Mediale Sozialisation und eEducation: Neue Medien - Neue Menschen - Neue Didaktik: Eine Konzeptentwicklung auf Basis der Analyse menschlicher Bewusstseins- und Handlungsstrukturen vor dem Hintergrund einer immer komplexer und authentischer werdenden Medialität
Von Christian Dorn
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Über dieses E-Book
Christian Dorn
Prof. (FH). Dr. Dipl. Soz.-Päd. Christian R. Dorn, Jg.‘68. Der ehemalige bay. Polizist lehrt und forscht als promovierter Psychologe und diplomierter Sozialpädagoge seit 16 Jahren an der Fachhochschule Vorarlberg mit den Schwerpunkten Gesundheit, Drogen und Sucht. Seit 13 Jahren begleitet er Cannabispatienten und Menschen mit Suchtproblemen in eigener Praxis. (www.denkprozesse.net)
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Buchvorschau
Mediale Sozialisation und eEducation - Christian Dorn
Nestroy
1. Alle PädagogInnen müssen MedienpädagogInnen werden
1.1 Pädagogik und Medien
Betrachtet man die Geschichte der Medien und die der Pädagogik einmal getrennt von einander, dann wird sehr schnell deutlich, dass der Ruf nach einer medienpädagogischen Intervention immer dann laut wurde, wenn der mediale Fortschritt eine Verunsicherung im Handeln und Denken der Menschen auslöste.¹⁶ Immer dann, wenn individuelle oder gesellschaftliche Manifestationen durch mediale Einflüsse ins Wanken geraten, an Transparenz verlieren oder massiv an Komplexität zunehmen, dann werden medienpädagogische Konzepte als Instrumente der Kompensation gefordert.
1.1.1 Medienpädagogik als menschzentrierter Wegweiser durch die Ökonomie der Medialität
Die junge Disziplin der Medienpädagogik bzw. eine Auseinandersetzung mit NM tritt nicht zuletzt seit der Berichterstattung über steigende Gewalt an Schulen und Amokläufe von Kindern und Jugendlichen immer mehr in den Mittelpunkt auch des öffentlichen Interesses. Betrachtet man die Entwicklung im hoch industrialisierten Teil Europas, scheinen Analogien zu den USA wahrscheinlich.¹⁷ Auffällig ist, dass parallel zu den sich tendenziell häufenden irrationalen, oftmals vandalistischen, fremdaggressiven und / oder autoaggressiven Handlungen¹⁸ – insbesondere von Jugendlichen und Heranwachsenden¹⁹ – die Interaktion mit Medien tendenziell zu-, die menschbasierende Interaktion hingegen eher abnimmt. Insbesondere, wenn Jugendliche solche Handlungen begehen, scheinen immer wieder Medien oder deren Wirkungen – primär oder sekundär – eine Rolle zu spielen. Allerdings spricht auch sehr viel dafür, dass Medien nur einen von vielen Faktoren darstellen und auch nur eingebettet in ein komplexes Wirkungsgefüge wirksam werden. Es geht nicht länger darum, nur die Quantität der Mediennutzung oder die Qualität der Inhalte zu hinterfragen. Es geht darum herauszufinden, in welchem gesamtgesellschaftlichen Kontext sie eingebettet sind und wie sich dieser auf Grund der Medialisierung und ihrer Folgen verändert hat und weiter verändert.
Um die Auswirkungen eines durch Medien erweiterten Sozialisationsbegriffs (vgl. Kapitel 4) zu erfassen, wird es künftig nicht mehr genügen, als Maßstab einfache stimulus-response-Schemata anzulegen. Künftige Fragestellungen werden weit über die bisherigen medien- und kommunikationszentrierten Fragestellungen hinausreichen, da eine einfache Unterscheidung zwischen Realität und Virtualität so nicht mehr getroffen werden kann. Wir bewegen uns heute weder in der einen noch in der anderen, sondern in einer Zwischendimension. Der Medienalltag stellt nicht länger nur eine Partition des vom individuellen Willen des Rezipienten/der Rezipientin bestimmten Alltags dar, sondern der Umfang der Medialisierung und die Qualität der medialen Durchdringung haben den Alltag in seiner Gesamtheit zur Medialität transformiert. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, an welchen Referenzsystemen z.B. ein computergenerierter Film²⁰ gemessen werden kann, der gar nicht mehr vorgibt, Abbild der Realität zu sein.
Unsere Einstellung zum Leben, unsere Sicht der Dinge, unsere Werte, unser Selbstverständnis, all dies wird durch eine ständig ansteigende Konfrontationsfrequenz mit immer authentischeren medialen Idealbildern beeinflusst.
Darüber hinaus zieht das Leben in einer solchen Medialität aber auch ein medial beeinflusstes Handeln nach sich, womit sich mindestens drei Dimensionen eröffnen:
Wie behandelt der Mensch die Medien?
