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Die Wurzeln der Myrte: Le radici di Mirto
Die Wurzeln der Myrte: Le radici di Mirto
Die Wurzeln der Myrte: Le radici di Mirto
eBook931 Seiten14 Stunden

Die Wurzeln der Myrte: Le radici di Mirto

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Über dieses E-Book

Die Wurzeln der Myrte / Le radici di Mirto
Das Leben von Frauen, die während der Jahre des Faschismus und des Krieges gegen Gewalt rebellieren – und ein männlicher Antiheld; drei sich kreuzende Parallelgeschichten in einem sich wiederholenden historischen Ablauf, heute aktueller denn je.
„Die Wurzeln der Myrte“ (einer aphrodisischen Pflanze mit dem Mythos der Fruchtbarkeit, des Glücks und der Manneskraft) erzählt zupackend und zurückhaltend zugleich, zeigt mit dem Finger auf die männlichen Überwältigungs-Instinkte und anerkennt und feiert zugleich den Wert der richtigen Männer.
Die drei Frauen erleiden unterschiedliche Formen der Gewalt: Norma, die junge und schöne Frau aus der Emilia-Romagna, möchte eine Edel-Schneiderin werden und wird zuerst eine Art Escort-Dame, dann Prostituierte in geschlossenen Häusern. Perla aus Genua, Erbin und zukünftige Unternehmerin im Bauziegelgeschäft ihres Vaters, erleidet die psychische Gewalt von Seiten ihres Verlobten und eine brutale Aggression von Seiten eines Idioten. Jean, ein intellektueller Antifaschist mit jüdischen Wurzeln, erlebt den Partisanenkrieg, bei dem er wertvolle Dokumente für die Resistenza übersetzt, einen Widerstand, den seine Familie teuer bezahlen soll. Trotz ihres unterschiedlichen sozialen Status, ihrer unterschiedlichen wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse und ihrer verschiedenen Schicksale verbindet die Protagonisten jedoch ein und dieselbe Leidenschaft, das gleiche heilige Feuer, das sie belebt und antreibt: das Feuer der Rebellion.
***
Vite di donne ribelli di fronte alla violenza durante gli anni del Fascismo e della Guerra e un antieroe maschile: tre storie parallele che si intrecciano. Un “ciclo” della nostra storia che ritorna, oggi più che mai attuale.
Le radici di Mirto, (pianta afrodisiaca e mitologica legata alla femminilità, alla fertilità, alla fortuna, al vigore), è un esempio nuovo e genuino di letteratura al femminile, incisiva e discreta al tempo stesso, in cui viene puntato il dito contro gli istinti maschilisti di sopraffazione e, al tempo stesso, viene riconosciuto ed esaltato il valore dei veri uomini.
La violenza subita dalle donne è di diverso stampo: Norma, giovane e bella emiliana, aspirante “sarta” di lusso diviene escort ante litteram e poi prostituta delle case chiuse; Perla, ereditiera genovese e futura imprenditrice dell’azienda di laterizi del padre, subisce la violenza psicologica dal fidanzato ed una brutale aggressione da parte di un balordo. Episodi di guerra partigiana sono vissuti da Jean, intellettuale antifascista di origini ebraiche, attraverso la traduzione di documenti preziosi per la Resistenza. Resistenza che la sua famiglia pagherà cara, con lo stupro della adorata figlia Ale.
Differente status sociale, situazione economica, culturale e differenti destini. I protagonisti sono però accomunati da un’identica passione, lo stesso fuoco sacro che li anima e li attrae: la ribellione. 

Die Autorin / L’Autrice
Maria Grazia Corradi wurde in Genua geboren, wo sie heute auch lebt. Sie war Lehrerin und Schulleiterin in Genua, in Stresa und Genf.
Von ihr ist die kurze Erzählung La mia storia con Sacha erschienen „Die Wurzeln der Myrte“ ist ihr erster Roman.
***
Maria Grazia Corradi è nata a Genova dove attualmente vive. È stata insegnante e dirigente scolastico nella sua città, a Stresa e a Ginevra. Ha pubblicato il racconto La mia storia con Sacha. Le radici di Mirto è il suo primo romanzo.
SpracheDeutsch
HerausgeberErga snc
Erscheinungsdatum16. Mai 2021
ISBN9788832982695
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    Buchvorschau

    Die Wurzeln der Myrte - Maria Grazia Corradi

    Goethe

    Prolog

    I

    Genua 1935 I

    I Der Geruch von frischem Fisch und Bratfett stieg von der Sottoripa1 in die Gasse hinauf. Jean Ferrera blieb an der Haustür stehen. Es war Mittagszeit, und ein wenig Licht fiel schief auf den marmornen Bildstock an der Ecke. Weiter oben tauchte ein Stück Blau zwischen den noch dunklen Häusern im Schatten auf.

    Auf der Straße verließen einige elegante Erscheinungen mit Hut und Stock den Palazzo der Warenbörse und wendeten sich dem Bordell in der Via San Luca zu, dem Mary Noir, das zur Mittagsstunde seine Pforten wieder öffnete.

    Der Schrei eines jungen Mannes und harte Männerstimmen kamen aus der engen Gasse neben dem Hauseingang, den Jean gerade verlassen hatte. Er drehte sich um und sah eine magere Gestalt vor dem Eisentor.

    Sie hatten ihn gepackt und hielten in fest.

    Wieder die Schwarzen Schwadronen2. Jean kannte den Jungen. Er arbeitete im Hafen und verheimlichte seine Gedanken nicht, die er von seinem Vater hatte, dem Leiter eines antifaschistischen Verteidigungskomitees in Sestri im Jahr einundzwanzig. Er hatte sich in Schwierigkeiten gebracht, dieser Junge. Die Schreie erschütterten die Stille des Mittags, die von den Glocken der Banchi–Kirche und der Kathedrale angezeigt wurde. Keiner der Passanten schien zu bemerkten, was hier passierte.

    I Einer der beiden versetzte dem Jungen einen Schlag auf das Auge, der andere verdrehte ihm den Arm. Blut rann aus der Nase und lief den Hals entlang. Jean hörte das Knirschen des Armes, der mit Gewalt auf den Rücken verdreht wurde. Der Junge ließ sich zu Boden fallen, kniend zusammengekrümmt. Die beiden ließen ihn los und misshandelten ihn mit Faustschlägen auf den Kopf. Als er am Boden lag, traktierten sie ihn mit Fußtritten. Rote Flecken beschmutzten Hemd und Hose. Sie erblickten Jean: Sie hielten inne und schrien ihm zu, er solle sich beeilen und sich fortmachen. Sie hatten muskulöse Arme und massige Körper. Jeans Beine zitterten. Die Gasse war nicht mehr als zwei Meter breit und er musste ihre Hemden mit seinem Überzieher streifen. Er roch den Schweißgeruch. Er begegnete dem angstvollen Blick des Jungen, aber er musste weitergehen.

    I Er kam zum Hafen, betrat das Lager, und als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, dass die Kisten mit der Ware aufgestapelt und mit diagonalen Aufklebern versehen worden waren. Auf der Seite in einer Ecke standen die Kaffeesäcke. Er atmete den vertrauten Geruch ein, eine Mischung von exotischen Gerüchen und Düften, von Jute und dem Sägemehl auf dem Fußboden. Er ging hinaus und schloss die Tür. Der Gedanke an jenen Jungen beängstigte ihn immer noch, während die Sirene eines ankommenden Schiffes den schrillen Schrei einer Möwe in den Himmel hinauf trug.

    Er verließ den Hafen und ging zur Sottoripa zurück.

    Zwischen den Arkaden herrschte die langsame und schwache Bewegung der Essenszeit.

    Händler, Seeleute und Akademiker. Zwei Reeder, die er kannte, kehrten gerade in ihr Büro in der Piazza de Marini zurück. In den Fischläden war vom Morgenverkauf nur wenig Ware übriggeblieben. Jean hatte nach dem, was er Stunde zuvor auf der Gasse gesehen hatte, nur wenig Hunger und Durst.

    Er warf einen Blick in die Frittierbude und sah die Angestellten seines Büros, die ihn mit einem Handzeichen grüßten, vor zwei dampfenden Schüsseln mit Minestrone und zwei Gläsern Wein. Eine gewisse Unruhe brachte ihn dazu, die Via San Luca hinauf zur Piazza Fossatello zu schlendern.

    I Ein in vielerlei Beziehung großer Geschäftsmann, den er vom Sehen kannte, kam mit einem Paket in der Hand aus einer Parfümerie heraus. Er schaute vorsichtig um sich, als ob er gerade eine Bank oder ein Juweliergeschäft überfallen hätte. Er hielt den Hut in der Hand. Nach ein paar Augenblicken ging er die Straße zurück.

    Jean verspürte das Bedürfnis nach vertrauten Menschen und ging zu Marescotti3.

    Ein paar Universitätsprofessoren, Kollegen von früher, kamen zu dieser Zeit gewöhnlich von der Via Balbi herab in dieses geheizte und von Spiegeln widerleuchtende Lokal, wo sie ihren Treffpunkt hatten.

    Auf dem Jugendstiltresen klingelte die Registrierkasse wie ein Glockenspiel. Die Dampfmaschine daneben, die erste Espresso–Maschine Genuas, puffte aus Ihrer bronzenen Säule heraus.

    In dem antiken Lokal herrschten eine kultivierte Atmosphäre und eine Intimität, als ob man zu Hause wäre. Er warf einen Blick in die Spiegel und sah, wie die seine Freunde, die Professoren, eintraten.

    I Sie grüßten ihn, zogen ihre Mäntel aus und setzten sich an ein Tischchen.

