfurt am Main. Die meiste Zeit der Reise rast die Maschine mit 850 Stundenkilometern in einer Flughöhe von knapp 9.000 Metern durch die Troposphäre, die unterste die Erde umschließende Luftschicht. Jenseits der vergleichsweise dünnen Kabinenwand herrschen demnach Bedingungen wie auf dem Gipfel des Mount Everest. In der Kabine selbst reist es sich wohltemperiert, komfortabel und anstrengungslos. Die meiste Arbeit verrichten die beiden mächtigen Pratt & Whitney Triebwerke links und rechts des Rumpfes. Sie speisen sich aus riesigen Tanks in den Tragflächen, die mehr als 90.000 Liter Treibstoff fassen.

    Das alles entnehme ich der schmalen Bordbroschüre, die auf meinem Sitz lag, als wir vor zwei Stunden in die Maschine stiegen. Langsam und zitternd, wie ein frierender Albatros, hatte die Boeing nach dem Start immer weiter beschleunigt, um schließlich genügend Auftrieb unter den Schwingen zu haben und endlich abzuheben, gerade noch rechtzeitig vor dem Ende der Startbahn. Den größeren Teil der Reise haben wir also noch vor uns, bevor wir in Frankfurt auf das Empfangskomitee treffen werden. Und ich auf eine unsichere Zukunft. Zeit genug, um das vergangene Jahr nochmals zu rekapitulieren. Was für ein Trip!

    Ich heiße Philipp Deckert, aber auf meiner Bordkarte und in dem Pass, den ich bei mir habe, steht der Name Victor van Pelt. Ich habe die Identität eines Anderen angenommen, eines Toten noch dazu. Im Nachhinein war das ein Fehler. Denn er, der eigentlich tot sein sollte, hat mich am Ende auffliegen lassen. Man flieht nicht vor einem Phantom. Noch dazu vor einem, das die ganze Welt zu umspannen scheint und überall seine Augen hat. Mein Begleiter ist Sergeant W.S. Walcott von der amerikanischen Bundespolizei FBI Wie Bruce Willis in 16 Blocks hat Walcott nur einen Job: mich unversehrt an die deutschen Kollegen zu übergeben. Die Anklage lautet auf Mord. Im Untersuchungsgefängnis von San Francisco hatten sie mir Handschellen verpasst. Für den Flug nach Deutschland konnte ich die Jungs auf eine elektronische Fußfessel runterhandeln, was weitaus angenehmer ist. Walcott sitzt neben mir auf dem Fensterplatz. Es ist fast so, als wären wir in einer romantischen Beziehung und ich würde ihm galanter Weise den besseren Platz überlassen. Schon Salingers Zooey Glass wusste, dass das einer der Haken an der Liebelei ist: Man bekommt keine Fensterplätze mehr.

    Ich hole das Tablet aus meiner Tasche und wische durch die Bilderreihen in der Foto-App. Zum Glück haben sie mir die Bilder gelassen. Ich hatte schon befürchtet, dass sie nach dem Scannen der Inhalte alles löschen würden. Aber das FBI scheint subtiler zu arbeiten, als man es aus den alten Filmen kennt. Die Stewardess bringt mir das zweite Glas Tomatensaft und ich bin froh, einen Platz am Zwischengang zu haben. So kann ich ihren Beinen noch ein wenig hinterherschauen, während sie wieder nach vorne zur Kombüse geht wie über einen dröhnenden, wummernden Laufsteg, hoch droben am Himmel über der Zauberlandschaft Colorados tief unter uns. Die Beine der Stewardess verschwinden hinter einem Vorhang und ich widme mich meinen Fotos. Mit leichter Hand schiebe ich ein Foto nach dem anderen über den Bildschirm. Die Bilder sind chronologisch geordnet und so entspricht jede Bewegung meines Handgelenks einem Schritt zurück in der Zeit. Bei einem Foto vom Grand Canyon bleibe ich hängen. Es ist ungefähr ein Jahr alt. Das Fotoalbum als Zeitmaschine. Tausende Bilder sind in der App gespeichert, unmöglich, sie alle anzusehen. Wir ertrinken in Bildern, während wir versuchen, aus ihnen eine Mauer zu errichten gegen das Vergessen. Oft geht es um das Ersetzen von Allgemeinplätzen gegen Selbsterlebtes. Ihr glaubt mir nicht? Dann googelt beispielsweise mal nach Bildern des Grand Canyon im Web und schaut euch die Ergebnisse an. Die meisten Fotos dort sind technisch viel besser als euer eigenes Geknipse. Und doch ist es für euch nicht dasselbe. Erst das eigene Foto – und sei es noch so grottenschlecht – transportiert neben dem Motiv auch das Erlebnis des Augenblicks zurück in unser Herz: Weißt du noch, damals, als wir dort waren?

    Ich betrachte das Foto und erinnere mich genau. Janis und ich saßen in unseren gebräunten Häuten in der Abendsonne über dem Großen Graben. Gerade hatte Janis Victors wenige Asche in die Schlucht rieseln lassen, wie es sein Wunsch gewesen war. Viel war es nicht, was die Suchtrupps in den Ruinen der Klinik von ihm gefunden hatten. Ein leichter Wind wehte über die Ebene und spielte mit den Härchen auf meiner Haut, ich weiß es noch genau. Seit Menschengedenken fließt der Colorado tief unten in seinem Bett und kein Laut dringt von dort herauf. Es war schön, dort zu sitzen. Wir machten ein Foto für Rachel und genossen das Licht – froh, dass es nun endgültig vorbei war. Was für ein Trugschluss!

    Victors Asche, vom Winde verweht irgendwo da unten, schien alles zu sein, was von ihm blieb. Der Rest waren Erinnerungen und die magere Beute an persönlichen Dingen aus Rachels Haus, einstmals angeschafft für teures Geld und in dem Gefühl, sie besitzen zu müssen und nun aufgeteilt unter irgendwelchen Leuten, die durch bestimmte Umstände dazu auserkoren wurden – sei es durch amtlich dokumentierte Abstammungslinien oder Seelenverwandtschaften. Niemand besitzt irgendetwas wirklich. Wir spielen nur eine Zeit lang damit herum, im Glauben, es müsse jetzt unbedingt so sein. Und dann endet alles, irgendwann, irgendwo und Neues beginnt. Ich hatte Rachel gefragt, ob Victor ihr fehle und sie sagte ja. Was genau dieses Gefühl in ihr auslöste, konnte sie nicht sagen. Wir haben uns darauf geeinigt, dass es die Gewohnheit sein könnte, das Vertraute, die Konstanz im gewachsenen Muster des eigenen Lebens. Und dann kommt der Tod und reißt ein Loch hinein und wir müssen es wieder reparieren, unser Lebensnetz. Wir sind Fischer, jeder von uns, aber wir verbringen die meiste Zeit nicht damit, hinauszufahren und einen guten Fang zu machen, sondern damit, Netze zu flicken und die Wunden zu lecken, die das harte Tau regelmäßig in unsere Handflächen reißt.

    Ich scrolle ein Bild weiter und langhalsige Vögel kreuzen darauf den Horizont auf dem Weg zu ihren Schlafplätzen, der Tag ging zu Ende. Janis hatte mich gefragt, wie es wäre, wenn es hier nicht mehr weiter ginge, wenn hier an der Kante der Klippe Endstation wäre, das Ende aller Dinge. Und ich dachte über ihre Worte nach. Was, wenn es tatsächlich so wäre? Mein Bike stand ein paar Schritte hinter uns und wartete, bis wir fertig waren. Staub hatte sich überall darauf verteilt, aufgewirbelt von den rotierenden Reifen, neu verteilt entlang der endlosen Straße von Ost nach West. Ich kann heute noch das Ticken des abkühlenden Motors hören, wie es sich in das Zirpen der Zikaden mischt, als wäre die BMW ihr Metronom. Metall entspannte die verkrampften Muskeln und fiel in einen traumlosen Schlaf. Das Ziel schien erreicht, es blieb nichts mehr zu tun, es konnte in diesem Augenblick nicht besser sein. Ich nehme das Tablet und halte es Walcott hin, um ihm das Foto zu zeigen, aber er ist eingeschlafen und sein massiger Schädel lehnt unbequem gegen das harte Polster der Kabinenwand. Eine Sekunde lang überlege ich, ihm ein Kissen zwischen Wange und Wand zu schieben, verwerfe den Gedanken aber schnell wieder. Was, wenn er aufschreckt und die Aktion als Versuch wertet, ihn zu ersticken? Die Jungs vom FBI sind alle paranoid. Und gut trainiert.