Wie handelt der durch die Medien behandelte Mensch?
Wie wird der handelnde Mensch durch medial behandelte Menschen behandelt?
Man sieht sich hier mit einem komplexen Wirkungsgefüge in Form eines rückbezüglichen Regelkreises konfrontiert, der nochmals an Komplexität zunimmt, wenn man außer der Mensch-Maschine-Mensch-Kommunikation auch noch die medial beeinflusste Mensch-Mensch-Interaktion und Kollaboration mit einbezieht. Medien werden zu einem vierten Sozialisationsfaktor, der sich in die Reihe der primären, sekundären und tertiären Sozialisation einfügt, nämlich Schule, Elternhaus und Peergroup. Welche Bedeutung diesem vierten Faktor zukommt, wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich die quantitative Verschiebung hinsichtlich der jeweiligen Wirkungsdauer der einzelnen Sozialisationsfaktoren vor Augen führt. Die Mächtigkeit dieses vierten Sozialisationsfaktors kann allerdings nicht als absolut angenommen werden. Er entfaltet seine Wirkung stets in Relation zur individuellen Sozialisation des Rezipienten/der Rezipientin.²¹ Dieser Sachverhalt macht die Erklärung z.B. eines Amoklaufs wie in Erfurt im April 2002 so schwierig. Individuelle Handlungen resultieren aus individueller Wahrnehmung und individuellem Erleben. Wie diese beiden Dimensionen beeinflusst wurden und werden, hängt von unzähligen Faktoren ab. Digital optimierte und mittels NM kommunizierte Inhalte können hiervon einer sein, der dann virulent wird, wenn er mit spezifischen Faktoren zusammentrifft. Es steht also die Frage im Raum, ob sich z. B. jugendliche AmokläuferInnen mittels medialer Gewaltdarstellungen (Spiele, Filme, aber auch das, was heute unter dem Begriff Nachrichten verkauft wird.) im Vorfeld einer Tat abreagieren und die tatsächliche Ausführung damit hinausgezögert (oder vielleicht verhindert) wird, oder ob mediale Gewaltdarstellungen solche Taten überhaupt erst motivieren und potentielle TäterInnen enthemmen. Ungeklärt wäre in beiden Fällen allerdings, was die psychische Konstitution dieser Jugendlichen so dermaßen zerstören konnte, damit mediale Kommunikate überhaupt diese verhängnisvolle Relevanz erlangen können und darüber hinaus, warum dieser brutale Akt der Zerstörung – oder der schleichende Prozess der Zersetzung – weder Geschwistern, noch Eltern, Peers oder LehrerInnen auffällt. Fakt ist, dass in der Folge solcher Taten – vielleicht mangels Analogien zu medialen Inhalten gesucht werden oder eben nicht – je nach Lobby.²²
Es ist davon auszugehen, dass RezipientInnen grundsätzlich fähig sind, ihr medial beeinflusstes Handeln selbst zu bestimmen, vorausgesetzt ihnen steht – objektiv und subjektiv – genügend Zeit zur Reflexion zur Verfügung und sie verfügen zudem über die nötigen Kompetenzen. Problematisch in diesem Zusammenhang ist zweierlei: Durch die Medialisierung erfahren wir eine subjektiv empfundene (scheinbare) Verknappung der Zeit zu Lasten einer möglichen Reflexion, und ein sich zunehmend an ökonomischen Maßstäben orientierendes Gesellschafts- und Schulsystem vermittelt weder die Notwendigkeit von Reflexion noch die Befähigung zur Reflexion manipulativer medialer Kommunikate.
Es geht darum, in einem Umfeld, das einem täglich suggeriert, wie man zu sein und zu handeln hat, sich selbst zu finden. Betrachtet man die jüngsten Fälle von „medial" begründeter Gewalt, dann scheint es sich bei den TäterInnen um Menschen zu handeln, die sich selbst verloren haben, die nicht gewusst haben, wer sie sind, wofür sie stehen, welche Werte sie vertreten oder welche Grenzen sie keinesfalls überscheiten dürfen. Diese Menschen scheinen – unbemerkt von sich selbst und anderen – von ihren sozialen Bezügen weg hin zu einem medialen Zerrbild des realen Lebens und einem entsprechenden Wertesystem getrieben zu sein. Dort angekommen gab es dann scheinbar keine humanen Wegweiser mehr, die in der Lage gewesen wären, ihnen den Weg zurück zum Selbst zu weisen, was möglicherweise zur Folge hatte, dass die individuellen Wertesysteme der im Stich gelassenen, medial suggerierten Wertesystemen weichen mussten.