    – Lange nicht mehr gesehen – sagte Gigi Fasce. – In der Fakultät spricht man oft von dir. Du hast den Weg des Nützlichen gewählt. Was wir verdienen, ist fast nicht der Mühe wert, nicht wahr?

    Die Freunde drehten sich um und sahen den Sprecher vorwurfsvoll an Jean dachte, dass der Kollege sich nicht auf solch direkte Art an ihn hätte wenden müssen. Er sagte nichts weiter, sondern wendete den Blick ab, um eine Verunsicherung nicht zu zeigen.

    – Seit der Mamser4, um ihn mit dem Namen zu nennen, den jener braven Mann ihm gegeben hat, der in Genua Bücher herstellte5 – fügte der Sprecher hinzu– seit, sage ich, dieser Bastard uns vor die Entscheidung gestellt hat, haben sich die Dinge zwischen uns geändert. Worte, Schweigen, schwere Dinge sind gefolgt. Sie haben die Macht gehabt, sie haben es tun können. Konsequenz und Mut. Man muss die Dinge sehen, wie sie sind, um auch die anderen zu verstehen. Wir hatten Angst, wir mussten uns gegen uns selbst entscheiden.

    – Sprich nicht für andere – sagte Jean – Du standest vor keiner Entscheidung. Du hattest keinen Lehrstuhl. Dem Faschismus den Eid zu schwören oder ihn nicht zu schwören, hatte für dich nicht dasselbe bedeutet wie für sie.

    I – Es geht uns alle an – war die Antwort – Und du warst nicht dabei, du kannst es nicht wissen.

    Der Ton war bitter geworden. Es folgte für einige Minuten eine unangenehme Stille.

    Jean dachte an jene zwölf, die, weil sie den Eid verweigert hatten, gezwungen worden waren, den Lehrstuhl zu verlassen, und Einbußen an ihrem Einkommen hatten hinnehmen müssen6. Er war nicht dabei gewesen, aber aus Gründen, die nichts mit der Politik zu tun hatten.

    Er betrachtete seine Freunde, einige hielten das Kaffeetässchen in der Hand, andere schlürften einen Likör.

    Er kannte jeden einzelnen und konnte ihre Gedanken erraten. Er kannte die Gründe dessen, der von der Angst vor der Entscheidung gesprochen hatte. Er hatte Recht gehabt, aber den vorwurfsvollen Ton konnte er ihm nicht durchgehen lassen. Auch die Kirche hatte sich damals dafür ausgesprochen, um das Gewissen der Menschen zu erleichtern, ebenso politische Persönlichkeiten, die mit dem Faschismus nichts gemein hatten. Für diejenigen, die geschworen hatten, musste es Gründe geben, die sie in ihrem Herzen geheim hielten.

    I Auch er war in seinem Inneren versucht, sie zu entschuldigen, aber dann fielen ihm all die jahrelangen Diskussionen über die heiligen Grundsätze ein, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmten. Er wurde immer nervöser, ohne sich dies jedoch anmerken zu lassen.

    – Ich denke an die Jugend – sagte er – Was am schlimmsten ist, das ist die Unterwerfung der Massen, die das Regime seit Jahren betreibt mit berechnendem Kalkül, mit Zynismus und Beharrlichkeit. Gehirnwäsche, intellektuelle Vergewaltigung, fast schlimmer als die physische.

    Ihm hatten immer die Unterwerfung des Denkens der anderen unter die Ideologie, die Ausrottung der eigenen Persönlichkeit, die Gleichschaltung Angst gemacht.

    Und diese Riesenoperation hatte auch seine Frau und seine Töchter ergriffen, mit seiner ausdrücklichen Duldung. Sie der Gewalt des Regimes preiszugeben, das hatte er selbst zu ihrem Besten beschlossen. Später, in künftigen Jahren, würde er sie freilassen, damit sie selbst etwas begriffen, und er würde ihnen dann auch die Instrumente dafür zur Verfügung stellen.

    Noch war die Zeit nicht gekommen.

    I – Nie und nimmer würde ich das Parteibuch nehmen – hörte er sich überrascht selbst mit lauter Stimme sagen.

    – Du arbeitest auf eigene Rechnung – bemerkte einer – Du gehörst nicht dem öffentlichen Verwaltungsapparat an, du bist ein Privatmann, du hast gewisse Wahlmöglichkeiten. Wenigstens im Augenblick, scheint mir.

    Jean senkte den Blick ohne ein weiteres Wort, und man ließ das Thema fallen. Um den Tisch herum tranken sie in Ruhe aus ihren Tassen und Gläsern.

    Bertocchi trat ein, der Ansaldo–Ingenieur, sein Freund, wie immer mit seiner übermütigen, fröhlichen und entschlossenen Miene.

    – Ich grüße Euch, illustre Professoren.

    I – Wie geht es dir? – wendete er sich an ihn – Ich wette, du hast noch nicht gegessen. Ich sehe, dass du nichts trinkst. Willst du nicht wenigstens rauchen?

    Er gab die Antwort, indem er ihm eine Zigarette anbot, sie ihm anzündete; dann zeigte er die Sportseite der Zeitung. Sofort begann ein Gespräch über die städtischen Mannschaften. Sie lachten, wechselten Scherzworte, und es gelang Jean, die Last der Gedanken dieses Mittags loszuwerden, die ihn nicht mehr verlassen hatten, seit er jenen beiden im Vicolo San Raffaele begegnet war.

    Er musste ins Büro zurück, und Bertocchi bot sich an, ihn zu begleiten.

    – Ich kenne dich gut, besser als sie. Täusche ich mich, oder gab es nicht eine gespannte Stimmung, als ich reinkam? Worüber habt ihr gesprochen?

    – Politik. Darüber, was im Jahr einunddreißig passiert ist und über die Konsequenzen. Diejenigen, die am meisten unter der Entscheidung gelitten hatten, schwiegen, und einer zog Vergleiche zwischen denen, die sich entscheiden mussten, und den anderen. Es war mir so, als ob er ein Pauschalurteil über meine Person fällen würde.

    I – Vergiss es! Sie vergeuden normalerweise ihre Zeit mit solchen Diskussionen. Das weißt du ja. Das ist ihr Beruf. „Mitglied werden oder nicht". Eigentlich ist es einfach: Musst du arbeiten? Eine Familie durchbringen? So wird Italien in diesen Jahren regiert. Man muss nur schnell sein, sich anpassen.

    – Deinen Pragmatismus kenne ich gut – antwortete Jean – Die großen Systeme, die ethischen Werteordnungen – ins Meer damit! Das ist dir immer egal gewesen. Aber jetzt steht ein sakrosanktes Prinzip auf dem Spiel: die Freiheit des Denkens und sein Gegenteil, der Machtmissbrauch. Du siehst die Realität, ich sehe meine Ideale. Hast du dir das jemals klargemacht, Bertocchi? Wir sind so verschieden und schon so lange Freunde. Damals im Großen Krieg7. Wir waren zuerst bei der Artillerie Fortezza. Und vorher noch auf der Militärschule.

    – Für eine Freundschaft gibt es viele Gründe – schloss Bertocchi.

    I Sie gingen los. Am Eingang des Mary Noir sahen sie den Präsidenten und den Vizepräsidenten der Gesellschaft, die ihren Sitz in dem Gebäude hatte, in welchem auch Jean sein Büro hatte. Sie kannten sich schon seit langem.

    Sie grüßten sich.

    – Hast du gesehen, wie zufrieden sie aussahen? – sagte Bertocchi, als sie sich entfernt hatten. – Ruhig und zufrieden, nachdem das weibliche Fleisch ihre Lust gestillt hat!

    – Wie sprichst du denn? – antwortete ihm Jean, amüsiert und überrascht zugleich.

    – Wer sich mit diesen schönen Damen trifft, befriedigt den Eros und unterdrückt, oder besser ignoriert den Herrschafts– und Missbrauchsinstinkt.

    I – Du überraschst mich, Bertocchi. Irre ich mich, oder verstandest du dich einst nur auf Röhren? Nun wird mir klar, dass du dich auch mit der männlichen Lust auskennst, mit schönen Frauen und den Geheinissen des menschlichen Geistes.

    Er gab ihm einen Schlag auf die Schulter.

    Unter der Krempe des Borsalino entstand zum ersten Mal, seit er an diesem Tag aufgestanden war, eines dieser Lächeln, das, wie seine Frau sagte, ihn einem berühmten Schauspieler ähnlich machte.

    Er hieß Laurence Olivier, dieser Schauspieler, und war Engländer.

    Zwischen Colorno und Parma in einem Weiler, eines Morgens I

    I Der Wind öffnete die Läden. Der trockene Schlag weckte sie. Norma öffnete die Augen und schloss sie sofort wieder; es war zu hell. Die Sonne stand praktisch im Mittag und kam direkt durch das offenstehende Fenster herein. Sie erinnerte sich langsam: Sie und Remo. Im Dunkeln. Es war spät geworden.

    Sie hatte keine Lust aufzustehen. Sie zog einen Zipfel des Leintuchs beiseite und streichelte das freie Bein. Im Blut, im Mund und im Schoß spürte sie noch die Erregung der Liebe, die sie vor Stunden erlebt hatte, draußen im Graben, die Luzerne, die sie in die Arme gestochen hatte, die Feuchtigkeit der Nacht.

    Er war ein schöner Junge, wer weiß, ob er den Romantiker spielte, um ihr zu gefallen, oder ob er wirklich so war. Als sie sich bei den Bäumen am Fluss getroffen hatten, war er plötzlich stehengeblieben, hatte das Klappmesser herausgezogen und in die Rinde geschnitzt, hatte ihr gesagt, dass er sich bei ihr neugeboren fühlte, und hatte sie in die Arme genommen.