    Wir sitzen in Reihe dreiundzwanzig auf den linken Doppelsitzen A und C. Linkerhand – nein, sorry – rechts von mir sind die drei mittleren Sitzreihen angeordnet, bevor anschließend zwei weitere Reihen bis an das gegenüberliegende Fenster heranreichen. Ihr müsst entschuldigen, aber ich kann links und rechts oft nicht richtig auseinanderhalten, ein Überbleibsel meiner Krankheit. Wenn ich durch die Reihen der Passagiere schaue, alle in gekrümmter Haltung in ihre Sitze gepfercht und für die Dauer des Fluges zusammengewürfelt wie die Mannschaft einer fliegenden Galeere, bleibt mein Blick an einem Typen ein paar Sitze schräg vor mir hängen. Dort sind XL-Sitze montiert, soll heißen, es herrscht dort gegen harte Währung ein wenig mehr Galeerenbeinfreiheit als bei uns gewöhnlichen Ruderern, sodass der Kollege dort seine Beine entspannt von sich strecken kann. Seine Füße stecken in Biker-Boots, was den Komfort wieder etwas mindern dürfte. Vermutlich wollte er Gewicht beim Gepäck einsparen. Ich habe schon von Leuten gehört, die in ihren Taucherflossen gereist sind, weil die Dinger nicht ins Handgepäck gepasst hatten. Kann natürlich auch sein, dass der Junge seine Boots einfach gerne trägt, wir Biker sind nicht immer sehr rational unterwegs. Fängt ja schon damit an, dass wir uns eine Maschine unter die Weichteile klemmen, die im Wesentlichen aus einem heiß laufenden Motor besteht, über den ein Tank mit explosiver Flüssigkeit montiert wurde. Der entspannte Mitreisende scheint eingenickt zu sein, träumt vermutlich von seiner Maschine, wie es alle Biker ständig tun. Mein eigener Traum steht hoffentlich noch unversehrt auf seinen beiden Reifen in der Asservatengarage des FBI in der Golden Gate Avenue, 450 in San Francisco. Ob ich die Mühle jemals wiedersehen werde, wissen die Geier.

    Es war kurz nach Ostern 2019 gewesen, also vor knapp zwei Jahren, als ich von zu Hause aufgebrochen war. Manche von euch erinnern sich vielleicht noch daran, wie das Schicksal des Tabakerben Victor van Pelt die Klatschspalten der gelben Gazetten beherrschte. Irgendeiner dieser investigativen Schmierfinken war durch Bestechung oder indem er seinen Körper verkauft hatte an die Protokolle der Ermittler geraten und hatte daraus eine Story gemacht.¹ Die Auflage seines Magazins schoss daraufhin in dieselbe Höhe, in der unsere Boeing gerade unterwegs ist und jeder, der es wissen wollte, konnte nun nachlesen und nachleiden und nachgeifern, was genau damals in Luzern geschehen war. Und es war ein filmreifer Plot geworden, das kann ich euch sagen. Für die Glücklichen unter euch, die damals nichts davon mitbekommen haben, hier nochmal eine kurze Zusammenfassung. Ich will nicht damit angeben, aber ihr würdet ohne diese Infos vermutlich das ein oder andere vom dem, was ich euch eigentlich erzählen möchte, nicht verstehen. Die Wissenden mögen also kurz die Ohren schließen und die Unwissenden dieselben ordentlich spitzen. Es wird das letzte Mal sein, dass ich mich in diese Abgründe stürze. Zu oft bin ich schon dort gewesen und kein einziger Ausflug dorthin hat mir gut getan.

    Wir waren zu viert. Ursprünglich. Katy, Pete, Victor und ich. Uns verbindet eine gemeinsame Vergangenheit und eine über die Jahre gewachsene Fürsorge füreinander. Es fühlt sich an, als wären unsere Leben miteinander verwoben und kreisten wie die Schatten eines großen Windrads um ein gemeinsames Zentrum: um Victor van Pelt und seinen Spleen von einer virtuellen menschlichen Existenz. Victor war durch einen Unfall vom Hals abwärts gelähmt. Sein finanzieller Reichtum ermöglichte es ihm, in seiner eigenen, von seiner Mutter Rachel geführten Klinik komplizierte Versuche an sich selbst durchzuführen. Sein Ziel war es, den beinahe leblosen Körper hinter sich zu lassen und als Gehirn im Tank auf ewig weiterzuleben. Bevor die finalen Operationen begannen, kam er allerdings bei einer Explosion in der Klinik ums Leben. Katy, seine engste Freundin und Mutter der gemeinsamen Tochter Lisa, war damals nicht zu beneiden gewesen. Die Beziehung zu einem geliebten Menschen, der alles daransetzt, sich in Bits und Bytes aufzulösen, gehört nun nicht gerade zu den Standards im Repertoire geglückter familiärer Lebensentwürfe. Pete ist unser engster gemeinsamer Freund, nein, eigentlich ist er mehr als das. Eine Zeit lang waren wir ein Paar. Hierzu müsst ihr wissen, dass mit den Herren Techno und Beethoven mindestens zwei verschiedene Geister in meinem Oberstübchen residieren, an- und ausgeknipst durch kleinere Blutungen in meinem Gehirn. Ein Umstand, der mir ab und an heute noch das Gefühl vermittelt, eine an neuronalen Schnüren ferngesteuerte Marionette zu sein. Beethoven war Petes Geliebter, Techno ist in dieser Richtung reservierter. Wenn ihr mich fragt, wer von beiden jetzt in diesem Flugzeug sitzt und Sergeant Walcott neben sich schnarchen hört, würde ich auf Techno 2 tippen. Wetten würde ich nicht darauf.

    Ich merke, wie mich die Vergangenheit beim Erzählen wieder einholt wie eine Schar Dementoren, herübergeweht über einen schnell zufrierenden See. Unwillkürlich klappe ich den Kragen meiner Jacke nach oben. Es fühlt sich an, als hätte jemand ein Fenster der Boeing heruntergekurbelt und Eiskristalle wirbelten in wildem Sturm herein. Sorry Freunde, aber ich kann nicht weiter von früher erzählen. Vielleicht noch so viel zum status quo: Pete arbeitet wieder in seiner Neurologenpraxis. Ein Exo-Skelett ermöglicht ihm den aufrechten Gang und das Motorradfahren. Seltsam, aber als äußerlich Gebrechlichster von uns allen scheint er in Wirklichkeit der Unversehrteste geblieben zu sein. Katy hat ihren Job als Anwältin wieder aufgenommen. Sie ist in die Rechtsabteilung von Van Pelt Tobaccos & Liquids Ltd. zurückgekehrt und arbeitet eng mit ihrer Schwiegermutter Rachel zusammen, die den Laden nach wie vor leitet. Lisa ist weiter damit beschäftigt, den Tod ihres Vaters zu verstehen und damit zu leben. Das scheint schwieriger zu werden, je älter sie wird. Inzwischen ist sie neun Jahre alt und keiner weiß, wie das noch weitergeht. Erst neulich hatte Katy mir geschrieben, dass Lisa nach wie vor mit ihrem Vater chattet. Aber davon später mehr.

    Turbulenzen über den Rocky Mountains schütteln die Boeing wie ein Baby seine neue Rassel und bringen mich in die Gegenwart zurück. Walcotts Schädel knallt ein paar Mal hart gegen die Bordwand und reißt ihn aus dem Schlaf.

    „Fuckin` Bitch!", ruft er und schlägt mit der flachen Hand gegen den Rahmen des Bullauges.

    „Alles ok?", frage ich.