Seit die Medialisierung (die quantitativ massive technologische Durchdringung unseres Lebensumfeldes) und die Qualität der medialen Durchdringung (die [auch verkaufsfördernde] Authentizität der medial vermittelten Inhalte) zu einem derartig mächtigen Wirtschaftsfaktor geworden sind, hat die digitale Omnipräsenz so extrem an Durchschlagskraft gewonnen, dass die bisherigen medienpädagogischen Ansätze dem nur noch wenig entgegenzusetzen haben. Medien haben mittlerweile im Wirtschaftsgefüge einen so großen Raum eingenommen, dass medienkritische Denkansätze kaum Beachtung finden und wenn, dann wird ihre Relevanz oftmals bezweifelt. Analog gilt dies selbstverständlich auch für die Politik, nicht zuletzt deshalb, weil der Einsatz NM in Schule und Hochschule der Profilierungssucht ein weites Feld bieten. Unterstellt man gar eine Verquickung von Politik und Wirtschaft, wird sehr schnell klar, welche Intentionen auf Gegenliebe stoßen werden und welche nicht.
Aufgabe der Medienpädagogik in diesem sozio-ökonomischen und politischen Rahmen muss es künftig sein, dafür zu sorgen, dass der Stellenwert „menschzentrierter Wegweiser" im Hinblick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen vor dem Hintergrund der Medialität und im Umgang mit Medien erkannt und gefördert wird. Um dieses existenzielle Ziel zu erreichen, bedarf es eines verstärkt rezipientenorientierten medienpädagogischen Forschungsansatzes. Die größte Herausforderung an die Medienpädagogik wird in diesem Zusammenhang darin liegen, unter Beachtung der technischen, politischen, ökonomischen und ökologischen Dimensionen eine transdisziplinäre Kooperationsform zu entwickeln, die die spezialistisch ausdifferenzierten Human- und Geisteswissenschaften mit der Vision eines ganzheitlichen Kulturkonzepts integriert.
Zukünftig wird die Medienpädagogik alle Fragen der pädagogischen Relevanz von Medien in den Nutzungsbereichen Freizeit, Bildung, Ausbildung und Beruf („Medialisierung) erfassen müssen. Dort, wo Medien als Mittel der Information, Beeinflussung, Unterhaltung, Unterrichtung und Alltagsorganisation Bedeutung für die Sozialisation des Menschen erlangen, werden sie zum Gegenstand der Medienpädagogik, wobei Sozialisation die Gesamtheit intendierter und nicht intendierter Einwirkungen meint, die den Menschen auf kognitiver und emotionaler Ebene sowie im Verhaltensbereich prägen („mediale Durchdringung
). Gegenstände medienpädagogischer Theorie und Praxis werden zunehmend die Medien, ihre ProduzentInnen und ihre NutzerInnen im jeweiligen sozialen Kontext sein. Medienpädagogik wird die Inhalte und Funktionen der Medien, ihre Nutzungsformen sowie ihre individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen („Medialität") untersuchen. Sie wird Modelle für medienpädagogisches Arbeiten entwerfen müssen, mit dem die NutzerInnen über die Kompetenzstufen Wissen und Analysefähigkeit in ihren spezifischen Lebenswelten zu medienbezogenem und medieneinbeziehendem Handeln geführt und befähigt werden sollen, im Sinne von Bildung Erkenntnis zu generieren.
Um diesen pädagogischen Wandel vollziehen zu können, bedarf es einer umfassenden Bereitschaft der PädagogInnen, sich mit dem Transformationspotential der Medialisierung, der medialen Durchdringung und – daraus resultierend – der Medialität auseinanderzusetzen. Es muss gerade für PädagogInnen normal werden, sich on demand das jeweils aktuelle Wissen anzueignen, Erkenntnisse zu generieren, daraus mögliche Szenarien abzuleiten, um dann adäquate Strategien zu entwickeln. Keinesfalls dürfen sich PädagogInnen vor diesem sozialen Wandel verschließen, sie müssen ihn vielmehr kritisch-konstruktiv begleiten, um ihn – einem humanen Verständnis von Bildung folgend – zielführend modellieren zu können. Medienpädagogik kann nur dann Wirkung entfalten, wenn sie multidimensional verstanden und eingesetzt wird. Dabei spielt es keine Rolle, welche Position die Medienpädagogik – unter Berücksichtigung ihrer geschichtlich gewachsenen Ziele Bewahren, Informieren, Sensibilisieren, Aktivieren, Emanzipieren, Funktionalisieren – einnimmt, entscheidend ist einzig, dass sie – auch unter Druck – nicht zum Adlatus der Ökonomie mutiert und dass sie zum Wohle des medialen Menschen die Menschlichkeit im Blick behält und der Gesellschaft menschzentrierte Wege weist.
1.1.2 Die Umwertung der Werte der (Medien-) Pädagogik durch die