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Literatur sichten: Südtirol | Alto Adige | "alto fragile", Eine Anthologie. Jahrbuch 15, Literaturhaus Liechtenstein
Literatur sichten: Südtirol | Alto Adige | "alto fragile", Eine Anthologie. Jahrbuch 15, Literaturhaus Liechtenstein
Literatur sichten: Südtirol | Alto Adige | "alto fragile", Eine Anthologie. Jahrbuch 15, Literaturhaus Liechtenstein
eBook302 Seiten3 Stunden

Literatur sichten: Südtirol | Alto Adige | "alto fragile", Eine Anthologie. Jahrbuch 15, Literaturhaus Liechtenstein

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Über dieses E-Book

Eine Vermessung Südtirols durch seine Gegenwartsautor*innen.

Dieses Jahrbuch unternimmt nach längerer Zeit wieder eine umfassende Standortbestimmung der Südtiroler Gegenwartsliteratur. Die Anthologie versammelt Autor*innen der Aufbruchsgeneration, die in den 1980er-Jahren die Südtiroler Autorenvereinigung gegründet hat, und geht über die mittlere Generation, die sich in den "Hinterländern" der jeweiligen Verlagsmärkte behauptet hat, bis herauf zu ganz jungen Stimmen. Dabei präsentiert sich die Literatur dieser dreisprachigen Region in ihrer sprachlichen, formalen und kritischen Lebendigkeit sowie in unterschiedlicher Distanz zu ihrem Gegenstand: Da sind der an verschiedenen Lebenswirklichkeiten vor Ort geschärfte Innenblick und die Außenwahrnehmung aus der Ferne.
SpracheDeutsch
HerausgeberFolio Verlag
Erscheinungsdatum22. Okt. 2021
ISBN9783990371237
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    Buchvorschau

    Literatur sichten - Folio Verlag

    Vorwort

    Das Literaturhaus Liechtenstein hatte im Jahr 2005 den zweiten Band von Landsichten herausgegeben. Eine Schriftstellerin und ein Schriftsteller aus Südtirol, Rut Bernardi, geboren 1962, Lyrikerin und Schriftstellerin ladinischer Sprache, sowie Peter Oberdörfer (1961–2017), Theater- und Prosaautor aus Meran, waren mit von der Partie. Sie waren eingeladen, Land zu sichten, im Schreiben zu beobachten, bis Land in Sicht kam: Aussensichten von und zu Liechtenstein. Landsichten I und II waren Vorläufe für das ab 2006 jährlich erscheinende Jahrbuch des Literaturhauses Liechtenstein.

    Wir erinnern uns und nehmen den Faden mit Bedacht auf: Wir beobachten Ähnlichkeiten hinsichtlich Randerscheinung, Durchlässigkeit, Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit als „condition humaine, selbstverständlich in der Unterschiedlichkeit von Status und Konstitution. Die regionalen Porösitäten sind vergleichbar. Südtirol besteht aus einem System korrespondierender Talschaften, mit eigenen Idiomen, Helden und Referenzen. Die Gemengelage ist uns vertraut. Wo Südtirol beginnt und wo es aufhört, ist schwer zu beantworten. Wir behaupten das auch vom eigenen Land, das wegen seiner Kleinheit aus lauter Rändern besteht. Entscheidend ist, dass es an den Rändern auf produktive Weise zu oxidieren und zu „mara beginnt, eine gewisse kulturelle Kettenreaktion in Gang kommt: Wo es ausfranst, wird's gleichzeitig durchlässig und porös. Das Jahrbuch 15 versteht sich in diesem Sinne als eine Kooperation wahlverwandter Regionen. Wir sind erleichtert, für diese Anthologie, die gleichzeitig ein Jahrbuch eines Literaturhauses ist, im Folio Verlag eine Verlagsheimat gefunden zu haben.