    Walcott reibt sich die linke Schläfe und sieht mich verpennt an. Er hat Mühe, die Augen offen zu halten. Kein Wunder nach den drei Gläsern Rotwein, die er sich gleich nach dem Start reingepfiffen hatte. Es ist schlau, die Flugzeit zum Schlafen zu nutzen und wie es scheint, hat mein Begleiter Übung darin, transkontinentale Flüge nach good old Europe zu meistern. Es war 02:10 pm Ortszeit in San Francisco gewesen, als unsere Maschine pünktlich das Gate verlassen hatte. Seither sind wir in der Luft und fliegen nach Nordosten, der Sonne und der Zeit entgegen. Es wird 14 Uhr Ortszeit in Frankfurt sein, wenn wir wieder festen Boden betreten – allerdings einen Tag später. Wir fliegen der Zeit entgegen und während jeder Stunde im Inneren des Flugzeugs vergehen draußen davon zwei. In Wahrheit ist das gar kein Flugzeug, sondern wie die Bilder-App auf meinem iPad eine Art von Zeitmaschine.

    „Wo sind wir?, fragt Walcott und nickt in Richtung der dämlichen Bildschirme vor uns, auf denen ein pixeliges Miniflugzeug aufreizend langsam über eine große Landfläche kriecht wie eine fette Fliege über ein Marmeladenbrot. „Scheinen die Rockies zu sein, sage ich, „Turbulenzen."

    „Ich hasse Turbulenzen, sagt Walcott, „und ich hasse die Rockies. Musste früher immer mit meiner Familie dorthin zum Wandern. Es war jedes Mal eine Strafe.

    „Was genau?", frage ich und denke sofort darüber nach, warum ich ihn das frage. Ist es Interesse? Small-Talk? Höflichkeit? Ich habe keine Ahnung. Ich kenne den Typen erst seit den letzten zwei Wochen, in denen ich in Frisco im Untersuchungsknast saß. Walcott und seine Kollegen haben meine Abschiebung nach Deutschland angeleiert. Eigentlich ist er ein Gegner, ein Feind, einer derjenigen, die mich fertig machen wollen. Und ich frage ihn, warum er sich in seiner Kindheit schlecht gefühlt hat, wenn die Familie wandern ging. Wie sehr fremdgesteuert durch irgendwelche Konventionen kann man eigentlich sein?

    „Alles", sagt Walcott und öffnet eine Dose Red Bull.

    Er lässt den Blechverschluss zu Boden fallen und trinkt hastig, bevor noch mehr von dem klebrigen Zeug aus der Öffnung schäumt und ihm über die Finger rinnt. Als er die Dose absetzt, kann er ein Rülpsen gerade noch kontrollieren und hält die freie Hand vor den Mund. Walcotts massige Finger verdecken dabei fast das halbe Gesicht. Ein breiter goldfarbener Ring am Ringfinger glänzt im Schein des Kabinenlichts und kontrastiert perfekt mit der tiefen Schwärze von Walcotts Haut. Ich schätze ihn auf Anfang dreißig und damit rund zehn Jahre jünger als ich es bin. Ich mag dunkle Hautfarben. Träger solcher Häute sehen immer irgendwie makellos aus und besitzen eine besondere Art der Eleganz, die über solchen Äußerlichkeiten wie Körperform oder Kleidung zu stehen scheint. Schwarz ist keine Farbe, sagt man, aber ich bin da anderer Meinung. Schwarz ist die einzige Farbe. Eine, die zu allen anderen Farben passt. Mehr noch, eine, die alle anderen Farben glänzen lässt, indem sie selbst keinerlei Glanz für sich beansprucht. Schwarz ist das Dunkel, die Abwesenheit von Licht, das Schattenreich. Walcott zieht die Stirn in Falten. Er sieht erst mich an und dann seine Hand.

    „Stimmt etwas nicht?", fragt er.

    Ich schüttele den Kopf.

    „Alles ok, sage ich, „ich habe nur den Ring bewundert.

    Walcott dreht die Hand mit dem Ring ins Licht und nickt. „Das Fangeisen, sagt er und grinst, „zehn Jahre trage ich das Ding jetzt Tag und Nacht und inzwischen kriege ich es gar nicht mehr runter.

    Er versucht, den Ring abzuziehen, aber es ist offensichtlich, dass er für die breiten Fingergelenke zu eng ist.

    „Siehst du? Keine Chance, sagt er und lacht erneut, „sieht nach lebenslänglich aus. So wie bei dir!

    Mir bleibt das Lachen im Hals stecken. Wenn mich die deutschen Gerichte tatsächlich wegen Mordes verurteilen sollten, würde Walcott mit seinem Spaß goldrichtig liegen. Mir fiel ein, dass ich Katy noch anschreiben wollte. Sie würde meine Verteidigung übernehmen und wir hatten vereinbart, dass sie beim Empfangskomitee in Frankfurt dabei sein würde. Ein paar Details sollte sie vorher noch wissen.

    „Sorry, sagt Walcott, „sollte ein Witz sein.

    Er kramt in seinem Rucksack nach einer weiteren Dose Red Bull und bietet sie mir zur Versöhnung an. Ich weiß die Geste zu würdigen, lehne aber dankend ab. Ich konnte dem Zeug noch nie etwas abgewinnen und ziehe einen gepflegten Kaffee als Aufputschmittel jederzeit vor.

    „Wie ist das so, fragt Walcott, „wieder in die Heimat zurückzukommen?

    „Immer eine Frage der Umstände, sage ich und drehe den linken Knöchel mit der Fußfessel näher zu ihm hin, „ohne das Ding wäre es angenehmer.

    Walcott zuckt mit den Schultern. Hast du dir selbst zuzuschreiben, sollte das wohl heißen. Du hättest den Typen ja nicht umzulegen brauchen. Dabei habe ich das gar nicht getan und wer die wahre Geschichte kennt, wird das bestätigen. Angeklagt werde ich wegen Mordes an dem Schweizer Staranwalt Dr. Isaac Blunt von der Kanzlei Blunt, Morgan & Seligman, einer der ersten Adressen gerissener Advokaten in der Schweiz. Ungefähr eine Woche vor Ostern 2019 brachten die Luzerner Gazetten die Nachricht über einen spektakulären Autounfall. Allem Anschein nach war am 12. April ein grüner Jaguar auf einer kurvenreichen Bergstraße in der Nähe von Saint Tropez in den Abgrund gestürzt. Als Fahrer wurde der bekannte Star-Jurist Dr. Isaac Blunt identifiziert. Der Wagen hatte in einer engen Linkskurve ungebremst die Leitplanke durchbrochen und war zweihundert Meter in die Tiefe gestürzt. Blunt war beim Aufprall sofort tot gewesen. Da die Karre nicht filmreif in Flammen aufgegangen war, konnte die Spurensicherung umfangreiche Untersuchungen vornehmen. Allem Anschein nach war das Drive-by-Wire System der Limousine ausgefallen und der Motor hatte wie von Geisterhand immer weiter beschleunigt, ohne auf die Betätigung der Bremsen zu reagieren. Nach und nach bestätigte sich der Verdacht, dass das System gehacked worden war. Als dann noch ein leistungsfähiger GPS-Spoofer gefunden wurde, der zu solchen Zwecken missbraucht werden konnte, reimten sich die Ermittler die wenigen Indizien schnell zusammen und schrieben den damals noch unbekannten Besitzer der Fingerabdrücke, die sie auf dem Spoofer fanden, international zur Fahndung aus. Wie sich später herausstellte, waren es unter anderem dummerweise meine Finger, die das Ding betatscht hatten. Jetzt hatten sie ihren Schuldigen und es passte alles ganz wunderbar zusammen.

    „Wo ist das?", fragt Walcott und deutet auf mein Tablet.

    Ein Foto aus guten alten Zeiten war dort aufgepoppt, der abendliche Blick auf meine hell erleuchtete Heimatstadt, aufgenommen von einem etwas höher gelegenen Aussichtsparkplatz. Wir waren damals oft dort gewesen, Pete und ich, zum Abschluss einer abendlichen Biker-Runde über unsere Hausstrecke. Meine Gedanken stolpern über das Wort „damals". Es klingt, als läge das alles Menschenalter zurück, dabei war es kaum zwei Jahre her.

    „Das war am Abend meiner Abreise", sage ich mehr zu mir selbst als zu Walcott, „der letzte Blick zurück auf die Stadt, bevor ich Richtung Westen gefahren bin. Eine Nacht-und-Nebel-Aktion. Ich habe nur einen kleinen Zettel zurückgelassen. Auf dem Küchentisch. Insider-Gekritzel. Für Pete und die anderen, verstehst du?"