    I Die monotone Stimmer ihrer Mutter rief sie für irgendetwas um Hilfe. Sie beschloss aufzustehen und betrachtete sich im Schrankspiegel. Der Baumwollunterrock ließ die Schultern und einen Teil der Brust frei. Sie berührte sie, schaute ihre Lippen an und in ihre Augen und fand sich schön. Sie machte sich den Zopf und steckte ihn im Nacken fest.

    Es war fast ein Luxus, ein „volles Bad" zu nehmen, wie ihre Mutter sagte, es an einem Werktag zu nehmen, aber Norma wollte sich an diesem Morgen diesen Luxus gönnen.

    Wo im Nebenzimmer der alte Wasserstein gewesen war, war vor kurzem eine Zinkwanne aufgestellt worden. Sie ging hinunter, um vom Herd den Behälter mit dem heißen Wasser zu holen, als die Mutter im Nebenzimmer war. Sie stieg wieder hinauf, ging in ihr Zimmer zurück, um die Kleider zu holen, die sie nach dem Bad anziehen wollte. Die Stille wurde von aufgeregten Stimmen unterbrochen Sie schaute auf den kleinen Balkon hinaus. Es war schon Mittag, und die Männer kamen für die Mittagspause nach Hause. Der Wind zerwuschelte den Unterrock und das Haar. Sie zog sich zurück, um nicht gesehen zu werden.

    Sie ging zur Wanne und tauchte hinein. Sie blieb auf dem Rücken liegen, eingetaucht, mit geschlossenen Augen.

    Sie spürte wieder die Hand von Remo, der ihren Rücken streichelte und die Wirbelsäule entlang fuhr, die Hand auf der Brust und weiter unten am Schoß, die Kraft des Körpers, der sich an sie drückte, und die Entschlossenheit, mit der er in sie eindrang. Dann die rhythmischen Bewegungen, bis es wehtat. Blutige Tropfen hatten die Hose befleckt, und Remo hatte versucht, sie mit dem Taschentuch und Waser aus dem Fluss abzuwischen.

    I Erregte Stimmen kamen aus dem unteren Stockwerk. Ihr Vater, von der Arbeit zurückgekehrt, sprach mit der Mutter. Sie stand auf und stieg aus der Wanne.

    Sie würde hinuntergehen, wenn ihr Vater wieder zur Arbeit gegangen war.

    Sie zog das Kleid an, das sie selbst genäht hatte, aus Baumwollnessel mit einem quadratischen Ausschnitt und einem Band um die Taille. Sie betrachtete sich wieder im Schrankspiegel, versuchte ihre Haare zu lösen, aber dann band sie sie doch wieder zum Zopf. Sie sah, dass ihre Augen einen glücklichen Ausdruck hatten.

    Ihr Vater öffnete die Tür. Sie hatte ihn nicht die Treppe heraufkommen gehört.

    – Du musst mir drei Sachen erklären – schrie er – Die erste: Warum kommst du so spät am Abend nach Hause. Die zweite: Bei wem warst du. Die dritte: Warum bequemst du dich nicht, deiner Mutter zu antworten, wenn sie dich braucht, und stehst erst mittags auf.

    I Sie konnte mit unerwartetem Mut antworten.

    – Ich werde ihr am Nachmittag helfen. Gestern Abend war ich mit Freundinnen unterwegs.

    Sie sah den Blick ihres Vaters, die gefurchte Stirn, die breiten Runzeln. Er betrachtet eindringlich ihren Hals, ihre Brust, ihre Beine. Mit einer plötzlichen Bewegung zog er seinen Hosengürtel aus. Sie spürte, dass die Haut, wo er sie schlug, brannte und schmerzte.

    – Ich will nicht, dass sie sagen, ich hätte meine Tochter zu einer frechen Schlampe verzogen. Den Rücken will ich dir geraderichten. Dreh dich um.

    Ein Schmerzensstöhnen kam aus ihrer Brust. Der Umriss ihrer Mutter war hinter der halboffenen Tür zu sehen. Wieder dieses schreckliche Brennen auf dem Gesäß und auf den Schultern. Auch der Hals schmerzte.

    I – Sag mir, dass du die Lektion gelernt hast! – Er packte sie am Handgelenk, dass es ihr wehtat.

    – Ich hab’s begriffen. Lass mich!

    – Sag mir, dass du es gelernt hast.

    Er beharrte und sein Griff ließ nicht nach.

    Als er sie schließlich losließ, spürte sie den Schlag seiner Hand mit voller Gewalt in ihrem Gesicht. Sie war erleichtert, als die Zimmertür wieder zuging und sie alleine zurückblieb. Ihr Kopf drehte sich, Übelkeit und leerer Magen.

    I Sie heulte vor Schmerz und vor Wut.

    Sie wollte sich im Spiegel sehen und sah, dass die Ohrfeige rote Streifen auf der Wange hinterlassen hatte. Sie setzte sich auf den Rand des Bettes.

    Die Zeitschriften lagen auf dem Boden zerstreut, auf der Kommode stand der halbvolle Wasserkrug. Sie packte ihn und schleuderte ihn an die Wand. Scherben, verschüttetes Wasser und nasses Papier. Von einer auf dem Bett übrig gebliebenen Titelseite lächelte eine Stummfilm–Diva.

    Sie ging hinunter, schaute in den Hof hinaus und sah ihre Mutter, die Leintücher abhängte. Als sie hereinkam, half sie ihr, die Wäsche zusammenzulegen und in den Korb zu tun.

    Sie setzte sich an die Nähmaschine und fing an, Tischtücher zu säumen.

    I Ihre Mutter, ein Schatten an den Wänden, hinter die Türen gekrümmt. Ein Schatten nur, der sie nicht liebte, weil sie eine unerwünschte Tochter war.

    Norma wusste, dass sie statt ihrer nach der Geburt von Emi einen Jungen erwartet hatte. Das wäre der Erbe von Grund und Boden geworden, der Erbe des Namens.

    Die Mutter war jetzt ins Haus zurückgekommen. Sie warf ihr einen schiefen Blick zu, ohne ein Wort darüber zu sagen, was passiert war. Sie hörte, wie sie das Wasser in den Wasserstein laufen ließ, und das Geräusch des Geschirrs. Norma vertiefte sich in ihre Arbeit und ihre Gedanken.

    Emi. Sie hatte letztes Jahr geheiratet und lachte eigentlich nie. Norma dachte, dass Emi langsam wie ihre Mutter würde, ohne Farbe in der Monotonie des Alltags, der täglichen Gesten, der fehlenden Liebe.

    Im Unterschied zur Mutter tat ihr Emi ein wenig leid. Der Dorfarzt hatte sie seinerzeit, bevor sie heiratete, gewogen wie eine Kuh und hatte dem Ehemann zugesichert, dass sie eine robuste Konstitution hatte.

    I Das war der Brauch des Dorfes für die Frauen vor der Hochzeit.

    Wenn der Amtsarzt die Kühe visitierte, kam ihn manchmal plötzlich eine zärtliche Regung an und er ließ sich dazu hinreißen, das Fell zwischen den halbgeschlossenen Augen der Tiere zu kraulen; den Frauen gegenüber hatte sein Blick die Kälte von jemandem, der auf dem Markt den Preis und die Qualität einer Ware abschätzte.

    Die Pendeluhr schlug sechs. Norma ruhte von der Arbeit und ging hinaus. Sie ging den kleinen Weg hinter den nördlichen Türmen entlang. Das Zuhause zu verlassen, hätte die Bedeutung einer Revolte, aber bis jetzt konnte sie nichts weiter tun als rauszugehen, allein, ziellos.

    Sie ging zwischen den Kirschbäumen hindurch und betrachtete den Himmel und die Muster der Früchte und Blätter.

    Stimmen kamen näher, von weitem. Eine machte ihr Angst, die ihres Vaters.

    I Anderntags würde sie wieder zu „Zuschneiden und Nähen gehen, eine Liebhaberei, die ihr eines Tages erlauben würde, Schneiderin zu werden. Sie würde sicher sehr gut sein, sie würde jene raffinierten Modelle zuschneiden und nähen, die sie auf den Kunstdruckseiten von „Eleganz und Neuheit betrachtete und eingehend studierte.

    Sie war am Ende der bebauten Felder angelangt, an der Grenze des Gutsbezirks. Sie drehte um.

    Die vier Türme erhoben sich in der Ferne grazil in den Himmel, der schon dunkelte, und der Felsen nahm jenes edle Aussehen von alten Erinnerungen, Geschichten und Legenden, von Herzögen und Prinzessinnen an.

    Die Zikaden sangen, als ob es voller Sommer wäre, und die Zugvögel flogen in Formationen.

    Sie stieg auf die Anhöhe hinauf und ließ sich, an einen Baumstumpf gelehnt, zu Boden sinken. In dieser Lage sah sie den Kranz der Hügel im Abendgold.

    I Sie bekam eine plötzlich Empfindung, beinahe ein Vorgefühl: Nie könnte sie, nie wollte sie zwischen diesen Grenzen eingesperrt bleiben. Ihr wahres Leben war schon in diesem Moment da draußen.

    Vom Genfer See nach Genua I

    I Die Stimme der Direktorin überraschte sie, als sie zum Automobil ging.

    Mademoiselle Marini, s’il vous plait, un instant … attendez … petite princesse Hollande est arrivée!"8

    Perla blieb stehen und ging ein paar Schritte zurück, um ihre Zimmerkollegin während dieser Collège–Jahre in Lausanne zu begrüßen.

    Anneliese schaute sie mit einem kleinen Lächeln an.

    Ihre halb geschlossenen Augen, die niemals einem direkten Blick des Gegenübers standhielten, senkten sich auf ihre Schuhe und ihr Reisekleid.