    Das Jahrbuch 15 widmet sich nun vor allem bislang ungehörten Stimmen zeitgenössischer Literatur in, aus und von Südtirol. Es sind Erkundungen in einem für uns weitgehend unbekannten Literaturland, wie sehr auch in den Lebensverhältnissen Affinitäten, Berührungspunkte, Verwandt- und Freundschaften bestehen. Das Jahrbuch versammelt zeitgenössische Literatur Südtiroler Provenienz, ob sie nun daheim in den vielfältigen Regionen und Talschaften oder draussen in der Diaspora in diversen Städten entstanden ist. Wir haben uns in dieser Anthologie auf überraschende, neue, zu wenig bekannte, junge, weibliche Stimmen in allen drei Landessprachen konzentriert, wo wir Qualität erkennen, ein Potenzial, das es in den jeweiligen Kontexten zu entdecken gilt. Es sind Originalbeiträge oder bislang unveröffentlichte Texte. Viele von ihnen, aber nicht alle, sind der saav, der Südtiroler Autorinnen- und Autorenvereinigung, assoziiert. Italienische Prosa wird ins Deutsche übersetzt, während italienische und ladinische Lyrik im Original deutscher Übersetzung gegenübergestellt sind.

    Es gibt für die sogenannte neuere oder zeitgenössische Literatur in Südtirol zwei wichtige Anthologien, beide hat Gerhard Mumelter herausgegeben, beide haben den Aufbruch einer Generation begleitet.

    Die erste erschien 1970 als Publikation der Südtiroler Hochschülerschaft und markierte eine Zäsur zur heimattümelnden Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit, angestossen 1969 durch Norbert C. Kasers Brixner Rede über die Literatur in Südtirol und das folgende Literarische Kolloquium in Bozen. Sie versammelte eine Autorin und Autoren, die vorwiegend in den 1930ern und 1940ern geboren waren und von denen einige – wie N. C. Kaser, Joseph Zoderer, Herbert Rosendorfer, Luis Stefan Stecher, Gerhard Kofler, Matthias Schönweger, Konrad Rabensteiner – in den Folgejahren den Kanon neuerer Südtiroler (und darüber hinaus) Literatur bilden sollten.

    Die zweite erschien mehr als ein Jahrzehnt später, 1983, als Nummer 13 der Kulturzeitschrift Arunda – nach der Gründung der Südtiroler Autorenvereinigung 1980 und der Gründung der beiden Kulturzeitschriften Sturzflüge und Distel war es eine Standortbestimmung, die neben den Genannten vor allem Autoren der 1950er- und 1960er-Jahrgänge vorstellte. Wie bei Anthologien unvermeidlich, gab es in beiden exzellente Abwesende.

    In den Achtzigerjahren kam auch Bewegung in die regionale Medienlandschaft, mit Privatrundfunk, einem neuen Wochenmagazin und der Gründung von Buchverlagen: Waren bis dahin literarische Buchpublikationen fast ausschließlich beim betont traditionalistischen Verlagshaus Athesia verlegt worden, taten sich neue Wege der Öffentlichkeit auf: Die Texte N. C. Kasers, der zu Lebzeiten keinen Verlag gefunden hatte, wurden auf Betreiben von Paul Flora in der Edition Bloch und im Hannibal Verlag verlegt, Josef Zoderer konnte nach seiner Teilnahme am Bachmann-Wettbewerb den renommierten Hanser Verlag gewinnen, Herbert Rosendorfer verlegte im Diogenes Verlag und im Nymphenburger Verlag und Anita Pichler im Suhrkamp Verlag. Texte der jüngeren Autorengeneration hingegen fanden Eingang in die Programme der neugegründeten Verlage Haymon, Raetia und Folio sowie auch in andere deutschsprachige Verlage.

    Mittlerweile sind weitere Anthologien erschienen, die eklatante Unterrepräsentation von schreibenden Frauen und von in der Region produzierter anderssprachiger Literatur wurde korrigiert, etwa in der Anthologie Aus der neuen Welt, herausgegeben von Sepp Mall, und in der Lyrikanthologie Frei Haus, herausgegeben von Marco Aliprandini und Sepp Mall, aber keine erreichte mehr die Aufmerksamkeit der beiden Erstgenannten. Mit der Anthologie Leteratura Literatur Letteratura, herausgegeben von Rut Bernardi, Elmar Locher und Sepp Mall, rückte die Mehrsprachigkeit der Region ins Buch. Und in der Anthologie Lyrischer Wille. Poesie einer multilingualen Gesellschaft, herausgegeben von Matthias Vieider und Arno Dejaco, wurde das Übersetzen und Weiterschreiben spielerisch und kreativ zum Programm erhoben.