    Ich drehe meinen Kopf in Walcotts Richtung, um zu sehen, ob er mich verstanden hat. Aber der Sergeant ist bereits wieder eingeschlafen und sein massiger schwarzer Schädel ruht vibrierend an der Bordwand der Boeing. Das Flugzeug pflügt unterdessen stoisch und unbeeindruckt weiter durch den Himmel. In seinem Bauch dreihundert weitere Schädel außer meinem und in ihnen gefangen dreihundert Dutzend Träume und Geschichten von schönen Augenblicken und verpassten Chancen.


    ¹ An dieser Stelle sei der formale Fauxpas einer Fußnote verziehen, um auf die ausführliche Version der Vorgeschichte hinzuweisen: IN UNSEREN HERZEN DIE WELT – Die Van Pelt Protokolle ist 2019 erschienen und als Paperback unter ISBN 9783732241521 erhältlich.

    2. Pete – Status Quo

    Montag, 22. April 2019, Ostermontag, Petes Haus.

    Wir hatten gestern eine wirklich schöne Feier, Leute. Lisa brillierte bei ihrer Performance in der Osterkirche und Katy hatte einen herrlich tränenreichen Zusammenbruch, als sie Victors Osterhasengeschenk ausgepackt hatte. Meet & Greet mit Robbie Williams. Das muss man Victor lassen, er hatte Stil, wusste, wie man die richtig gute Show anzettelt, meine ich. Heute ist Phil verschwunden und sein Abschiedsbrief liegt auf dem Küchentisch.

    „Ein Abschiedsbrief?, fragt Susi und holt ein Marmeladenglas aus dem Kühlschrank, „was meinst du damit?

    Ich halte den Wisch ins Licht der ostermontaglichen Morgensonne, die mild und hell in die Wohnung scheint wie in einem dieser Werbeclips für Golden Toast oder Werther’s Echte und sehe Susi an.

    „Sonst nichts?", fragt sie, den Griff der halb geöffneten Kühlschranktür in der Hand und ein knappes Handtuch um den frisch geduschten Körper.

    „Sonst nichts, sage ich, nothing on, but the radio."

    Und Susi lacht.

    Susi lacht oft in letzter Zeit. Öfter als früher. Viel öfter als zu Victors Lebzeiten. Es ist, als wäre eine Last von ihr abgefallen mit seinem Tod. Vielleicht hat sie das Gefühl, ihre Chancen bei mir wären gestiegen und die Zukunft wäre klarer, sicherer, vielversprechender. Leider ist das ein Irrtum. Wir haben darüber gesprochen, dass sie bei mir wohnen bleibt und wir die Praxis gemeinsam betreiben könnten. An sich ist das keine schlechte Idee, ich kann Hilfe gebrauchen und unsere Therapieformen kann man gut kombinieren, Stichwort mens sana und so. Aber ich zögere noch. Mir ist klar, dass Susi nach wie vor heftig in mich verliebt ist und ich will ihr den ganzen Scheiß der Ernüchterung ersparen. Und mir vermutlich auch.

    „Wann hast du bemerkt, dass du schwul bist?", fragte sie mich eines Abends und mir war sofort klar, was nun kommen würde. Schon zu viele Male haben Leute versucht, mich auf irgendein Glatteis zu zerren. So nach dem Motto, wer glaubt, schwul zu sein, muss sich eigentlich irren und man muss es ihm nur mit Argumenten klar machen. So Geschichten wie sie werden dir sagen, das wäre ganz normal, aber das ist es nicht.

    Ich habe Susi damals nur angesehen und den Kopf geschüttelt.

    „Wann hast du entschieden, hetero zu sein?", fragte ich und damit war das Thema erst mal erledigt.

    Susi schließt die Kühlschranktür und setzt sich mir gegenüber an den Küchentisch. Das Badetuch um ihren Körper öffnet sich bis zu ihrem Bauchnabel und sie sieht mich herausfordernd an.

    „Lass es, Susi, sage ich, „das führt zu nichts.

    „Du weißt nicht, was dir entgeht, sagt sie und zieht das Tuch wieder zusammen, „so schnell gebe ich nicht auf.

    Ich lache und gieße Kaffee in die Tasse, die sie mir entgegenhält. Das Gute an Susi ist unter anderem, dass sie nicht nachtragend ist, und dass sie genau weiß, wann es an der Zeit ist, Dinge auf sich beruhen zu lassen.

    „Zeig mir den Zettel", sagt sie und ich gebe ihn ihr.

    Mit Kugelschreiber hatte Phil ein windschiefes Rechteck darauf gezeichnet und Buchstaben und Zahlen darin angeordnet. Er hatte die Linien mehrfach nachgefahren, leicht versetzt, sodass es aussah, als würde die Skizze in der Luft vibrieren. Ich habe das Motiv sofort erkannt. Es ist der flache Grabstein Jack Keruacs, wie er in Dylans Video zu seinem Song Series of Dreams vorkommt, verwackelt, schemenhaft und nicht von dieser Welt. Darunter standen nur drei Worte: ON THE ROAD, groß, laut und mit energischem Duktus, als hätte Phil sich selbst damit Mut zugeschrieben, um tatsächlich endlich loszufahren. Psychologisch höchst interessant, wisst ihr. Versucht das mal selbst: wenn ihr etwas vorhabt und euch nicht so recht traut, es umzusetzen, schreibt es auf einen Zettel – es muss ja nicht gleich ein Abschiedsbrief sein. Wichtig ist, dass es in der Welt ist und dadurch quasi zu einer Verpflichtung wird. Ihr werdet viel mehr Energie bekommen, um es anzugehen, was auch immer es ist. Das eigene Gesicht vor der Welt zu verlieren, wiegt immer schwerer als alle aufgebrachten Bedenken und Ängste. Und die Schweinehunde, die sich irgendwo in euren Eingeweiden fläzen und sonst nur müde blinzeln müssen, um eure Pläne zu durchkreuzen, werden die Klappe halten.

    „Verstehe ich nicht", sagt Susi und gibt mir Phils kryptische Schatzkarte zurück, „wohin ist er on the road?"

    „Wenn ich das wüsste", sage ich und starre auf den Fetzen Papier.

    Da hat man nun Sinne für alles mögliche, kann mit einem beweglichen Muskel in der Höhle seines Schädels süß von salzig unterscheiden aber für das, was andere in der nächsten Sekunde planen, fehlt einem jede Sensorik. Die Sieben Sinne, fünf davon an Körperteilen festgemacht, einer im Herzen verwurzelt und einer in der tiefen Galaxie unseres Bewusstseins, sind sehr steinzeitliche Werkzeuge für alles, was nicht mit Händen zu greifen ist.

    Victor ist tot. Wie ein Blitz verkeilt sich dieser Gedanke im Strom meiner abschweifenden Gedanken. Katy Witwe, Lisa Halbwaise, ich… ja, was bin ich eigentlich? Victor weg, jetzt auch noch Phil – was bleibt mir eigentlich noch? Ein Vollwaise unter der Sonne bin ich, ein Segel im Wind. Phil ist nicht zu erreichen. Er hat sein Handy demonstrativ in unserer Landing-Zone im Flur vergessen. Ich weiß nichts von seinen Plänen, habe keine Ahnung, wohin er will, wie lange er fortbleibt, wonach er sucht oder was er zu finden hofft.

    Susi geht nach dem Frühstück wieder ins Bad und ich nehme den Treppenlift nach oben ins Musikzimmer. Vorher fotografiere ich noch Phils Abschiedsbrief und schicke das Bild an Katy. Ihre Antwort folgt prompt.

    „Das kenne ich, schreibt sie zurück, „da war ich damals mit Victor.

    Ich erinnere mich. Es war ihre erste gemeinsame Reise – der einfachere, gesündere der beiden Trips.

