Zeit für dich - Zeit für mich: Nachbarschaftshilfe für Jung und Alt
Von Susanna Fassbind
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Buchvorschau
Zeit für dich - Zeit für mich - Susanna Fassbind
Dank
Vorwort
2. Dezember 2015, Genf. Im voll besetzten »Auditorium Ivan Pictet« hat sich ein hochrangiges Publikum versammelt, um die aktuellen Preisträger des Alternativen Nobelpreises zu ehren. Selten stimmt die Adresse eines Ortes so unmissverständlich mit den Inhalten der Veranstaltung überein wie an diesem Abend: »Maison de la Paix«. Deutschlands Umweltministerin Barbara Hendriks und UN-Generaldirektor Michael Møller eröffnen den Anlass, der unter dem Titel steht: »On the Frontlines and in the Courtrooms: Forging Human Security.«
In der darauf folgenden Diskussion der vier Preisträger von 2015 fällt auf einmal die Aussage, die mich elektrisiert: »Die UN wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um nachfolgende Generationen vor der Geisel des Kriegs zu bewahren. Seither hat es über 170 Konflikte gegeben – und ihr habt die Möglichkeit einer Abschaffung von Kriegen nie diskutiert? Come on, guys, das ist doch unglaublich!« Verlegenes Gelächter und ungläubiges Staunen im Publikum, doch Dr. Gino Strada, Gründer der internationalen Hilfsorganisation »Emergency« weiß nur zu gut, wovon er spricht: Seit den frühen 1990er-Jahren baut er Kliniken in Kriegsregionen und kümmert sich um die zivilen Opfer – 10% sind Kämpfer der verschiedenen Kriegsparteien, 90% Zivilisten. Er beendete sein Statement mit der Feststellung: »Nennt mich ruhig einen Utopisten, denn alles ist eine Utopie, bis jemand seine Idee in die Tat umsetzt.«
Einer der wohl meistzitierten Sätze der letzten Jahrzehnte lautet: »I have a dream.« Nicht nur Martin Luther King hatte einen Traum – viele Menschen träumen von einer gerechteren Welt für alle. Und es sind einige darunter – mehr als wir wissen und noch lange nicht genug –, die ihren Traum mit Engagement, Herz und Verstand realisieren. Es sind Pioniere in ihren Bereichen, man mag sie – wie Gino Strada, Martin Luther King, Mutter Teresa oder Jody Williams – durchaus Utopisten nennen. Doch: Jede große Errungenschaft begann mit einer Idee, einer Hoffnung, einer Vision.
Den Funken einer Idee, einer Hoffnung, einer Vision weiterzutragen und damit ein Feuer des persönlichen Engagements zu entzünden, das ist die Absicht, die wir mit unserer neuen Reihe – wir nennen sie »rüffer&rub visionär« – verfolgen. Im Mittelpunkt steht die persönliche Auseinandersetzung der Autoren mit ihrem jeweiligen Thema. In packenden Worten berichten sie, wie sie auf die wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Frage aufmerksam geworden sind und was sie dazu veranlasst hat, sich der Suche nach fundierten Antworten und nachhaltigen Lösungen zu verpflichten. Es sind engagierte Texte, die darlegen, was es heißt, eine persönliche Verpflichtung zu entwickeln und zu leben. Ob es sich um politische, gesellschaftliche, wissenschaftliche oder spirituelle Visionen handelt – allen Autoren gemeinsam ist die Sehnsucht nach einer besseren Welt und die Bereitschaft, sich mit aller Kraft dafür zu engagieren.
So vielfältig ihre Themen und Aktivitäten auch sein mögen – ihr Handeln geschieht aus der tiefen Überzeugung, dass eine bessere Zukunft auf einem gesunden Planeten für alle möglich ist. Und: Wir sind davon überzeugt, dass jeder von uns durch eigenes Handeln ein Teil der Lösung werden kann.
Anne Rüffer, Verlegerin
img_01.jpgMit Mut, Ausdauer
und Flexibilität
Mit diesem einleitenden Rück- und gleichzeitigen Ausblick möchten wir allen Mut machen, ihre Visionen und Erfahrungen in zukunftsorientierte Projekte einzubringen, selber solche zu gestalten und aufzubauen. Wir vier Gründerfrauen wollen Menschen motivieren, ihre Ideen angehen und uns von echten oder scheinbaren Hindernissen nicht aufhalten lassen. Denn: Widerstände beinhalten letztlich immer einen Kern, den es zu bedenken gilt, um frei entscheiden zu können.
Wir vier Gründerinnen haben alle – jede auf ihre besondere Weise – das Leben als eine Abfolge von Versuch, Irrtum und Erfolg in verschiedensten Bereichen erlebt. Die Themen reichen von Geschlechter-, Abfall-, Energie-, Erziehungs-, Sozial- und Finanzfragen, Firmenaufbau und -betrieb, Kommunikationsaufgaben, Zusammenarbeit mit der öffentlichen Hand auf allen drei Ebenen (Gemeinde, Kanton und Bund), Wirtschaft und Zivilgesellschaft bis zur Gestaltung von Leitbildern und Marken. Dieses gebündelte Know-how und vor allem das reiche Erfahrungswissen haben wir für KISS vernetzt und ganzheitlich eingebracht.