    I – Perla, ma chère – sagte sie – Ich komme nächstes Jahr auch nach Italien, um die großen Kunststädte zu besichtigen. Wir werden uns sehen! Zuerst Venedig, seinen herrlichen Dogenpalast, die San Marco–Basilika, die Rialto–Brücke und die Seufzer–Brücke. Für unser Treffen liegt deine kleinen Stadt Genua, scheint mir, nur wenige Kilometer entfernt, nicht wahr? Nur ein kleiner Umweg auf unserer Tour.

    Perla antwortete nicht. Sie dachte: – Wie immer. Anneliese kennt die Geografie gut, schon wegen der Reisen, die sie mit ihren Eltern in Europa und Italien unternommen hat, aber jetzt spielt sie mir das Gegenteil vor. Venedig und Genua liegen wirklich nicht nur zwei Schritte voneinander entfernt. Und dann ist Genua keine „kleine Stadt". Sie hat noch einmal ihre Bosheit und ihre geistige Beschränktheit hervorkehren müssen. Sie hat versucht, mich zu demütigen.

    Sie wurde rot und dachte an ihre Stadt, die im Ausland nicht sehr bekannt war, die ihr aber sehr schön und lieb war. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass er für sie diesen Namen, Perla, gewollt hatte, am Ende einer Reise, die er mit seiner schwangeren Frau unternommen hatte, in der Hoffnung, dass es ein Mädchen sein würde. Als das Schiff in den Hafen einlief, war die Stadt im Dunst und Licht des frühen Morgens ihren Eltern wie ein Perle erschienen, am Meer eingebettet in den Kranz der Berge, die sie fächerförmig umgaben.

    Thomas öffnete die Tür und ließ sie Platz nehmen, sie machte den beiden neben dem Blumenbeet Stehenden mit der Hand ein Zeichen des Grußes.

    Adieu – sagte sie leise, während das Auto Richtung Bahnhof abfuhr.

    I Der Chauffeur des Collège stieg dann mit ihr in den Waggon. Er prüfte, ob die Nummer auf ihrer Fahrkarte mit der Sitzplatznummer übereinstimmte. Er brachte Koffer und Taschen in der Gepäckablage unter. Er blieb dann stramm im Eingangsraum des Abteils stehen, die Augen auf sie gerichtet.

    Bon voyage, Mademoiselle Marini.

    Er stieg wenige Augenblicke vor der Abfahrt des Zuges aus.

    Perla setzte sich auf ihrem Platz zurecht. Sie nahm diskret und distanziert von dem Passagier gegenüber Notiz und schaute dann auf ihre Fußspitzen, um nicht das Wort an ihn richten zu müssen, so, wie sie ihr beigebracht hatten, dass es sich für eine Signorina auf Reisen nicht schickte, sich mit einem Unbekannten zu unterhalten. Sie zog ihre Handschuhe aus, steckte sie in die Tasche und richtete den Blick zum Fenster hinaus.

    Die Uferpflanzen erhoben sich schräg über dem grauen Wasser des Sees. Schwäne schwammen in einer Reihe um ein Inselchen herum, man konnte ihre weißen Umrisse zwischen den Wipfeln der Binsen erkennen.

    I Der Zug fuhr schnell und ließ die Wagen hüpfen.

    Sie fing zu lesen an. Sie hatte zwei Bücher in ihre Tasche gesteckt, eines auf Französich, eines auf Deutsch. Sie las noch einmal ihre Titel. Im Laufe der Schuljahre hatte sie eine perfekte Aussprache erworben.

    Sie lächelte sich selbst in der Fensterscheibe zu.

    Beim Lesen schaute sie immer wieder nach draußen: die Bäume, der Fluss, die Dörfer und die Bahnhöfe von Montreux, Sion, Brix, danach der Tunnel von Domodossola. Der Zug hatte die Grenze passiert.

    Am Bahnhof von Mailand hätte sie der Hauschauffeur erwarten sollen. Als sie aus dem Wagen stieg, entdeckte sie jemanden, mit dessen Anwesenheit sie niemals gerechnet hätte: Colomba, ihr altes Kindermädchen mit den tollpatschigen altmodischen Kleidern, mit den immer verstrubbelten Haaren, noch kleiner, als sie sie in Erinnerung hatte, ein wenig krumm neben jenem Riesen, der Alberto war. Sie lief zu ihr und umarmte sie.

    I Colomba drückte sie so sehr an die Brust, dass Perla den Lavendelduft der Bluse riechen konnte.

    Sie gingen den Bahnsteig entlang zum Ausgang hin, Alfredo, der schon mit den Gepäckträgern das Aus– und Einladen des Gepäcks geregelt hatte, ihnen voraus.

    – Du bist schön wie immer – sagte Colomba – Du scheinst mir größer als das letzte Mal.

    – Ich freue mich, nach Hause zurückzukehren – fügte Perla hinzu – Du hast mir gefehlt. Der See macht einen auf die Dauer traurig.

    Vor dem Bahnhof am Bürgersteig glänzte ihnen der Isotta Fraschini mit seiner leuchtenden und spiegelnden Karosserie entgegen. Er schien neu zu sein, obwohl ihr Vater ihn schon vor einigen Jahren gekauft hatte.

    I Alfredo öffnete zuvorkommend die Tür und ließ sie einsteigen.

    Das Auto glitt aus der Stadt hinaus in die Ebene hinein.

    – Lieber Alfredo – sagte Perla – Ihr liebt dieses Auto, als ob es Euer Geschöpf wäre.

    – Es ist mein Geschöpf – antwortete der Fahrer und lenkte das Fahrzeug über den nassen Asphalt – Ich pflege es, gewiss, wie es einer Dame von Rang gebührt. In einem solchen Modell fährt heute niemand anders als auch der Duce und unser König!

    – Gut – schloss Perla, setzte sich in ihrem Sitz zurecht und genoss die Anwesenheit von Colomba neben sich. Sie dachte voller Freude und Aufregung an ihre Zukunft.

    I – Die Freundinnen warten auf dich. Ich weiß, dass sie dir geschrieben haben – sagte die alte Frau, während sie das Band löste, mit dem eine Papiertüte zugebunden war. Sie gab sie Perla, die hineinschaute.

    – Die hast du selbst gemacht, wette ich. Gobeletti!9

    Der Duft trug sie in ihr Haus in Genua zurück. Nachdem sie davon probiert hatte, lächelte sie und nickte ein.

    Sie wachte auf, als sie schon fast angekommen waren.

    – Diese Fahrt geht immer ziemlich schnell vorbei, aber dann, wenn man endlich unten angekommen ist, will sie gar nicht mehr aufhören!

    I – Das ist die Ungeduld der Ankunft, Signorina – sagte der Fahrer und gab Gas.

    Bei Sonnenuntergang sah man endlich das Meer. Ein Lichtpunkt am Horizont zeigte ein fahrendes Schiffe.

    I Die Jugendstil–Villa lag inmitten der Ruhe des Parks.

    Jemand rief sie von drinnen. Ingenieur Bertocchi war gekommen und wartete im Studio auf sie.

    Vom Eingangssalon gingen im hellen Tageslicht die Türen der Repräsentationsräume ab. Wasserabflüsse aus Schiefer im weißen Marmor, das lackierte Holz der Türen, die Drucke von antiken Persönlichkeiten, Büsten auf Konsolen und die Gips–Putten im Bogen der Eingangstür fielen ins Auge.

    – Herzlich willkommen, meine Liebe – Der Ingenieur saß an dem Schreibtisch, den ihr Vater gehabt hatte – Du bist eine Signorina geworden. – Er stand auf und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Mit einer Hand wies er auf einen gegenüberstehenden Stuhl und setzte sich wieder. Der Tisch vor ihm war von Büchern und Papieren übersät.

    – Herr Ingenieur, ich danke Ihnen. Ich weiß, dass Sie sich um alles kümmern: um das Haus, das Personal, den Besitz, die Firma… Sie sollen wissen, dass ich sehr dankbar bin.

    I – Ich erfülle den Willen deines Vaters. Ich bin dein Vormund nach meinen besten Kräften, und ich werde es sein, bis du volljährig bist, wenn der Himmel dir Gesundheit schenkt. Ich muss vor dem Gericht Rechenschaft ablegen, aber besonders vor meinem Gewissen. Ich muss dich über einige wichtige Dinge informieren. Die Verantwortung der Entscheidung trage ich, aber von nun an werde ich deine Meinung einholen.

    – Ich verstehe nicht viel von Zahlen, Aktien, Einkünften vom Erbe, zu bezahlenden Rechnungen – die Stimme von Perla verriet Ungeduld, aber sie versuchte freundlich zu bleiben – Ich habe volles Vertrauen in Sie.

    – Mit gutem Willen und stetem Bemühen kann man lernen, was man nicht versteht – Bertocchi blickte bei der Antwort finster – Du bist in einem unbekümmerten Alter, das verstehe ich, du möchtest die Freundinnen wiedersehen, dich vergnügen, an deine Zukunft als Frau denken, aber glaub mir, es ist der Moment gekommen, wo du auch die Realität begreifen musst, die dich umgibt. Dein lieber Papa sagte immer: Das Recht zu befehlen kommt aus dem „Gewusst-wie" und aus dem Gewissen.

    – Entschuldigen Sie meine Ungeduld und meine Zerstreuung. Machen Sie weiter, Signor Ingenere, ich bitte Sie – Perla versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was ihr Vormund zu sagen hatte.

    – Die wirtschaftliche Lage der Ziegelei ist blühend, zweifellos, aber man muss in dieser Beziehung auch die generellen sozialen und politischen Bedingungen in Italien und Europa berücksichtigen. Ich habe guten Grund anzunehmen, dass ein Krieg bevorsteht.

    I –Ja, der Krieg in Afrika. Im Collège habe ich davon gehört – sagte Perla – Ich glaube nicht, dass Italien sich dafür interessiert.