    Mit Literatur sichten Südtirol bekommt das konventionelle Südtirolbild Haarrisse. Vor dem biografischen Hintergrund, dass die Mütter von Hansjörg Quaderer und Roman Banzer Südtirolerinnen gewesen sind oder sind, schafft dieses Buch eine Sichterweiterung auf eine Wahlverwandtschaft, die immer abwesend vorhanden war. Eine Möglichkeit zu ergründen, was von diesem Land angelegt ist, welche Wurzeln es geschlagen hat. Die Texte sind eine tiefgründige Schau auf die Gegenwart vergangener Bilder von Bauern und Höfen, von Frauen in der Kirche und Küche, vom Essen im Herrgottswinkel.

    Giovanni Accardo

    Vincenzo und Lissy

    „Lissy! Lissy!"

    Der da ruft, beinahe schreit, ist Vincenzo. Er ist zwischen Dominikanerplatz und Waltherplatz unterwegs, mit der unvermeidlichen grauen „coppola", der typischen sizilianischen Mütze auf dem Kopf und dem Schal, der ihm fast bis zum Kinn reicht.

    Vincenzo ist neunundzwanzig Jahre alt, kommt aus Sizilien, hat aber normannische Wurzeln, wie er gern sagt, denn er ist blond und hat blaue Augen. Er wohnt seit fünf Jahren in Bozen und hat ständig die Arbeit gewechselt, bis er sich in den vom Gesundheitsbetrieb organisierten Kurs für Sozialbetreuer eingeschrieben und in einer Privatklinik Arbeit gefunden hat. Er hat einen Jahresvertrag mit einem Monatsgehalt von 1500 Euro. Lissy hat er in dem Kurs kennengelernt. Sie ist sechsundzwanzig Jahre alt, in Brixen geboren und wohnt in Bozen, seit sie neunzehn ist. Eigentlich heißt sie Elisabeth, doch alle haben sie stets Lissy genannt. Wer weiß, woher dieser deutsche Name kommt, hat sich Vincenzo das erste Mal gefragt, vielleicht aus den Straßen der Brixner Altstadt, wo man sich wie in Österreich vorkommt. Denn trotz des deutschen Namens ist sie Italienerin und Tochter von Italienern, die Mutter stammt aus Venetien, der Vater aus den Abruzzen.

    Vincenzo hasst den Winter, die Kälte lähmt ihn, er weiß nie, was anziehen, und manchmal hat er auch keine Lust, aus dem Haus zu gehen. Da er sich aber immer die Wohnung mit jemandem geteilt hat, zeitweise auch das Zimmer, war Ausgehen oft ein unverzichtbarer Fluchtweg. Sein Horizont war das Meer, ein offener Horizont, der ihm die Lungen durchströmt. Der Schnee dagegen ängstigt ihn, dieses ganze Weiß erscheint ihm wie eine Drohung, ein Feind, der ihn einkreist und ihm den Atem nimmt. Er hat nichts gegen die Berge, doch sie sind ihm nie in Fleisch und Blut übergegangen, auch nicht, als er mit Zimmerkollegen zusammenwohnte, die ihn im Sommer zum Wandern in den Wäldern oberhalb von Bozen mitnahmen.

    Lissy hält das Fahrrad an und wartet auf Vincenzo. Sie wirkt ungeduldig, braune Augen, schwarze, lange krause Haare. Sie wird sehr leicht nervös, das hat Vincenzo mittlerweile gelernt, und in der Tat weiß er nie, wie er sie nehmen soll. In der Schule geriet sie oft mit den Professoren aneinander, hat sie ihm erzählt, und deshalb hat sie die Schule mit zwei Jahren Verspätung an einer Bozner Abendschule abgeschlossen. Ihre letzte Arbeit war Verkäuferin in einem Geschäft für Heimtierbedarf. Jetzt arbeitet sie in einem Seniorenheim.