In unserer Zeit findet ein großer gesellschaftlicher Wandel1 statt, für den es keine Ausbildungen und Gebrauchsanweisungen gibt. So war KISS für uns vier ein »Learning by doing«: Verschiedenste Aus- und Weiterbildungen, familiäre und berufliche Erfahrungen und immer wieder intensive Freiwilligenarbeiten bildeten die Basis. Mit Mut, Ausdauer und hoher Flexibilität haben wir dieses zivilgesellschaftliche Projekt gestartet und in unterschiedlicher Weise weitergetragen.
Das politische und wirtschaftliche Umfeld begegnet »Betreuung mit Nachbarschaftshilfe« grundsätzlich positiv. Es ist jedoch nicht einfach, die rechtlichen Grundlagen2 dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen; sie erweisen sich für kreative und innovative Lösungen häufig als wenig elastisch und blockierend. Wie die im Augenblick finanziell und sozial größte Herausforderung »Altersvorsorge« zeigt, fließen neue, vor allem zivilgesellschaftliche Ansätze kaum in die Strukturen der Vorsorge ein und entlasten die öffentliche Hand und Bürger nicht, obwohl gerade die Entlastung eine ihrer Stärken darstellt. KISS kann in Zusammenarbeit mit Politik und Wirtschaft diese Erleichterungen in vielfältigster Art einbringen.
Dieses Buch soll den Pioniergeist und Mut von vielen Menschen stärken, damit wir zusammen die großen gesellschaftlichen Herausforderungen meistern – zum Besten von allen!
»Das, was geklärt werden muss, klären wir; das, was gemacht werden muss, machen wir.« – Nach vielen Diskussionen und einem ersten Konzept haben wir entschieden, einfach anzufangen und das Modell ständig weiterzuentwickeln. Die eigenen Bedürfnisse und die der anderen ernst zu nehmen, sich den Herausforderungen immer wieder zu stellen und das Projekt gemeinsam weiter zu entwickeln gehört ebenso zu KISS wie die Kernidee: die Zeitgutschriften für Jung und Alt.
Edith Stocker | Susanna Fassbind und ich haben Mitte der 1990er-Jahre in einer Zeitschrift einen Beitrag über ein Zeitgutschriften-System in Japan gelesen, das dort »Fureai Kippu« heißt. Während des Lesens hat es mich durchzuckt, und ich habe gewusst, dass diese Idee auch für uns in der Schweiz relevant ist. Für einen kurzen Moment, einem Urknall gleich, habe ich das Potenzial wahrgenommen, das darin schlummert. Erst später habe ich den Zusammenhang zwischen demografischer Entwicklung, Nachbarschaftshilfe und Atomisierung der Gesellschaft gesehen. Gesellschaftspolitische Themen wie Familie, Gleichstellung, Diversity, Gesundheitsförderung haben mich beruflich immer begleitet.
img_02.jpgimg_03.jpgFür mich enthält KISS einen entscheidenden Unterschied zu »klassischer« Nachbarschaftshilfe: Geben und Nehmen geschieht auf Augenhöhe. Beide sind Nehmende und Gebende im Sinne von: »Ich bekomme, indem ich gebe.«
Freiwilligenarbeit ist häufig mit dem Wunsch verbunden, Arme zu unterstützen, Behinderten und Bedürftigen zu helfen. Doch selbst Menschen mit Einschränkungen sind in ihrem innersten Wesen ganz, haben etwas zu geben und wollen dies in der Regel auch tun. Deshalb engagiere ich mich generell und bei KISS dafür, dass der Mensch nicht vorwiegend über seine Defizite definiert wird.
Mit Susanna Fassbind arbeite ich schon seit Jahrzehnten in verschiedenen Projekten zusammen und tausche mich mit ihr laufend zu wirtschaftlichen und politischen Themen aus. Die Idee einer Säule 4 kam immer wieder zur Sprache, und als Susanna Fassbind und Ingrid Spiess das Thema beim Berufsverband Fachperson Betreuung aufgriffen, war es keine Frage, dass wir gemeinsam weitermachen. Beim ersten Workshop im September 2011, den die beiden im Namen des Verbandes organisierten, bat mich Susanna, den Workshop zu den Zeitgutschriften zu leiten. Dort lernten wir Heidi Lehner kennen.
Bezeichnend war unsere Vereinsgründung im Zug. Wenn etwas Sinnbild ist für das Ganze, dann diese Gründung. Wir vier Frauen (Heidi Lehner, Ingrid Spiess, Susanna Fassbind und ich) hätten keinen Verein gebraucht, die realen Gegebenheiten verlangten aber einen. In ein, zwei Tagen bereitete ich die Statuten vor; unterwegs im Zug verteilten wir die Ressorts und unterschrieben die Statuten. Das ist für mich Symbol und Programm zugleich: Im Zug fahrend und unterwegs, wir vier Frauen, ohne Hierarchie- oder Besitzansprüche. Das, was geklärt werden muss, klären wir; das, was es braucht, machen wir.