    Der Treppenlift spuckt mich an der obersten Stufe aus und ich eiere gestützt durch das Exo-Skelett in Richtung Musikzimmer. Das Skelett ist noch nicht sehr ausgereift und derzeit dabei, sich aufzulösen. Die Gelenke klemmen und die Motoren haben Mühe, die Zahnriemen unter Spannung zu halten, um Lastwechselreaktionen zu vermeiden. An Biken ist nicht zu denken, dazu ist das Ding zu unzuverlässig. Aber das Entwicklungsteam hat bereits Ideen für die nächste Terminator-Generation und das stimmt mich optimistisch. Es ist nur noch nicht klar, wann es weitergehen wird. Das Labor ist durch Rauch und Löschwasser praktisch völlig zerstört und es ist noch nicht abzusehen, ob die Jungs je wieder arbeiten können. Im Musikzimmer ist alles blitzblank aufgeräumt. Nur der Klavierdeckel ist unüblicher Weise hochgeklappt und die Reihe der Tasten grinst im Licht der Morgensonne zu mir herüber. Ich versuche herauszufinden, was Phil von hier mitgenommen hat und bilde mir ein, dadurch mehr über Ziel und Dauer der Reise erfahren zu können, aber ich finde nichts. Ein paar seiner Lieblings-T-Shirts fehlen im Schrank, etwas Wäsche zum Wechseln, die geliebten Western-Boots, die er wohl tatsächlich in einen der Bike-Koffer gequetscht hat, und seine drei All-Time-Favourite-Ein- same-Insel-Bücher sind nicht mehr da, was wohl darauf schließen lässt, dass er nicht so bald an eine Rückkehr denkt. Es sind Salingers Franny & Zooey, Melvilles Moby Dick und John Irvings Until I find you. Das alles und die neue Packung original Prinzenrolle Doppelkekse aus dem Kühlschrank, sowie die ungeöffnete Flasche Southern Comfort aus der Wohnzimmerbar scheinen sein ganzes Gepäck zu sein. Mehr als genug, denke ich, ich hätte keine bessere Wahl treffen können.

    Vorsichtig klappe ich den Klavierdeckel zu, als wären die Tasten lebendige Tiere, die man nicht aufwecken darf, und begebe mich wieder zur Liftstation. Auf halbem Weg hinab ins Basislager höre ich, dass jemand an der Haustür klingelt, und unterdrücke nur mühsam den Impuls aufzustehen, um den Abstieg zu beschleunigen. Aber Treppen sind für Exo-Skelette höhere Mathematik und ich wäre wohl gnadenlos abgestürzt. Ich rechne schon mit einem zweiten, ungeduldigeren Klingeln, als ich höre, wie Susi aus dem Bad kommt und in Richtung Haustür geht. Hoffentlich ist sie inzwischen angezogen, denke ich noch, und schüttele unwillkürlich den Kopf über meine eigene aufkeimende Spießigkeit. Männerstimmen dringen von der geöffneten Tür zu mir herüber, zwei verschiedene, wie es klingt, und endlich läuft meine Gondel in der Talstation ein und der bescheuerte Sicherheitsbügel lässt sich zur Seite klappen, um meinen Körper freizugeben. Ich humpele zur Tür und sehe Susi voll bekleidet mit zwei jungen Männern parlieren, denen das offenbar gut gefällt. Als sie mich sehen, unterbrechen sie ihren Small-Talk und schalten auf ernsthaften Modus. Ihr Lächeln wird geschäftsmäßig und ihre Augen ziehen sich eine Spur enger zusammen als noch Sekunden zuvor. Als Therapeut hat man einen Blick für solche Feinheiten. Man lernt, auf Nuancen zu achten, den kleinen Dingen im Leben Raum zu geben und vor allem: aus Gesichtern zu lesen wie aus offenen Büchern. Denkt, was ihr wollt, aber ich erfahre mehr über euch, wenn ich euch fünf Minuten stumm gegenübersitze, als wenn ihr mich eine halbe Stunde mit euren Wichtigkeiten volllabert. Nichts für ungut.

    Die beiden Typen vor der Tür jedenfalls sammeln sich und nehmen Haltung an. Alles in allem entspricht das meiner Meinung nach auch eher dem Image ihrer Polizeiuniformen als das lockere Geplänkel mit Susi zuvor.

    „Sie wollen dich mitnehmen", sagt Susi, als ich endlich die Tür erreiche wie C3PO mit halbleeren Akkus.

    „Wie lautet die Anklage?", frage ich.

    „Keine Anklage, Herr Winkler, sagt der eine, etwas Smartere der beiden, „der Hauptkommissar möchte nur kurz mit Ihnen reden. Natürlich nur, falls Sie Zeit haben.

    Ich nicke.

    Es ist keine Überraschung. Phil und Katy hatten ihren Teil schon beigetragen zur großen Seifenoper starring vanished Victor. Ich wusste, dass die Polizei jeden von uns befragen würde. Sie wollten die Ereignisse in Luzern aus möglichst vielen Richtungen beleuchten. Alles, was wir von uns gaben, würde später als die Van Pelt Protokolle in der Yellow Press eine gewisse Berühmtheit erlangen. Irgendein Schwachkopf im Kommissariat würde die Protokolle leaken und den Damm damit brechen, der mühsam um Victor van Pelt und sein bizarres Projekt aufgeschüttet worden war. Das meiste hatten meine Vorredner schon erzählt, mir bleibt noch das Grande Finale. Und als ich Minuten später im Streifenwagen sitze und das, was wir die Welt nennen, draußen hinter der Scheibe an mir vorüberzieht, in diesem niemals endenden Strom, muss ich an Victor denken, an seinen Unfall, an seinen Plan, an all das, was ich durch ihn gewonnen und verloren habe.

    „Don´t look back", murmele ich vor mich hin, ohne es wirklich zu registrieren.

    „Was haben Sie gesagt?", kommt es vom Beifahrersitz, als sich einer der Beamten zu mir umdreht.

    „Nichts, sage ich, „ich habe nur laut gedacht.

    Oder etwas in mir. In meinem Körper. Außerhalb meines Bewusstseins und dort in Regionen verborgen, zu denen ich keinen Zugang habe. Es ist wie verhext. Je mehr ich die kleinen Geister meiner Patienten oder mich selbst dahingehend untersuche, desto weniger weiß ich letztendlich darüber Bescheid, wie alles zusammenhängt. Körper und Geist, Herz und Hirn, Bauch und Seele oder Magen und Darm. Man sagt, das größte Glück auf Erden ist eine funktionierende Verdauung. Ich unterschreibe das sofort und schlage vor, die Bedeutung des Begriffs Verdauung zu erweitern und alles einzubeziehen, was wir in unserem Leben irgendwie geregelt kriegen müssen und woran wir mitunter schwer zu schlucken haben. Mein Rat dazu an euch, entstanden aus der jahrelangen scharfen Beobachtung psychischer Geisterfahrer: Beißt nicht mehr ab vom Kuchen, als ihr runterschlucken könnt. Oder vom Steak. Oder vom Leben selbst. Und wenn der Brocken doch mal zu groß ist, weil die Augen oder Herzen wieder zu gierig waren, kaut nicht lange darauf rum, sondern macht es wie I-did-it-my-way-Frank-Sinatra: Spuckt ihn wieder aus!

    Wo war ich? Stimmt: Don´t look back, die Empfehlung aller Empfehlungen. Hütet euch vor dem Blick zurück!

    Das Funkgerät im Wagen krächzt wie in einem schlechten Tatort und ich denke noch, dass der technische Fortschritt um die Funkgeräte der Rennleitung wohl einen großen Bogen macht. Ich kann mit meinem Handy Alexander Gerst auf der ISS anrufen, wenn ich seine Nummer habe und mit ihm sprechen, als stünde er mir gegenüber. Aber Polizeifunk ist immer noch ein rauschendes Gestammel aus der Mittelkonsole. Ich verstehe nicht viel von dem, was jetzt dort gesprochen wird. Vermutlich muss man auf langen Dienstfahrten deformierte Ohren haben, um den Soundteppich dechiffrieren zu können. Meine beiden Begleiter scheinen jedenfalls kein Problem damit zu haben und antworten mit den Standardfloskeln Verstanden und Sindunterwegs und Petermann7ende. Einen Namen glaube ich verstanden zu haben, es klang wie Eissackblond und es fiel das Wort Anwalt. Offenbar geht es um den Fall des verunglückten Advokaten Isaac Blunt. Zwei Wochen war es her, dass sie ihn aus dem Wrack seines Jaguars gezogen hatten, und keiner von uns hatte ihm eine Träne nachgeweint.