    Was Vincenzo an Sizilien am meisten fehlt, außer seinen Freunden, ist das Zuhause: bequem, geräumig, mit seinem Zimmer voller Gerüche und Erinnerungen an die Kindheit und Jugend. Vor allem aber sieht er von seinem Haus auf das Meer, und wenn er will, ist er in zwei Minuten am Strand: zum Spazieren im Winter, zum Baden im Sommer. Mehrmals war er versucht, Bozen zu verlassen und in sein Dorf zurückzukehren, besonders wenn er beinahe einen Monat lang kein Geld und keine Arbeit mehr hatte. Zum Glück sind jener Schulungskurs, eine kleine Studienbeihilfe und Lissy gekommen, die ihn eines Abends geküsst und durcheinandergebracht hat. Nach dem ersten Mal haben sie sich noch öfter geküsst, meist am Ende des Nachmittagsunterrichts, im Stehen, wie zwei Kinder. Allerdings hat sie sich gleich als schwieriges Mädchen erwiesen. Manchmal blieb sie nach dem Unterrichtsende gern bei ihm, häufig aber war sie nervös und zornig, da redete man sie besser nicht an. Vincenzo sah ihr zu, wie sie in den ersten Bus stieg oder sich aufs Fahrrad schwang, ohne ein Wort zu sagen. Mit ihren Eltern hat sie sich zerstritten und seit ein paar Jahren fährt sie nicht mehr nach Brixen. In Bozen ist sie zu einer Casapound*-Aktivistin geworden, deshalb schimpft sie gegen die Einwanderer, hat etwas gegen die Deutschen, weil sie sich weigern, Italiener zu werden, demonstriert für die faschistischen Denkmäler. Die Slogans haben vielen Boznern gefallen, sodass Casapound bei den Kommunalwahlen 2016 drei Stadträte gestellt hat, und am Tag der Amtseinführung sind die Aktivisten mit der Trikolore zum Rathaus marschiert. Einige hat das an den Aufmarsch der Faschisten im Jahr 1921 erinnert, als ein faschistisches Kommando mit Schusswaffen und Handgranaten einen Trachtenumzug überfallen und Panik verbreitet hatte. Ein Volksschullehrer war beim Versuch, seine verängstigten Schüler zu beschützen, gestorben.

    „Wohin gehst du?", fragt Vincenzo sie.

    „Zur Kundgebung."

    „Welche Kundgebung?"

    „Gegen die Lager im Bahnhofspark."

    „Welche Lager?"

    „Die der Einwanderer, mittlerweile ist dieser Park ihr Zuhause geworden, sie essen dort, schlafen dort, pinkeln dort und vor allem handeln sie mit Drogen. Sie nehmen unsere Stadt in Besitz."

    In den letzten Jahren sind viele Einwanderer gekommen, die vor Kriegen fliehen und nach Deutschland oder Nordeuropa wollen. Österreich jedoch verbietet ihnen die Durchreise, und so steigen sie am Bahnhof Bozen aus und warten auf ein Visum, ein Permit, einen Platz zum Bleiben. Vincenzo befasst sich nicht mit Politik, die Auswanderung ist aber Teil seiner Geschichte: Sein halbes Dorf lebt und arbeitet in Deutschland, in der Schweiz, in Norditalien; sein Vater hat einige Jahre in einer Fabrik in Stuttgart gearbeitet.

    „Auch ich bin ein Migrant", sagt er also.

    „Du bist aber Italiener, erwidert Lissy, „du bist hier zu Hause.

    „Mein Zuhause ist in Sizilien. Ich bin nur deshalb nach Bozen gekommen, weil es hier Arbeit gibt."

    Lissy wohnt mit zwei Freundinnen in einem jener elf- oder zwölfstöckigen zementfarbenen Mehrparteienhäuser in der Europaallee, bei deren Bau man am Material gespart hat, sodass man vom eigenen Zimmer die Gespräche und Fernsehgeräte der Nachbarn hört, auch wenn sie sich anscheinend nicht darum kümmert.