Die Genossenschaften aufzubauen und über die Aufbauphase hinauszubringen ist sicher eine der großen Herausforderungen. Die interne Kommunikation ist in einem sich selbst organisierenden Gebilde etwas sehr Anspruchsvolles. Das verlangt andere Arten von Informationskanälen, als wir uns gewohnt sind. Eine weitere Herausforderung sehe ich in der Aufgabenverteilung auf viele Schultern, an die richtigen Menschen, mit den richtigen Kompetenzen, mit dem richtigen Handwerk, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit und das noch möglichst selbst organisiert ... Bis das so weit ist und eine Normalität erreicht, dauert es und braucht es Durchhaltevermögen. Davon haben wir Gründerinnen allerdings eine Menge, und das stimmt mich sehr zuversichtlich.
Ingrid Spiess | 2009 lernte ich im Rahmen einer Weiterbildung durch den Berufsverband Fachperson Betreuung Susanna Fassbind kennen; es ging damals um die zukünftige Öffentlichkeitsarbeit des Verbandes. Im Gespräch mit ihr erfuhr ich von den Zeitgutschriften und war sogleich fasziniert davon, weil das Konzept der Zeitvorsorge eine Win-win-Situation für alle Beteiligten darstellt.
Aus meiner Erfahrung als Heimleiterin weiß ich, dass Menschen, die frisch ins Heim kommen, in der Regel nur in wenigen Bereichen eingeschränkt sind und Hilfe benötigen, vieles könnten sie gut selber machen. Im Heimalltag konnte ich jedoch beobachten, wie sie ihre Selbständigkeit in kurzer Zeit verloren, weil sie keine Aufgaben mehr hatten. Gerade als Heimleiterin sehe ich, dass viele Menschen mit einer adäquaten Unterstützung besser zu Hause leben könnten. Ein Beispiel: Die Menschen, die damals auf die von mir geleiteten Abteilungen kamen, waren alle an einer Demenz erkrankt. Die meisten von ihnen waren in kurzer Zeit inkontinent, weil sie die Toilette nicht mehr rechtzeitig finden konnten. Wären sie zu Hause in ihrem gewohnten Umfeld geblieben, wäre die Inkontinenz nicht so schnell ein Thema geworden, weil sie sich dort besser zurechtfanden.
Hinzu kommt die große finanzielle Belastung. Die meisten bezahlten CHF 10000 bis 12000 im Monat für die Betreuung und Pflege im Heim. Bei vielen reichte das monatlich verfügbare Einkommen trotz Ergänzungsleistungen und Hilflosenentschädigung nicht aus. Diese Frage ist auch mit der neuen eidgenössischen Pflegefinanzierung3 nicht gelöst. Im Gegenteil, sie wird auf den Steuerzahler abgeschoben. Die meisten Menschen wollen nicht ins Heim. Diesen Wunsch, möglichst selbstbestimmt leben zu können, wollte ich ernst nehmen, und mit KISS sah ich eine Möglichkeit, darauf hinzuwirken.
Ein Kollege aus Salzburg hat einmal gesagt: »Die Zeitgutschriften sind nur ein Vehikel. Das Miteinander der Menschen, die Freude, wenn es einmal läuft, wenn sich die Leute gegenseitig unterstützen, ist das Entscheidende. Dann zählen die Minuten nicht mehr.« In meinem Dorf engagiere ich mich auf unterschiedliche Weise, um eine tragfähige Nachbarschaftshilfe zu etablieren. So habe ich mich für die Schaffung eines Begegnungsortes eingesetzt. Die Menschen müssen sich begegnen können, damit sie sich kennenlernen und miteinander ins Gespräch kommen. Zusätzlich habe ich mich für den freiwilligen Begleitdienst für Sterbende gemeldet. Wenn ich handfest mittun kann, kommt bei mir Freude und Energie auf. Als nächster Schritt steht Seniorenkochen mit Alleinstehenden an. Wenn sich das weiterentwickelt, werde ich die Gründung einer Genossenschaft ins Auge fassen.
Seit Juni 2014 bin ich Leiterin der ortsansässigen Pro Senectute, organisiere Anlässe im Zentrum »Kafimühli«. Auf diese Weise bereite ich das Gärtchen vor, in dem hoffentlich bald viele verschiedene Pflänzchen zu sprießen beginnen, sodass wir in absehbarer Zeit in unserem Dorf eine blühende Nachbarschaftshilfe haben werden.
Heidi Lehner | Seit mich Susanna Fassbind und Ingrid Spiess im Frühling 2011 bei der Sunflower Foundation besucht hatten, um sich über das japanische Fureai-Kippu-System zu informieren, hatte ich mit dem