    Die Bremsen des Polizei-Daimlers quietschen, als er kurz darauf auf dem Parkplatz zum Stehen kommt. Wir haben das Polizeirevier erreicht.

    3. Victor – Mojibake

    Montag, 22. April 2019, Ostermontag. Buchstäblicher Abdruck einer Nachrichtenmeldung auf der Website von swiss- tobacco.ch.

    4. Katy – Freischwimmer im Haifischbecken

    Dienstag, 23. April 2019, Van Pelt Tobaccos Ltd, Luzern

    Es ist mein erster Arbeitstag nach dem Osterwochenende. Ich sitze im Büro der Bereichsleitung Legal Affairs im neunten Stock des Verwaltungsgebäudes von Van Pelt Tobaccos & Liquids Ltd. hinter einem riesigen Designerschreibtisch und habe keine Ahnung, was ich tun soll. Es war einst der Schreibtisch von Dr. Isaac Blunt und soll nun meiner werden. Rachel hatte mir den Job angeboten und es erschien nur logisch, die Chance wahrzunehmen. Gestern noch hatte ich mich darauf gefreut, heute hier zu sitzen und endlich loszulegen. Endlich konnte ich unbeschwert in meinem Job arbeiten, endlich mein Leben einrichten und das meiner Familie. Das war die Chance, ohne Gespenster und Gestörte um mich herum endlich so etwas wie Normalität zu erreichen und runterzukommen, auszusteigen aus einem Zug, der viel zu lange viel zu schnell in die falsche Richtung geschlingert war.

    Heute aber ist von all der Euphorie zunächst nichts mehr übrig. Schon am frühen Morgen nach dem Aufwachen schnürte mir die Angst vor dem, was kommen würde, die Kehle zu. War ich denn völlig bescheuert, hier anzuheuern? Auf diesem Seelenverkäufer, der so eng verbunden ist mit der Tragik der vergangenen Zeit? Warum war ich nicht zurückgekehrt in meine Heimat, in den Blumenladen und in mein Elternhaus, wo alles einfach, überschaubar und gefahrlos war?

    Kennt ihr das auch? Diese lähmenden Berge aus ToDos und Selbstzweifeln, die irgendjemand vor euren Betten auftürmt, während ihr selbst unruhig schlaft? Ihr wacht auf und plötzlich ist euch alles zu viel, alles unlösbar und es scheint keine Chance zu geben, unbeschadet durch den Tag zu kommen. Aber dann steht man auf, zwingt sich zu den morgendlichen Ritualen und mit jedem gelungenen Handgriff werden die Berge kleiner und die Verhältnisse wieder geradegerückt. Bei mir dauert das ungefähr eine Stunde und ich bin wieder dazu fähig, der Welt ins Auge zu blicken. Lisa ist dabei eine große Hilfe. Sobald ich mich um sie kümmern kann, tritt alles andere in den Schatten zurück. Wären wir in der Harry Potter Welt² unterwegs, wäre Lisa mein Patronus und die Dementoren hätten allmorgendlich das Nachsehen.

    Ob mit oder ohne Zauberei habe ich also nach dem Frühstück die Kurve gekriegt und den schwarzen Mini zielstrebig auf dem Parkplatz der Van Pelt Geschäftsleitung abgestellt. Der kleine Wagen verschwindet förmlich in der langen Reihe der Bentleys und Monster-SUVs. Der Empfang in der Chefetage ist freundlich unterkühlt. Wenn ich erwartet hatte, hier mit offenen Armen empfangen zu werden, habe ich mich getäuscht. So mancher in Blunts Umfeld hat sich wohl schon ausgerechnet, ihn rechtmäßig zu beerben und reagiert entsprechend pikiert auf die neue Personalie. Wie der ausgehungerte Besatz eines Haifischbeckens schwimmen die grauen Jungs und blondierten Damen durch die Flure und ich weiß genau, sobald ich einen Fehler mache und einen Tropfen Blut ins Becken absondere, sind sie nicht mehr zu halten. Willkommen in der wunderbaren Welt der Chefetage!

    Blunt hatte als Chef der Legal Affairs ein Team von zwölf Anwälten im Haus aufgebaut. Dazu kamen locker nochmal so viele Advokatinnen und Advokaten in den Dependancen des Unternehmens in aller Welt. Mit diesem Geschwader ausgesuchter Leute hatte er alle rechtlichen Fragen, die auf die Firma zukamen, geregelt. Sein Team ist schnell, effizient und erfolgreich. Noch nie hat Van Pelt Ltd. einen Prozess verloren. Oft endeten Streitigkeiten in außergerichtlichen Vergleichen, in Erlassverträgen oder Stundungsabreden zwischen den Parteien und waren diskret und dauerhaft aus der Welt geschafft worden. Blunt hatte solche Lösungen immer vorgezogen. Sein Vertrauen in die Macht des Geldes war genauso unbegrenzt gewesen wie seine diesbezüglichen Ressourcen. Geld spielt keine Rolle – und das mit Bravour.

    Der Dienstagmorgen ist strahlend hell und die Sonne schickt warmes Frühlingslicht in das geräumige Büro. Der Tag, die Welt, das Leben – alles kann so schön sein! Nach einem kurzen Klopfen öffnet sich die Glastür zu meinem Büro und zwei reifere Damen treten ein. Ich stehe auf und komme hinter meinem Schreibtisch hervor, um sie zu begrüßen. Eine von ihnen ist Rachel van Pelt, The Boss, Victors Mutter und Lisas geliebte Großmutter in Personalunion. Sie trägt eines ihrer klassischen Ensembles aus elegantem Rock und knappem Blazer und ich denke noch, dass Neunundfünfzig das neue Neunundvierzig ist, sie sieht einfach blendend aus. Die andere Frau kenne ich nicht und habe sie nur von weitem in einem der vielen Büros gesehen. Ich schätze sie auf Mitte fünfzig und alleinstehend. Nicht unattraktiv, aber doch lange nicht so souverän wie unsere Chefin.

    „Darf ich dir Frau Dr. Berg vorstellen?, sagt Rachel und tritt einen Schritt zur Seite. „Angenehm, sage ich.

    „Frau Dr. Berg war Isaacs rechte Hand, sagt Rachel, „sie wird dir helfen, dich zurechtzufinden.

    Mit Sicherheit, denke ich. Sie ist eine aus dem Haifischbecken und ich nehme mir vor, vorsichtig zu sein. Dennoch bin ich froh, dass es jetzt mit der Arbeit losgehen wird. Ich muss mich der Aufgabe stellen, wenn ich hier bestehen will.

    „Anna Berg, freut mich sehr, Frau Blank", sagt Anna Berg mit einem Lächeln und reicht mir ihre schmale, sehnige Hand.

    Ich halte ihre Hand in meiner, viel zu fest und viel zu lange und bemerke, wie Anna sie langsam zurückzieht. Ich verstärke den Zugriff weiter, bis ich mich darauf verlassen kann, dass Anna es schaffen wird, mich über den Rand der Gletscherspalte wieder nach oben in Sicherheit zu ziehen. Jetzt zahlen sich unsere endlosen Trainingstage an der heimischen Kletterwand aus, an der wir unsere Armund Fingermuskeln trainiert hatten, bevor wir hierher nach Nepal zu meinen geliebten Achttausendern gereist waren. Die Gletscherspalte war tückisch gewesen, verborgen unter frischem Schnee und als einer der haushohen Seracs, ein Turm aus blankem Eis, in unmittelbarer Nähe zu uns plötzlich bedenkliche Geräusche von sich gab, war ich einen Augenblick abgelenkt und hatte die Spalte übersehen. Aber unsere Seilschaft hat gehalten und die antrainierten Reflexe haben funktioniert. Gemeinsam würden wir es bis zum Gipfel schaffen, davon bin ich überzeugt.

    Ich blicke von den Händen in Anna Bergs Gesicht. Ihre Stirn liegt in Falten, ob vor Schmerz oder Überraschung, kann ich nicht sagen. Sicher hat sie keinen Schimmer, was hier passiert, und noch sicherer ein leicht merkwürdiges Bild von mir erhalten. Rachel kennt meine Neigung zu Tagträumen und zeitweisen Aussetzern zur Genüge und rettet die Situation.