    Eines Abends hatte Vincenzo sie besucht und plötzlich, aber erst nach dem Abendessen, hatte er einen seiner heftigen Migräneanfälle bekommen. Für einen Augenblick war ihm schwarz vor den Augen geworden, und er konnte nicht mehr sprechen. Lissy war erschrocken. Er hatte ihr mit einem Handzeichen zu verstehen gegeben, sie solle ruhig bleiben, sie aber hatte nicht aufgehört zu fragen, was los sei. Als er wieder sprechen konnte, mit gestammelten Worten, die mühsam einen Satz bildeten, hatte er sie gebeten, sich einen Moment hinlegen zu dürfen. Sie hatte ihn in das Zimmer begleitet, das sie sich mit einer der Mitbewohnerinnen teilte. Vincenzo war vom Schmerz übermannt, er konnte nicht einmal die Augen offen halten. Er hatte gehört, wie Lissy ihre Zimmergenossin gefragt hatte, ob er zum Schlafen dort bleiben könne, dann war er in einen narkoseähnlichen Schlaf gesunken. Nachts war er aufgewacht, und der Schmerz war weg. Draußen regnete es, man hörte den Regen auf die Scheiben des halb heruntergelassenen Rollladens klopfen. Lissy schlief neben ihm, der Wand zugekehrt. Er erinnerte sich auch nicht, sich ausgezogen zu haben und unter die Decke geschlüpft zu sein, vielleicht hatte sie das getan. In dem an die gegenüberliegende Wand gerückten Bett hatte er das andere Mädchen atmen gehört. Vincenzo hatte ein wunderbares Gefühl der Leichtigkeit verspürt, fast des Rausches, ohne jenen schrecklichen Schmerz, der ihn in ein schwarzes Loch gestürzt hatte. Er hatte sich geborgen gefühlt wie nie zuvor, in Sicherheit. Wer weiß, vielleicht fühlte man sich so im Mutterschoß, im Fruchtwasser schwimmend. Er glaubte sogar, dass sich sein Leben nach jener Nacht ändern würde, doch als er morgens wieder aufwachte, war jenes intensive Wohlbefinden, ein seltenes Glücksgefühl, nur noch Erinnerung.

    Nach dem Gymnasium hatte Vincenzo in Palermo das Studium der Rechtswissenschaft begonnen, es nach fünf Prüfungen aber abgebrochen. Nach Palermo begab er sich gelegentlich, besuchte wenige Vorlesungen, und der Vater hielt ihm vor, dass er ihm unnützerweise die Miete für ein Zimmer bezahlte. Als er sagte, dass er nicht mehr studieren wolle, wurde der Vater zornig und fragte ihn, was er denn zu tun gedenke, mit seinen zweiundzwanzig Jahren.

    „Ich suche eine Arbeit", gab Vincenzo zur Antwort.

    „Und wo willst du eine Arbeit finden", fuhr ihn der Vater an, «da in der Provinz Agrigent die Arbeitslosigkeit doch auf 40 Prozent gestiegen ist?» Und so war er denn für sechs Monate als Sekretariatshilfe in einer Mittelschule in Como gelandet, dann in Saronno und schließlich in Sondalo in der Provinz Sondrio, von wo er, dem Rat eines Lehrers folgend, nach Bozen gezogen war.

    „Ich muss eine Wohnung in der Pfarrhofstraße besichtigen", sagt er zu Lissy.

    Inzwischen hat sich ein muskelbepackter Aktivist genähert, von dem Vincenzo eines Abends beinahe einen Faustschlag verpasst bekommen hat; er umarmt Lissy und küsst sie auf die Lippen. Vincenzo bebt, ballt die Fäuste in den Handschuhen.

    Ein Jahr zuvor, an einem Abend im Februar 2018, hatte ihn Lissy überredet, gegen die Stadtstreicher zu protestieren, die im Krankenhaus schliefen. An die zwanzig Aktivisten in rotem Pullover mit dem Casapound-Symbol waren durch die Gänge der Notaufnahme gezogen und hatten Flugzettel verteilt, wobei sie ihre Blitzaktion direkt auf Facebook übertrugen. Vincenzo hatte sich abseits gehalten, er schämte sich sowohl für die Protestaktion als auch für seine Anwesenheit. Tags darauf hatte der Sanitätsdirektor des Krankenhauses gesagt, dass ihnen diese zwei, drei Stadtstreicher, die einen warmen Platz zum Übernachten suchten, keine Unannehmlichkeiten machten, sie wussten davon und das Personal kümmerte sich um die hygienische Reinigung der Stellen, wo sie ihre armseligen Lumpen hingelegt hatten.

    Vincenzo hoffte, nach dem Ende der Protestaktion zu Lissy nach Hause zu gehen, stattdessen hatte er auf seine Frage, was sie gegen diese Obdachlosen hätten, die niemandem etwas zuleide taten, beinahe einen Faustschlag ins Gesicht verpasst bekommen.