    Bertocchi schwieg. Er dachte, dass er sich in seinen Betrachtungen zu weit vorgewagt hatte, und fing an, auf einfache Art die Bilanz zu erklären.

    Die Palmen schwankten, vom Wind bewegt, im Garten. Das Meer blitze in silbernen Schuppen.

    Genua – Scagni10 und Handel I

    I Ingenieur Bertocchi verließ das Suprema, wo er am Samstag ein reserviertes Apartment hatte. Während er ging, glaubte er noch das Parfum der Signorina zu riechen, die er gerade getroffen hatte. Er ließ den Elfenbeinknauf des Stockes durch seine Hand gleiten und blieb stehen, um sich eine Zeitung zu kaufen. Wenige Tage zuvor hatte das Königreich Italien dem Kaiserreich Äthiopien den Krieg erklärt. Die örtliche Tageszeitung betonte das Vorrücken des italienischen Heeres an allen afrikanischen Fronten und hob die „Götterdämmerung der Sanktionen vom Genfer See" hervor.

    Bertocchi sah die Sache auch so: Dass die Vereinten Nationen Maßnahmen gegen Italien verhängen würden, war unwahrscheinlich. Nachdem er die Überschriften überflogen hatte, warf er einen Blick auf die Piazza De Ferrari: Hier würden bald die Bauarbeiten für die Aufstellung der Bronzeschale beginnen, ein Geschenk des Ingenieurs Piaggio.11 Mit diesem Werk sollte die Kriegserklärung an das Reich des Negus gefeiert werden. Jetzt, wo der Hügel planiert war, um Platz für das neue Finanz– und Handelszentrum zu schaffen, schien sich das alte Herz der Stadt noch mehr in das Gassenlabyrinth beim Hafen zurückzuziehen. Die Glocken vom Turm des Palazzo Ducale und den Kirchtürmen antworteten einander. Er ließ seine Blicke über die Fassaden der der Palazzi auf der Piazza Umberto I und die alten und engen Gebäude der Piazza Pollaioli schweifen. Frauen aus dem Volk eilten zum Einkaufen zum Vico Canneto, er hörte ihren Dialekt, spähte in die Ladengewölbe. Aus den vor den Türen aufgestellten Behältern kam der Geruch von Stockfisch. Das Aroma von Drogeriewaren und Gewürzen mischten sich mit dem Geruch von Obst und Gemüse. Auf einem Plakat für eine Versammlung, die in einigen Tagen im Teatro della Gioventù stattfinden sollte, las er: „Gott, Vaterland, Familie". Es kamen ihm ungewöhnliche Gedanken in den Sinn über jene frivolen Stunden, die ihm zur Gewohnheit geworden waren, die er aber verheimlichte. Er dachte, dass er als Mann und Bürger seine Pflichten vorbildlich erfüllte. Er war sich dessen sicher, dass es vermessen wäre, Gott zu sehr in Frage zu stellen, wie es ja doch Theologen und Philosophen taten. Mitleid und Freundschaft mit seinem Nächsten zu empfinden, Zuneigung zu den Mitmenschen zu haben, besonders ehrlich zu sein, das war das ganze Geheimnis.

    I Das Vaterland: Es war offensichtlich, dass es zur Zeit unter vollen Segeln lief. Italien war ein Schiff, das eine ruhige See hatte. Er dachte an die Familie: Seine Frau fiel ihm ein, streng und prüde bis zum Exzess. Er sah sie, wie sie sich zu ihm ins Bett legte und es dabei vermied, sich nackt zu zeigen. Sie trug Nachthemden von exquisitester Qualität, aber hergestellt, um das zu bedecken, was ihrer Meinung nach geheim bleiben musste. Sie wusste nicht, die arme Frau, dass man glücklicher sein konnte bei einem unerwarteten Blick hinter den Schleier, bei einem zarten Streicheln der Haut. So verhärtet, in ihrer harten Schale eingeschlossen, gab sie immer wieder Zeichen von Schwäche, hatte Schwindel und Leiden. Er litt darunter, und besonders war es für beide schwierig, ihre Konvenienzehe zu ertragen. Er versuchte deshalb, es ihr an nichts fehlen zu lassen und ihr jeden Wunsch zu erfüllen.

    Er stürzte sich von neuem in das Gassenlabyrinth, wo mit Geschrei, Lärm und Farben frei von jeder Fessel das Leben tobte.

    I Er dachte an Jean, und nahm sich vor, ihn aufzusuchen. Jean arbeitete zu dieser Zeit auch am Samstag und schien Sorgen zu haben.

    Er kam im Mittagslicht auf den Banchi–Platz. Er durchquerte das Portal, überquerte den Hof, stieg die Treppe hinauf, ohne jemandem zu begegnen. Die Büros im ersten Stock waren geschlossen. Er stieg in den zweiten Stock hinauf, die Tür stand angelehnt. Jean stand am Fenster, mit einem Rechnungsbuch in der Hand und einem im Leeren verlorenen Blick. Dächer, Türme und Arkaden bis zum Hafen hinab.

    – Störe ich?

    – Du störst nie. Nimm Platz! – Die Stimme klang rau.

    Bertocchi setzte sich an die Seite des Schreibtischs, Jean ihm gegenüber; dieser stand aber gleich wieder auf, öffnete die Fenster und zündete sich eine Zigarette an.

    I – Ich habe die Arbeiten auf der Piazza De Ferrari gesehen – sagte Bertocchi. – Sie stellen die Schale von Piaggio auf. Wir werden eine wunderbare Fontäne in der Mitte des Platzes haben.

    Jean ergriff den auf einem Stuhl liegenden Zeitungsstapel und warf ihn wütend auf den Schreibtisch. Der Freund hatte ihn selten so erregt gesehen.

    – Was geht uns diese Schale an! Du weißt, warum sie aufgestellt wird, nicht? – fügte er ironisch hinzu.

    Bertocchi sagte nichts, um die in der Luft liegende Spannung nicht noch zu erhöhen.

    – Du weißt es. – fuhr er fort – Sie wollen den Krieg feiern! Verflucht! Kommt dir das nicht absurd vor, ein Widerspruch in sich? Dieser Krieg wird mein Ruin sein, verstehst du? Für andre Ruhm und Reichtum aus Scheiße.

    I – Übertreib nicht – unterbrach ihn Bertocchi – Auch die heutige Zeitung sagt es. Es wird keine Sanktionen geben.

    – Zum Teufel mit den Zeitungen! – Jean ergriff irgendeine, zerknüllte die Seiten und warf sie in den Papierkorb. – Hast du gelesen, was seit September über diesen gottverdammten Krieg geschrieben wird, vor der Kriegserklärung und danach? Sag, dass du es gelesen hast! Es werden die Operationen unseres Heeres gelobt und alle positiven Auswirkungen: Das große humanitäre Werk der Militärischen Gesellschaft an den negrinischen Völkern, die Abschaffung der Sklaverei, die verschiedenen sozialen Zivilhilfswerke, die Hilfe für die verhungerte Bevölkerung der besetzten Dörfer. Glaubst du immer noch an das, was in den Zeitungen steht? Wenn ja, beleidigt das deine Intelligenz!

    – Die Zeitungen machen ihre Arbeit. – war die Antwort.

    – Und ihre Arbeit ist es, die Wahrheit in Lügen zu verkehren? Das sind gekaufte Schreiberlinge, Händler im Dienst der Macht! Sie sprechen von dem in Genf vorgelegten italienischen Memorandum. Hörst du? Für sie ist es eine niederschmetternde Anklage gegen die Barbarei und abessinische Bösartigkeit. Glaubst du das auch? – Jean wurde sarkastisch. – „Kein Volk darf Kontakte zu der abessinischen Barbarei unterhalten! Denkst du das auch? Die „abessinische Barbarei!? – Er wiederholte es mit leiser Stimme.

    Sie wurden von einer Möwe auf dem Fensterbrett unterbrochen.

    I – Die fängt heute keine Fische; die hört dir lieber zu – sagte Bertocchi – Komm, wir gehen einen Happen essen. Versprich mir aber, es nicht zu dramatisieren. Ich habe Lust auf eine Minestrone, auf eine dicke!

    Sie verließen das Büro.

    Sie fanden einen Platz bei Rina12, setzten sich in die Wärme und in die guten Gerüche, die aus der Küche kamen. Bertocchi brach das Schweigen: – Wenn du möchtest, kannst du mir von deinen Problemen erzählen, so dass ich es begreifen kann. Bis auf den Ausbruch vorhin bist du immer verschlossen; deiner Frau zu Hause sagst du nichts. Ich verstehe es, du meinst es gut, du willst sie nicht ängstigen. Aber warum führst du dich so auf? Du bist halsstarrig und stolz.

    – Wir sprechen nachher darüber – beendete Jean das Gespräch.

    Als sie ins Büro zurückgekehrt waren, öffnete Jean das Rechnungsbuch:

    I – Das hier sind die Ausgaben für den Transport, für das Löschen der Schiffe und den Transport zu Lande. Hier die Zollkosten. Länder, in denen wir arbeiten, Südamerika, Mittelamerika, Westafrika. Kosten und Gewinne. – Er unterstrich mit Stift die Spalten mit den Zahlen, die er nach und nach erläuterte. – Die Lage ist nicht gerade die blühendste. Und wie es nachher sein wird… – Er hielt inne, wechselte mit dem Freund einen Blick und schwieg.

    – Du musst Lösungen für heute finden, – sagte Bertocchi – die Unkosten reduzieren, die nicht unvermeidlichen, die Miete zum Beispiel. Ich kann dir meine Räume anbieten, kostenlos, wenigstens im Augenblick, wenn du willst. Und dann, scheint mir, empfiehlt sich eine Entlassung, eines deiner Angestellten.