    „Ich bin sicher, ihr beide werdet sehr gut kooperieren", sagt sie und legt ihre Hand zu einem Dreierbund auf unsere beiden.

    „Verzeihung, sage ich und lasse Bergs Hand los, „ich war in Gedanken.

    „Alles gut, sagt Anna Berg mit einem Lächeln, „Sie haben einen festen Griff. Was trainieren Sie? Asiatisch?

    „Ich habe mal eine Zeit lang gerudert", sage ich und merke, dass mein Gesicht heiß wird.

    Anna Berg nickt. Sie öffnet und schließt die rechte Hand ein paar Mal demonstrativ, als wolle sie prüfen, ob noch alles funktioniert.

    „Das erklärt einiges, sagt sie, „alle Achtung.

    „Und das war nur ihre Hand, sagt Rachel und legt ihren Arm um meine Schultern, „du solltest dich nicht mit ihr anlegen, Anna.

    Ich weiß noch, dass mir die Situation noch lange danach unangenehm war. Ich habe kein Mittel gegen die Tagträume, bemerke den Übergang von Realität zu Traum entweder gar nicht oder erst, wenn es schon zu spät ist.

    Mittlerweile habe ich mich damit so gut es geht arrangiert, die Träume sind ein Teil von mir. Manchmal zum Guten, meistens jedoch eher nicht. Mein erster Eindruck von

    Anna relativiert sich jedenfalls und unser erstes Treffen könnte tatsächlich der Beginn einer Freundschaft sein.

    Ohne Verbündete würde ich in meinem Job bei Van Pelt

    Ltd. kaum eine Chance haben. Ich beschließe daher, alles zu tun, um die Verbindung zu ihr auszubauen.

    Als erstes verabrede ich mich mit ihr zum Mittagessen in der Kantine. Wir nutzen die nächsten Tage für meine intensive Einarbeitung in die derzeit laufenden Gerichtsverfahren gegen Van Pelt Ltd. und mir wird schnell klar, dass in diesem Unternehmen an einer seiner vielen Fronten wohl immer Krieg herrscht. Ungefähr zwei Wochen später, an einem Donnerstagabend, gehen wir gemeinsam zur After-Work-Party in die Bar des Schweizer Hof. Ich freue mich, wieder hier sein zu können. Das gediegene Ambiente und aufgesetzte Upper-Class-Gehabe der Kollegen hatte ich tatsächlich vermisst.

    „Schön hier, oder?", fragt Berg, als wir mit unseren Drinks an einem der Stehtische lehnen und in die Runde blicken.

    Ich nicke.

    „Ja, sage ich, „hat was. Ich war früher schon mal hier.

    „Ich erinnere mich nicht, Sie hier schon mal getroffen zu haben", sagt Berg und legt ihren Kopf leicht schräg, als sie mich ansieht.

    „Ist schon eine Weile her, sage ich, „damals sollte ich in Blunts Team arbeiten.

    „Und?, fragt sie, „hat nicht geklappt?

    „Nein", sage ich und breche den Blickkontakt ab.

    Ich will nicht darüber reden, aber Berg lässt nicht locker.

    „Was ist passiert?", fragt sie.

    „Man soll über Verstorbene nicht schlecht…"

    „Doch, soll man", sagt sie, „immer dann, wenn es wahr ist.

    Es ist kein Verdienst, tot zu sein."

    Ich sehe sie an. Erst jetzt fallen mir ihre schwarzen Augen auf, so dunkel, dass man zwischen Pupille und Iris nicht unterscheiden kann. Und wenn es stimmt, was man landläufig daherredet, dass Augen die Fenster zur Seele seien, dann blicke ich gerade in einen Abgrund. Mit meinen neununddreißig Jahren bin ich die Jüngere von uns beiden. Aber es scheint in diesem Moment, in dieser Umgebung und in dieser Stimmung meines Herzens, das im Begriff ist, sich nach langer Zeit einer fremden Person etwas zu öffnen, das Normalste auf der Welt zu sein, Anna Berg das Du anzubieten. Ich nehme mein Glas und proste ihr zu.

    „Ich bin Katy", sage ich.

    „Anna", sagt sie und greift ebenfalls zum Glas.

    Die Gläser klingen hell, als sie zusammentreffen und die bunten Flüssigkeiten schwappen so übermütig hin und her, als wären auch sie gerade zu Freundinnen geworden.

    „Wie war das jetzt mit dir und Blunt?", fragt Anna.

    Ich stochere mit dem Strohhalm in meinem Drink herum.

    Anna lässt mir Zeit. Schließlich rücke ich damit heraus.

    „Blunt war offenbar pädophil, sage ich, „er hat sich an meine Tochter rangemacht. Das ist noch kein Jahr her.

    „Sieh mal einer an, sagt Anna, „was für eine Ratte. Ich habe nichts davon mitgekriegt.

    „Auch nicht, dass es ihm am Ende immer schlechter ging?", frage ich.

    „Doch, sagt Anna, „das schon. Wir dachten alle, er hätte Magenprobleme oder so etwas.

    „Hatte er auch", sage ich.

    Und ich erzähle Anna von Victors GPS-Tracker und wie er ihn Blunt verabreicht hatte, um sehen zu können, wenn er sich Lisa nähern würde und dass die Sprengladung, die der Tracker enthielt, schließlich Victor getötet hatte. Die Rache hatte zurückgeschlagen auf den Rächer.

    Karma is a bitch", sage ich und nehme einen großen Schluck aus meinem Glas.

    „Wie geht es deiner Tochter jetzt?", fragt Anna.

    „Schwer zu sagen", sage ich.

    Ich stütze meine Ellbogen auf und lege das Kinn auf die gefalteten Hände. Meine bevorzugte Haltung, wenn ich versuche, in mich hineinzuhören, tiefer zu gehen, den Smalltalk zugunsten eines echten Gesprächs zurückzulassen.

    Lisa macht mir natürlich Sorgen. Zum einen, weil ich nicht weiß, ob sie ein Trauma bezüglich Blunts Aktionen hat und wenn ja, was daraus werden würde. Zum anderen, weil ihr Vater jetzt nicht wie seither scheintot, aber immerhin noch auf dieser Welt in einem Krankenzimmer liegt, sondern wirklich tot ist. Und nicht nur das. Sein

    Körper war durch die Explosion zerrissen worden. Und auch wenn wir in Lisas Umfeld versuchen, mit derartigen Details sparsam umzugehen, ist es doch nicht zu verhindern, dass Lisa die ein oder andere Sensationsstory aus der einschlägigen Presse mitbekommt, und sei es via WhatsApp von ihren Freundinnen und Freunden. Die Welt ist transparent geworden durch unsere neuen Medien, durchsichtig, wachsweich und gleichzeitig hart wie Stein. Nichts bleibt mehr verborgen, für niemanden von uns. Und nirgendwo gibt es noch Schutz.

    „Lisa zieht sich mehr und mehr zurück, sage ich, „und manchmal beobachte ich sie dabei, wie sie ihre Stofftiere und Puppen als Zuschauerkulisse in ihrem Zimmer drapiert, um ihnen vorzuturnen. So wie sie es damals für Käpt´n Graubär gemacht hatte.

    „Käpt`n wer?", fragt Anna.

    „Blunts Spitzname, sage ich, „Lisa nannte ihn so.

    „Du meinst, sie trauert ihm nach?"

    „Ich weiß es nicht, sage ich, „vielleicht ist es auch nur ein Rückzug in eine Zeit, in der es ihr gut ging.

    „Verrückt, sagt Anna, „ausgerechnet…

    „Genau!, sage ich und nickte ihr zu, froh, jemanden gefunden zu haben, der genauso zu ticken scheint wie ich selbst, „ausgerechnet der Typ, der Videos von ihr auf perverse Plattformen hochgeladen hat, scheint ihr ein gutes Gefühl gegeben zu haben.

    Ich trinke mein Glas aus und setze es viel zu heftig auf dem Tisch wieder auf.

    „Aber das ist noch nicht das Schlimmste", sage ich.

    „Sondern?", fragt sie.

    „Lisa ist davon überzeugt, dass ihr Vater noch lebt."

    „Wie kann das sein?", fragt Anna.