    „Was hast du gesagt?", hatte ein muskelbepackter Kerl geantwortet, mit vor Wut zusammengekniffenen Augen und dem Gesicht eines Stiers.

    „Was tun sie euch denn?", hatte Vincenzo nur geantwortet.

    „Findest du es normal, dass Stadtstreicher in den Gängen des Krankenhauses schlafen? Hast du eine Vorstellung, wie dreckig sie sind und wie viele Krankheiten sie mitbringen können?", hatte er ihn angeschrien.

    „Beruhige dich", hatte ihn Vincenzo unterbrochen.

    „Beruhige dich, sagst du zu einem deiner Freunde. Wer bist du denn? Dank Typen wie dir ist die Stadt total heruntergekommen. Ihr mit eurer beschissenen Toleranz."

    „Wovon redest du denn? Du weißt nicht einmal, wie ich heiße."

    „Ich brauch dir nur ins Gesicht zu sehen", und hatte ihm einen Stoß versetzt.

    „Hände weg, rühr mich nicht an!, hatte Vincenzo geschrien, wobei er von Kopf bis Fuß zitterte. „Ganz schön mutig, arme Teufel zu schikanieren, die sich kaum auf den Beinen halten. Warum gehst du nicht nach Sizilien und schreist die Mafiosi an, wenn du die Eier dazu hast?

    An diesem Punkt war ihm das Muskelpaket bis auf zwei Millimeter vor die Nase gerückt, bereit zuzuschlagen.

    „Genug jetzt! Hört auf!", hatte Lissy schließlich geschrien und sie getrennt.

    Der Muskelmann hatte abgestoppt und schrie weiter auf Vincenzo ein, der indessen verstummt war. Sie hatten sich ein paar Sekunden lang in die Augen gestarrt, dann hatte Vincenzo das Fahrrad genommen, noch voller Erregung und Wut, und war gegangen, ohne jemand zu grüßen, auch nicht Lissy. Am nächsten Tag hatte sie ihn angerufen.

    „Mit was für Leuten verkehrst du denn?", hatte er sie gefragt. Es war eine Vorhaltung, keine Frage.

    „Sie haben ihre Ideale und verteidigen sie manchmal sehr entschieden."

    „Entschieden? Der war drauf und dran, mich zu verprügeln. Was für beschissene Ideale sind das denn?"

    „Wir schützen die Stadt vor der Verwahrlosung. Die Stadtstreicher dürfen nicht im Krankenhaus schlafen."

    „Willst du lieber, dass sie vor Kälte sterben?"

    Wie es einem an Dystrophie erkrankten achtjährigen Kind ergangen war, Sohn syrischer Flüchtlinge, die keine Unterkunft gefunden hatten und eben im Bahnhofspark schliefen, obwohl sie Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatten. Lissy hatte keine Antwort gegeben. Auch Vincenzo hatte geschwiegen. Nach jenem Telefongespräch hatten sie sich ein paar Wochen lang nicht gesehen.

    Im 110er-Bus, der ihn in die Pfarrhofstraße bringt, denkt Vincenzo wieder an Lissy und an den muskulösen Casapound-Aktivisten mit dem Stiergesicht, an ihre einvernehmlichen Blicke, ihren Kuss. Als er an seiner Haltestelle ankommt, rechnet er kurz und kapiert, dass er, wenn er dort wohnte, mindestens vierzig Minuten brauchte, um zur Arbeit zu kommen; er hofft, die Entfernung werde durch eine angemessene Miete wettgemacht. Der Eigentümer ist sehr geziert, er tut, als böte er ihm eine prunkvolle Villa an, dabei handelt es sich um eine kleine Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss. Er schwärmt von der Einrichtung und den Haushaltsgeräten, dem Abstellplatz für das Fahrrad, der Bushaltestelle vor dem Haus, dann rückt er mit dem Preis heraus: 800 Euro plus Nebenkosten, das heißt mehr als die Hälfte von Vincenzos Gehalt. Seit drei Monaten tut er nichts anderes als Mietanzeigen lesen, Nachrichten schicken und auf Antworten warten, telefonieren, Wohnungen besichtigen, über den Preis verhandeln. Er hat eingesehen, dass er die Nachbarin weiterhin ertragen muss, die dreimal am Tag den

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