    – Eine Familie auf die Straße setzen? – Jean schaute ihn mit einem schnellen Ausdruck der Beklemmung an.

    – Muss nicht sein – war die Antwort, und das Gespräch ging nicht weiter in diese Richtung.

    – Bei den Übersetzungen kann ich dir helfen, kann dir Aufträge verschaffen, besonders für das Deutsche. Du musst denken, dass es immer einen Ausweg gib, für alles. Das Leben macht Wendungen, früher oder später, manche sind schmerzhaft, andere können sich im Lauf der Zeit zum Guten wenden. Denke an deine Willensstärke, an die Intelligenz, mit der dich der Schöpfer begabt hat. Die hast du schon bewiesen.

    I – Trostreden haben mir noch nie gefallen – schloss Jean. – Muss ich dich noch jetzt nach den Realisierungsmöglichkeiten fragen? Seltsam, wie sich zwischen uns manchmal die Dinge verkehren.

    Sie schauten sich an, und Bertocchi studierte weiter die Büroakten.

    – Du hast mir noch nicht gesagt, ob du den Vorschlag annimmst, dein Geschäft in meine Räume zu verlegen.

    – Ich denke darüber nach – war die Antwort von Jean, und er sah sie beide wieder als junge Männer auf der Militärschule. Bertocchi hatte sich seit damals nicht wirklich geändert. Er, im Gegensatz dazu, fühlte sich verändert. Er war nervös, konnte nicht schlafen, war unzufrieden mit der Arbeit, die er nach dem Studium und der Forschungsarbeit, vielleicht auf Kosten einer guten Kariere an der Universität, aufgenommen hatte. Manchmal fühlte er sich mit der ganzen Welt fremd. Sein Vater, als er plötzlich gestorben war, hatte ihm zu der Ehre verholfen, Mutter und Schwestern versorgen zu müssen.

    Dann waren diese Schwierigkeiten überwunden gewesen, allein durch sein Verdienst. Da war die Jugend vorüber.

    I Er rechnete nach: Es waren mehr als hundert Jahre, dass der Familienbetrieb die Räume im vierten Stock des Palazzo Di Negro in Gebrauch hatte.

    Von den Fenstern nach Osten blickte man auf die Türme der Banchi–Kirche, der Himmel war von der Dämmerung dunkel geworden.

    Im Westen erleuchteten die geankerten Schiffe den Hafen. Jean dachte, dass der Freund Recht hatte; man musste die Kosten reduzieren. Später, als er allein zur Straßenbahnhaltestelle ging, versuchte er die Spannung abzuwerfen. Er dachte an das schwarze Kleid seiner Frau, das mit dem Spitzendekolleté. Sie würde es vielleicht heute Abend anziehen für die Aufführung der Norma im Theater Carlo Felice. Er würde stolz darauf sein, ihr den Arm zu reichen, und glücklich über die bewundernden Blicke von Frauen und Männern. Mit vierzig Jahren war sie noch schön, herzlich und fröhlich wie ein Mädchen.

    Colorno bei Parma I

    I Als sie die Schneiderwerkstatt verließ, war es fast dunkel. Amelia hatte sie aufgehalten, weil sie dieses wichtige Kleid fertig machen sollte, und auch, um ihr die Befriedigung zu gönnen, dass sie es allein ohne Hilfe genäht hatte. Amelia war gut; sie begriff, ohne Fragen zu stellen.

    Auf der Straße draußen brannten Norma die Augen. Sie wartete einige Minuten, bevor sie losging. Sie dachte an die Rückkehr nach Hause und fühlte einen Druck auf dem Magen. Sie fühlte sich leer und verloren, und diese Gefühle, das wusste sie gut, würden sie nachher ergreifen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

    Sie sah ihn schon von weitem an der Bahnlinie. Remo trug eine Baskenmütze und saß rittlings auf dem Gartenmäuerchen des Bahnhofsvorstehers unter der Straßenlampe.

    – Ich habe alle rauskommen sehen. – sagte er zu ihr – Die Schönste bist immer du. Wir treffen uns wie immer hinter dem Wein beim Schilf.

    – Mein Vater lässt mich nicht raus. – antwortete Norma und schaute ihm direkt in die Augen. – Er macht zur Zeit dauernd Geschichten.

    I – Ich warte auf dich. Seit dem letzten Abend denke ich nur noch an dich… Ich habe eine Überraschung für dich.

    Der tiefe und sichere Klang der Stimme Remos erweichte ihr Herz und brachten sie wie immer in eine andere Stimmung. Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare, dort, wo er sie gerade gestreichelt hatte, und machte sich auf den Weg. Zuhause brannten die Lichter. Bevor sie den Hof betrat, ging sie über die Wiese, um den Weg ein wenig zu verlängern.

    Sie trat ein. Schweigen. Sie stellte die Tasche ab und zog sich die Schuhe aus.

    – Essen ist fertig. Dein Vater kommt runter. – Die Stimmer ihrer Mutter, farblos. Sie setzten sich an den Tisch und, wie es jetzt schon seit einigen Abenden passierte, sie geriet in einen Zustand der Anspannung, wobei sie etwas Unangenehmes erwartete, sie wusste nur nicht, was. Es würde aber gleich passieren: ein abrupte Geste, ein Wort würde die Diskussion und den Streit provozieren.

    Die Löffel kratzten am Rand der Schüsseln, die Stühle ließen bei jeder Bewegung die Holzdielen des Fußbodens knarren. Sie schaute ihrer Mutter zu, wie sie den Mund fratzenhaft spitzte. Diese schlürfte die Minestrone vom Löffel und erzeugte dabei ein Gurgeln wie der Wasserablauf im Spülbecken.

    I – Ich habe das Kleid für die Frau des Bürgermeisters fertiggebracht, es ist aus Organza und Samt, sehr schön, schwer zuzuschneiden und noch schwerer zu nähen. – Die Worte aus ihrem Mund klangen, als ob sie nicht von ihr wären. Sie hob den Blick zu ihrer Mutter.

    – Pass auf und lass dich nicht ausnutzen. Dich zahlt sie in Centesimi und sich lässt sie das Kleid in Lire bezahlen!

    Norma dachte, dass die Mutter keine Gelegenheit ausließe, ihr ihren praktischen Sinn entgegenhalten und das zu ignorieren, was sie ihr wirklich sagen wollte, oder sie fragen wollte.

    – Deine Mutter hat Recht, – sagte ihr Vater, der sich mit einem Tischtuchzipfel das Rinnsal auf seinem Kinn abwischte.

    – Ich habe die Abrechnungen fertiggemacht, – fuhr er fort – Der Sohn von Duccio ist mit den Zahlen gekommen, mit den Tieren, die wir verkauft haben, und mit denen, die wir zu Aufzucht haben. Ich muss zahlen, auch die Tagelöhner.

    I – Ich bin müde. – Die Stimme endete in einem Hauch. Sie sagte die Wahrheit, das waren keine Ausreden.

    Die Faust krachte auf den Tisch. Aus dem vollen Glas spritzten die Tropfen auf das Tischtuch und breiteten sich zu dunklen Flecken aus. Sie hörte ihn schreien.

    – Ich habe dich das Handelsdiplom machen lassen, um an dir eine Hilfe zu haben. Schlag dir ein paar Ideen aus dem Kopf, zum Beispiel die, Schneiderin für die besseren Leute zu werden. Amelia! Wir kennen ihr Spiel: Sie beutet alle aus, und vor allem die naiven Mädchen. Das Geld muss am Ende der Woche da sein; ich will keine Sorgen haben. Ich habe keine Lust, bis Erntedank damit zu warten, bis der Winter kommt!

    Ihre Mutter wurde plötzlich lebhaft und fügte hinzu: – Auch der Sohn von Duccio wird zum Fest kommen. Du weißt, dass es ein Junge ist, den man achten muss. Er wird auch Freunde mitbringen. Er hat gesagt, dass sie Musik machen.

    – Zum Teufel mit dem Fest, mit den Abrechnungen und mit dem Sohn von Duccio – dachte Norma, hatte aber nicht den Mut, es laut zu sagen.

    I – Ich bin müde – wiederholte sie.

    Sie sah, wie ihr Vater aufstand und zu ihrem Stuhl kam. Sie spürte, wie er sie mit der Hand am Arm packte. Mit der anderen Hand hob er ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen.

    – Immer machst du Geschichten, wenn es etwas es zu tun gibt! – schrie er.

    Das Gepolter des weggerückten Tisches und des umgeworfenen Stuhles. Die Ohrfeige brannte auf Normas Wange, ihr wurde schwindelig und sie fiel zu Boden. Sie stand wieder auf, zog schnell ihr Schuhe an und ging hinaus. Die Tür hinter ihr machte ein dumpfes Geräusch, sie hörte die Schreie ihres Vaters und lief in die Scheune. Weiter unten, wo die Wiesen sich ausbreiteten, ging sie schneller, erreichte die Reben und dahinter das Schilf.

    Der Mond schien nicht. Ein Schatten ließ sie zusammenzucken, aber sie erkannte seine Stimme.

    I Remo kam näher, nahm sie bei der Hand und zog sie an sich. Sie blieben unbeweglich beieinander stehen.

    Sie hörten den Atem und den Herzschlag des anderen. Ein Wespenbussard schrie in der Nacht. Minuten vergingen, dann begann er, ihren Mund zu suchen. Als sie ihre Lippen voneinander lösten, umfasste Remo ihr Taille mit seinem Arm und zeigte ihr einen kleinen Weg, von dem sie, vielleicht auch wegen der mondlosen Nacht, nicht wusste, ob sie ihn jemals gegangen war. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Remo zeigte ihr den niederen massigen Turm, der zwischen den Pappelreihen wie ein schwarzes Gespenst aussah.