    „Sie chattet mit ihm", sage ich.

    Anna runzelt die Stirn.

    „Ich habe es selbst gesehen, sage ich, „ihr Vater antwortet ihr. Sehr schnell und in seinem typischen Vokabular.

    „Jemand, der sich einen blöden Scherz erlaubt?"

    „Nein", sage ich, „sie schreiben über Dinge, die keiner sonst wissen kann. Es ist spooky und es macht mir Angst."


    ² Für den geradezu undenkbaren Fall, dass Du mit J.K. Rowlings Geschichten um den Zauberlehrling Harry Potter nicht vertraut bist, empfehle ich, dieses Buch auf der Stelle zur Seite zu legen, und dich dort einzulesen. Du wirst es nicht bereuen.

    5. Phil – On the Road

    Dienstag, 20. Mai 2019, Les Vatiéres, Mont Saint-Michel

    Rechtzeitig vor Sonnuntergang haben wir heute die kleine Pension am Straßenrand erreicht. Für zwei Nächte hatte ich hier vor ein paar Tagen vorgebucht. Zwei Nächte unter einem festen Dach und in einem richtigen Bett. Es würde eine Wohltat werden nach den letzten Übernachtungen im Freien. Man sollte meinen, dass Ende Mai so langsam der Sommer in Mitteleuropa eingezogen wäre, aber trotz Klimawandels und aller bescheuerten Kommentare dazu hatten wir mit siebzehn Grad heute Mittag während einer der seltenen Sonnenstunden auf dem Marktplatz in Caen die seit Tagen höchste Temperatur gemessen. Ansonsten war es eher frisch gewesen die letzten Tage, von den Nächten ganz zu schweigen. Die als romantische Lagerfeuerrunden an den Stränden der Normandie geplanten Aufenthalte arteten zu einem regelrechten Survivaltraining aus mit Nachtabsenkung auf gerade mal eine Handvoll Gräder. Wir hatten kein Zelt, nur diese Plane, die wir zwischen den Bikes aufspannten, und unter der wir mehr schlecht als recht zusammengekauert in den Schlafsäcken lagen. Jetzt haben wir genug. Wir brauchen Wärme, Trockenheit, eine stundenlange heiße Dusche. Dinge, die uns das Gefühl geben, von einem Rudel wilder Strandhunde wieder zu Menschen zurück zu mutieren.

    Wir, das sind Jerome, seine Freundin Chelsea und ich. Seit einer Woche sind wir gemeinsam unterwegs. Seit dem Tag, an dem wir uns auf einem der zahlreichen Soldatenfriedhöfe oberhalb von Omaha Beach zufällig getroffen hatten und übereinstimmend der Meinung waren, es wäre eine Spitzenidee, eine Zeit lang ein Rudel zu bilden und die historischen Strände entlang zu streunen, die Nasen tief am Boden, um die Witterung der vielen tausend Soldaten aufzunehmen, die hier vor fünfundsiebzig Jahren an Land gespült worden waren wie himmlische Heerscharen tief unter dem feindlichen Radar daherfliegender Camouflage-Engel, ausgesandt, um Europa zu befreien. Nur allzu leicht wird man pathetisch in dieser Gegend der Welt und in dieser Zeit, da habt ihr Recht. So what?

    Von Caen bis hierher waren es knappe zweihundert entspannte Kilometer. Jerome und Chelsea fahren jeweils eigene Mühlen und so waren wir mit drei Bikes unterwegs. Genug für ein Rudel, aber zu wenig, um damit zur Nacht eine windgeschützte Wagenburg zu errichten. Zuerst hatten wir die Route nach Saint Lo genommen, waren dann zur Küste runter nach Granville gefahren und schließlich an der Ozeankante entlang bis hierher. Die kleine Küstenstraße war menschenleer gewesen. Sie duckt sich hinter flache Dünen und Hecken, sodass man das Meer dahinter nur erahnen kann und wir ertappten uns dabei, dass immer mal wieder einer im Stehen fuhr, Helm und Hals in die Höhe reckte und versuchte, einen Blick auf unser eigentliches Ziel zu richten. Einen Ort, den man mit Sicherheit schon von weitem würde sehen können: den Mont Saint-Michel. Eines der Wunder des Mittelalters. Wegen dieses Bergs und seines Klosters hatten wir hier gleich zwei Nächte gebucht. Morgen würden wir die Bikes stehen lassen, mit den Pendelbussen übersetzen und uns das Ding mal genauer ansehen. Für heute stand nichts mehr auf dem Programm.

    Vor einer halben Stunde habe ich mir eine Flasche roten Hausweins und ein Glas geschnappt und war die paar Meter durch flache Felder und Wiesen bis an die Wasserkante geschlendert. Jetzt sitze ich hier im erstaunlich warmen weichen Gras, leere das zweite Glas Wein und sehe, wie die Sonne filmreif hinter dem Mont Saint-Michel versinkt. Die Entfernung zum Berg schätze ich auf runde fünf Kilometer Luftlinie. Ich hebe mein Glas und proste der Sonne zu. Bevor sie sich vom Acker macht, taucht sie den Horizont eindrucksvoll in Ferrari-rotes Licht. Erst vorhin habe ich in der Rezeption unserer Pension die Schlagzeile einer Zeitung gelesen: Niki Lauda hatte just heute seine Base Cap mit ins Grab genommen. Soll noch mal einer sagen, es gäbe keinen Gott.

    Ich bin alleine. Meine beiden Begleiter haben sich auf ihr Zimmer verzogen und genießen wie ich ein wenig Einsamkeit, allerdings – so vermute ich – auf andere Art und Weise. Alleine war ich auch, als ich vor vier Wochen von zu Hause aufbrach, mit damals unbekanntem Ziel. Zwar hatte ich Kerouacs Grabstein auf den Zettel gekritzelt, aber das war eher als Metapher gemeint und stand für das Unterwegssein an sich. On the road – wieviel Verheißung liegt in diesen drei Worten!

    Bei der Wahl zwischen Norden und Süden hatte ich mich für Westen entschieden. Ohne groß nachzudenken steuerte das Bike in Richtung Rhein, überquerte den Fluss bei Kehl und nahm die A4 in Richtung Paris unter die Reifen. Es war bekanntes Terrain und ich brauchte dieses Gefühl, nicht gänzlich lost zu sein. Um mich zu sammeln, musste ich erst mal Bekanntes sehen. Zu viel war passiert in den letzten Wochen. Victors Tod machte uns allen zu schaffen, manchen mehr, anderen weniger. Mir mehr als ich erwartet hatte, dabei hatten wir uns überhaupt nicht gekannt. Offenbar ist das jedoch nicht entscheidend. Fremde Menschen können für einen selbst große Bedeutung haben, auch wenn man sie nie getroffen hat. Personenkult und den Bravo-Star-Schnitt würde es nicht geben, wenn das nicht so wäre. Nichts ist einfacher als sich irgendwelche unerreichbaren Stars so zurechtzubiegen, als wären sie die perfekten Kumpels oder Väter oder Partnerinnen. Aufgeladen und überlebensgroß durch ihr Renommee in Kunst oder Sport oder Weltpolitik, stehen sie hoch über den Normalsterblichen und lassen diese im Alltag hoffnungslos verblassen und alt aussehen. Allerdings fragte ich mich, wie Victor für mich in die Riege der Helden passte. Was hatte er schon Tolles geleistet?

    Als ich kurz vor Metz von der Autobahn abfuhr, um zu tanken und eine Kaffeepause zu machen, stand dort ein silbergrauer Porsche mit Schweizer Kennzeichen vor der Raststätte. Es war dasselbe Modell, das Victor früher gefahren hatte. Katy hatte mir Bilder davon gezeigt, wie sie beide in Südfrankreich unterwegs gewesen waren, lange bevor Victor seinen tragischen Unfall erlitten hatte. Ich ließ das Bike mit frisch gefülltem Tank auf dem freien Platz neben dem Stuttgarter Sportwagen ausrollen und holte mir einen Kaffee. Als ich zurückkam, sah ich, wie ein junger Mann meine Maschine begutachtete. Er war in die Hocke gegangen, um den Motor besser betrachten zu können. Sein teures Sakko berührte beinahe den staubigen Boden, aber

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