    – Ich habe den Schlüssel zum Haus des Notars. Seit einiger Zeit bin ich mit seinem ältesten Sohn Giorgio befreundet. Kennst du ihn? Vorgestern habe ich ihn in Parma getroffen, wo ich ein paar Sachen erledigen musste. Ich durfte auf seiner Gilera mitfahren, und wir haben eine Fahrt auf der Via Emilia gemacht. Der Motor läuft, dass es eine Freude ist. Am Abend hat er mich bis zur Brücke zurückgebracht.

    – Ich kenne ihn vom Sehen. – sagte Norma – Das sind Leute, sie sich in Kreisen bewegen, die ich nicht kenne. Ich habe ihn nie mit einem Roller gesehen.

    – Eine Geschenk von seinem Vater, weil er mit dem Studium fertig ist. Sie gefällt ihm, und er hat mich eingeladen zum Großen Preis der Nationen.

    I – Wie kommt es, dass ihr so vertraut seid miteinander?

    – Das ist gegenseitige Sympathie – lächelte Remo – Mein Papa kümmert sich um ihr Land und meine Mama um ihr Haus, wenn sie in Parma sind. Hierher ins Dorf kommen sie selten; einige Wochen im September, zur Weinlese.

    Wie sie Remo zuhörte, erinnerte sich Norma plötzlich an das herrliche Haus zwischen den Pappeln, das die Ebene von seiner Anhöhe aus beherrschte. Inzwischen waren sie gerade da angekommen, und man atmete eine feinere Luft.

    – Und das ist die Überraschung – Remo nahm sie bei der Hand. – Wir haben es ruhig und bequem.

    Der dicke Schlüssel drehte sich im Schloss, und die Holztür ging knarrend auf.

    I Im Hausflur roch es nach feuchtem Schimmel und alten Wänden. Sie gingen die Treppe hinauf. Remo zündete die Lampe an, die das Holz und die Wände des Saales beleuchtete. Er schob sie auf das Kanapee, streifte ihr eine Strähne von der Wange, strich ihr mit den Fingern über das Gesicht.

    – Was ist denn das? – Im Licht hatte er die violetten Spuren entdeckt.

    Norma antwortete nicht, rückte von ihm ab und verschränkte die Hände vor ihrer Brust.

    – Ich kann nicht in ihrem Haus leben – flüsterte sie – Sie rauben mir die Seele, den Atem. Ich muss den Befehlen meines Vaters gehorchen, mein Leben nach seinen Wünschen und seinen Interessen richten. Und meine Mutter hält in allem zu ihm, sie schweigt.

    – Schlägt er dich mit der Hand? – unterbrach sie Remo.

    I Der Blick Normas war starr auf die Wand vor ihr gerichtet.

    – Ja, ich schäme mich, es zu sagen. Ich will weg.

    – Weggehen? Wohin denn?

    – Nach Parma, in einer Schneiderei arbeiten.

    – Dazu brauchst du Geld. Hast du daran gedacht? Für eine Wohnung. Du willst doch nicht auf einer Parkbank übernachten? Und dann die Arbeit, du musst etwas finden, das braucht Zeit. Und wenn du etwas findest, glaubst du, dass sie dich sofort bezahlen? Eine Arbeiterin vom Land? Hier bin ich bei dir, ich helfe dir, keine Frage.

    I Er nahm ihre Hände, zog sie hoch, seine Finger suchten in ihrem Mieder, lösten die Knöpfe, zogen ihr Kleid und Unterwäsche aus. Norma stand nackt im vollen Lampenlicht. Es war das erste Mal vor einem Mann. Remo zog sie an sich und führte sie in das Zimmer, deckte das Leintuch auf und ließ sie sich hinlegen. Norma spürte, wie der Atem über ihr zum Keuchen wurde, seine feuchten Lippen und sein Geschlecht streiften über ihre Haut. Er packte ihren Schoß, drückte die Brustwarzen. Es tat weh. Sie spannte die Muskeln an. Als er eindrang, spürte sie in der Tiefe des Bauches Messerstiche, auch Hitze und das Lustgefühl, das sie schon beim letzten Mal gehabt hatte. Sie spürte die Nässe auf dem Bauch. Das Gewicht des Körpers auf ihr machte ihr fast das Atmen unmöglich. Sie machte eine Bewegung und warf ihn ab; er drehte sich auf die Seite und schlief ein.

    Sie betrachtete eine ganze Zeitlang unbeweglich auf dem Rücken liegend den Lichtstreifen, der durch die halb geöffnete Tür ins Zimmer fiel.

    Sie schreckte aus ihrer Taubheit auf, als sie merkte, dass er sich bewegte. Er setzte sich auf den Bettrand, und sie sah seinen massigen Rücken. Ihr fiel wieder ein, dass sie früher oder später nach Hause zurückkehren musste. Remo stand auf und ging ins Bad. Das Wasser im Waschbecken lief lange; als er zurückkehrte, hatte er ein Badetuch um den Hals. Er trocknete sich ab und sagte zu ihr:

    – Du kannst dich waschen, wenn du willst, ich bringe dich zurück.

    Norma wusch sich nicht, sie zog sich eilig an. Durch das offenstehende Fenster kamen die Kühle der Nacht und der wiederholte Ruf eines Kuckucks herein.

    I Als sie das Haus verließen, hatte der Himmel hinter den Pappeln und dem Dach einen hellen Saum. Sie hatte Angst, nach Hause zu gehen, und sie sagte es.

    Remos Stimme hatte einen nervösen Klang:

    – Du hast den Schlüssel unter der Matte, du gehst noch zwei Stunden ins Bett, er geht zur Arbeit. In den nächsten Tagen machen wir einen Plan. Eine Lösung wird sich finden. Du kannst sicher sein.

    – Wie denn? – Ihre Stimme war nur ein Hauch. Remo nahm sie bei der Hand. Als sie das Schilf erreichten, war das Licht violett geworden und man konnte schon die Gesichter erkennen.

    – Setzen wir uns hin – sagte Remo und zeigte auf einen Felsbrocken im Gelände.

    I Norma setzte sich mit um die Beine geschlungenen Armen hin und schaute vor sich ins Leere.

    – Du darfst dich nicht von der Angst packen lassen, du musst an das denken, was dir hilft. Wenn du von Zuhause weggehen willst, ist das Geld das Wichtigste. Ich sag’s noch einmal, denk daran. Hast du mit deiner Arbeit etwas gespart?

    – Meine Mutter behält alles, was ich kriege. Sie sagt, dass sie es für die Aussteuer braucht. Ich weiß, dass sie mich verheiraten möchte, aber ich bin doch keine Kuh, die man wiegen und einem anbieten kann, der ihr passt. Norma sprach hart und entschlossen. Sie hätte sich in diesem Augenblick gewünscht, dass Remo seinen starken Arm um ihre Schulter gelegt, dass er sie geküsst hätte, aber er saß da, neben ihr auf dem Felsen, schaute vor sich hin und sagte nichts. Es war fast Tag geworden, und die frische Luft vertrieb die Müdigkeit.

    Norma fragte sich, warum Remos Laune sich so sehr von einem Moment zum anderen änderte. Vielleicht war sie es mit ihrer Verzweiflung und ihrer Wut, die ihn nachdenklich machte.

    Nach einer Zeit des lastenden Schweigens zwischen ihnen unterbrach Remo die Stille.

    I – Mit wem wollen sie dich verheiraten? – sagte er, ohne sie anzusehen – Mit einem Primitivling, einem Dummkopf, vielleicht mit dem Sohn von Duccio? Richtig geraten?

    – Wie kommst du darauf? – Norma öffnete vor Überraschung darüber, dass jemand die geheimen Gedanken ihrer Eltern erraten hatte, den Mund und sperrte die Augen auf.

    – Im Dorf vermutet man alles. Du lässt dich lieber nicht vom jungen Duccios durcheinanderbringen. Ja, sein Land grenzt an eures, aber mit Frauen kann er nicht umgehen. Du bist schön und fein, du verdienst einen anderen. – sagte er und ließ seine Hand durch ihre offenen, von keinen Klammern gehaltenen Haare auf den Schultern streifen.

    Er hatte beschlossen, ihr fest in die Augen zu schauen, die von der schlaflosen Nacht dunkle Ringe hatten.

    Er hatte wieder sein gewöhnliches Aussehen gewonnen, seine Stimme war tief und ruhig.

    I – Giorgio hat nach dir gefragt, als wir mit der Gilera unterwegs waren. Er sagt, dass du ihm gefällst, dass du anders bist als die anderen im Dorf, das du das Aussehen und das Betragen einer Signora hast. Er beneidet mich, weil ich dich treffen kann, wenn immer ich dazu Lust habe.

    Er ist reich. Er, seine Familie, hat Häuser und Land hier bei uns und in der Stadt. Man könnte von seinem Interesse für dich profitieren, ihn um die Hilfe bitten, die du brauchst.

    Mit einem nervösen Zucken drehte Norma das Gesicht zu ihm und suchte seinen Blick, der ihr entglitten war. Remo stand auf und sprang hinunter. Sie sah zu, wie er Hemd und Hose abrubbelte.

    – Mit diesem Gerede – seine Stimme war wieder ernst und aggressiv wie zuvor geworden – haben wir eine Stunde verloren, auch ich. Gehen wir.

    Sie blieb auf dem Felsen sitzen, unfähig sich zu bewegen oder zu sprechen, und hielt die Handflächen auf den Stein gestützt, als wollte sie sie nie mehr davon lösen. Sie hatte begriffen, was Remo ihr sagen wollte.

    I Sie wünschte sich plötzlich einen Schlaf, der gleich ihre Sorgen vertreiben sollte, der Remo und das Haus, in das sie nun zurückkehren musste, in einen tiefen Nebel hüllen sollte.

    Genua Priaruggia13, Villa Marini, ein paar Jahre später I

    I Perla schob den Vorhang am Fenster bei Seite und warf einen Blick auf Meer hinaus. Sie hatte fest geschlafen und war guter Stimmung. Der Morgenmantel rutschte von ihrer nackten Schulter herab, sie setze sich an den Toilettentisch. Sie nahm den Kamm und fuhr sich durch die Haare. Das Telefon klingelte. Sie lief die Treppe hinab ins Arbeitszimmer und nahm den Hörer ab.

    – Margot, meine Liebe, wie bin ich froh, dass du anrufst… Mir geht es gut, bin in bester Form. Klar, sehen wir uns! Sara, Maria Beatrice und die anderen, wie geht es ihnen?

    Colomba ließ sich an der Tür sehen und machte ihr ein Zeichen: Sie ging.

    – Einen Augenblick, Colomba, warte doch! Entschuldige, Margot, ich muss unterbrechen, aber wir müssen über diese Sachen persönlich sprechen! Hast du morgen Nachmittag Zeit? Ich möchte dich zum Tee einladen… Ja, Sehr gut! Denkst du daran, es den anderen zu sagen?

    Sie legte auf.

    I – Guten Tag! – Perla gab dem lächelnden Kindermädchen einen Kuss. – Wenn du einkaufen gehst, denke daran, dass du bei der Schweizer Pasticceria14 vorbeigehst. Du hast das Telefon mitgehört? Margot kommt mit all den anderen. Denke auch daran, dass meine Visitenkarten gedruckt werden. Ich brauche sie in den nächsten Tagen.

    Solange Perla in dem Schweizer Collège war, hatte Colomba mehr Zeit im Haus von Signor Ferrera, einem Freund von Bertocchi, Dienst getan, während die übrige Dienerschaft mit voller Arbeitszeit in der Villa geblieben war.

    Perla bemerkte plötzlich die Leere und Stille der Zimmer und die diskrete und anonyme Anwesenheit des Zimmermädchens und des Butlers, die aufräumten.

    I Sie stieg die Marmortreppe wieder hinauf. Im Zimmer zog sie den Morgenmantel aus und öffnete die Schranktüren. Sie holte Wäsche und Kleider für den Morgen und den Nachmittag aus den Schubladen und von den Kleiderbügeln und warf sie aufs Bett. Sie nahm ein Kleid nach dem anderen und hielt es über das Nachthemd. Sie würde sie bald nicht mehr anziehen können. Die Brust, die Hüften, die Beine hatten weibliche Rundungen angenommen. Sie zog einen Plisseerock und einen Angorapullover an und betrachtete ihre Figur im Konsolenspiegel in der Ecke. Sie ordnete ihr kastanienbraunes Haar zu einem Dutt, den sie mit einer Spange im Nacken festmachte, sie öffnete eine Onyxschatulle auf der Kommode und steckte sich den Topasring ihrer Mutter an. Sie dachte, dass er genau auf ihren Finger passte. Sie legte ihn zurück und legte sich eine Perlenkette vor das Dekolleté. Das Glänzen des Geschmeides ließ ihre Haut aufleuchten. Sie legte es ab und ließ es auf der Kommode liegen. Sie ging in den Garten hinaus. Ihre Gedanken kreisten um die Einladungen zu ihrem Geburtstag, die sie vorbereiten musste. Bertocchi hatte ihr gesagt, dass sie, obwohl sie noch nicht volljährig war, offiziell ihren Eintritt in die Gesellschaft begehen sollte. Wenn das Wetter heiter bleiben sollte, könnte sie die Tische und die Laternen für die Beleuchtung und die Lautsprecher für das Grammophon im Freien aufstellen lassen. Sie blieb am Rosenbeet stehen: Die Knospen gingen gerade auf; und ein paar weiße Blüten der Olea öffneten sich duftend. Die Hecken mussten geschnitten werden. Sie musste mit dem Gärtner sprechen.

    Zurück im Haus, ging sie nacheinander durch alle Zimmer im Erdgeschoss und konnte sich nicht entschließen hinaufzusteigen.

    Sie betrat das ehemalige Zimmer ihres Vaters. Sie sah ihn wieder im Halbschatten, seinen Blick, seine gelassenen Bewegungen, sein sicheres und herrschaftliches Auftreten. Auf dem Tischchen neben dem Bett das umgeworfene Foto ihrer Mutter im Silberrahmen: Sie lächelte mit stolzem Blick, war sich ihrer Schönheit bewusst. Sie schliefen in getrennten Zimmern, sie und der Vater. Sie war nicht lange Witwe geblieben, sie war nach Basilien gegangen, wo ihr zweiter Mann, ein Südamerikaner, eine Fazenda besaß. Sie hatte sich wiederverheiratet, als Perla in Lausanne auf dem Collège war. In einem Briefchen hatte die Mutter ihr ihre Entscheidung mitgeteilt. Perla hätte ein Treffen bevorzugt, eine mündliche Mitteilung. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, roch den Duft der Tuberosen, ihrer Lieblingsblumen, in der chinesischen Vase. Sie schluckte, um den Knoten, den sie im Hals verspürte, loszuwerden. Verlorene Gefühle, Sehnsucht nach Zärtlichkeiten, nach nicht genossenen Zärtlichkeiten.

    I Sie hörte das Geräusch der Räder auf dem Kies und die Stimme Alfredos, der den Chauffeurs der ankommenden Autos Anweisungen zum Parken gab.

    Sie stürzte ins Atrium hinunter und empfing ihre Freundinnen.

    Wenn sie nicht ihr breites Lächeln und diesen Blick gehabt hätte, hätte sie Margot nicht wiedererkannt: Ihr Kleid war ein Fest aus orange, grün und violett. Beim Aussteigen sah man einen Augenblick lang das Fußgelenk und den hohen Schuh. Dann stieg Sara mit einem gestreiften Kleid aus, das sie noch schlanker machte. Die Sonne schien, und beide trugen Strohhüte mit breiten Krempen in der Farbe ihrer Kleider.

    Das zweite Auto hielt vor der Villa. Perla, aufrecht im Eingangssaal stehend, beobachtete eine nach der anderen, ihre weichen Stoffe, die feinen Linien ihrer Figuren. Stimmen brachen in Rufe und Gelächter aus. Sie küssten sich auf die Wangen und schienen sich auf dem Marmorboden um den Springbrunnen zu drehen. Nachdem sie sich mit wiegenden Bewegungen wie Mannequins auf dem Laufsteg begrüßt hatten, wendeten sie sich ihr zu, kamen zu ihr und begrüßten sie mit Umarmungen. Eine steckte ihr einen Strauß Anemonen und Margeriten in die Hand. Sie ließ sie im Salon Platz nehmen, sie setzten sich auf die Diwane und Sessel und beobachteten sich gegenseitig. Auf dem Tisch standen schon Schalen mit Pralinen, gefülltes Gebäck und Teetassen.

    Perla hatte im Laufe der Collège–Jahre in den Blicken ihrer Gefährtinnen die verborgenen Absichten zu unterscheiden gelernt, ihre Gefühle und Emotionen, den Dünkel des Adels und die Gezwungenheit der Neureichen, ihren Neid und ihre Kleinlichkeit, die rein protokollarischen und diplomatischen Konventionen und die Gefühle, die aus dem Inneren kamen. Der Blick der Herzensfreundin war genauso heiter wie der jeder anderen, aber sie bemerkte auch neugierige und schiefe Blicke, die schnell ihre Figur von oben bis unten musterten und sich dann sofort abwendeten. Sie waren neidisch und missgünstig, vielleicht weil sie das Aussehen oder die Kleidung verglichen… Perla wendete sich jeder mit der gleichen Freundlichkeit zu und bediente sie persönlich.

    I – Was meinst du, – Maria Beatrice wandte sich ihr voller Begeisterung zu – wir könnten doch an einem der nächsten Tage in der Stadt einen Schaufensterbummel machen. Das wäre eine Gelegenheit, die neue Saisonmode anzuschauen und Kleider einzukaufen. Wir könnten auch zusammen überlegen, wie wir deinen Geburtstag organisieren, bevor wir in die Sommerfrische gehen. Es ist nur noch ein wenig mehr als ein Monat, aber die Zeit vergeht so schnell!

    – Bei der Merveilleuse15 habe ich atemberaubende Sommerkleider gesehen – fügte Michaela Tommasi hinzu. – Ich war vorgestern dort. Und erst bei den Sorelle Ascoli16 in der Soziglia17 – fuhr sie maliziös fort – und bei Nencioni in der Via Roma18! Die haben traumhafte Unterwäsche: Unterröcke, Hemdchen, allerfeinste Spitze und Seidenstrümpfe von noch feinerer Qualität als Lady19 in der Via XX Settembre.

    Bei diesen Worten lachten nur zwei von ihnen vergnügt, die anderen zwinkerten kindlich verschämt.

    – Abgemacht, Maria Beatrice. Wer Zeit hat, kommt am Samstag. Wir machen einen Bummel von der Via XX Settembre zur Piazza De Ferrari und dann hinunter zur Vigne–Kirche bei Klainguti20 vorbei. Wir essen einen guten Falstaff!…

    Sie fuhr fort, als sie die fragenden Blicke bemerkte.

    I – Wisst ihr nicht, dass es in dem Café eine Widmung von Verdi gibt? Der Musiker bedankt sich für die Idee, ein Gebäck nach einer seiner Opern zu benennen.

    Die Freundinnen schauten sich verwirrt an.

    – In der Schweiz wissen sie das – lächelte Perla – und ihr aus dieser Stadt wisst es nicht?

    – Wir

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