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Digitale Öffentlichkeit(en)
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eBook410 Seiten4 Stunden

Digitale Öffentlichkeit(en)

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Über dieses E-Book

Die Digitalisierung ist eine der wohl bedeutendsten (medien)technischen Entwicklungen seit Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks und die vernetzte Sphäre digitaler Kommunikation verändert das gesellschaftliche Leben nachhaltig. Ein Vierteljahrhundert nachdem Tim Berners-Lee die Voraussetzungen für das World Wide Web entwickelt hat, ist heute die junge »Irgendwas-mit-Medien-Generation« ohne das Internet nicht mehr vorstellbar. Die Kommunikation über mobile Endgeräte wie Smartphones und Tablets überholt den stationären Online-Zugang. Das Social Web scheint ubiquitär, die Crossmedialität nicht mehr aufzuhalten. Solche Indikatoren sprechen Bände über »Digitale Öffentlichkeit(en)«. Dieser Band dokumentiert ausgewählte Beiträge zur gleichnamigen 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) 2014 an der Universität Passau.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum13. März 2015
ISBN9783864966460
Digitale Öffentlichkeit(en)
Autor

Oliver Hahn

1970 in Potsdam geboren, 1990 nach Norddeutschland »ausgewandert«, seit 1996 im Internet mit Maigret-Themen präsent

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    Buchvorschau

    Digitale Öffentlichkeit(en) - Oliver Hahn

    Knieper

    Teil 1 Digitale Interaktionen und Diskurse: Folgen für die Öffentlichkeitsentstehung

    Interaktionsmodi und Medienwandel

    Christoph Neuberger

    ¹

    1 Relationen und Dynamik in der öffentlichen Kommunikation als Desiderate

    Der seit Mitte der 1990er Jahre beschleunigte Medienwandel hat eine Neuausrichtung der Kommunikationswissenschaft notwendig gemacht.² Die Theorien und Methoden des Faches sind vor allem in Auseinandersetzung mit den traditionellen Massenmedien im 20. Jahrhundert entstanden und spiegeln deren – aus heutiger Sicht – recht simplen Verhältnisse wieder: Presse und Rundfunk charakterisieren einseitige, einstufige und punktuelle Kommunikation – also nicht wechselseitige Kommunikation (Interaktion) und mehrstufige Kommunikation (Diffusion), die beide sequentiell verlaufen, d. h., die Teilnehmer beziehen sich in ihren Kommunikationsakten aufeinander, indem sie ihre Mitteilungen zurückadressieren oder übernommene Mitteilungen in andere Richtungen weiterverbreiten. Wechselseitige und mehrstufige Kommunikation erfordern die Möglichkeit des flexiblen Wechsels zwischen der Kommunikator- und Rezipientenrolle. Den traditionellen Massenmedien fehlt bekanntlich der Rückkanal, über den sich das Publikum an der öffentli chen Kommunikation beteiligen könnte, sieht man z. B. von Leserbriefen ab. Deshalb ist sequentielle Kommunikation hier auf wenige Angebotsformate (z. B. Talkshows und Interviews) beschränkt oder findet nicht-öffentlich im zeitlichen Vorfeld (im Verhältnis zwischen Quellen bzw. Public Relations und Journalismus) oder Nachfeld (in der Anschlusskommunikation des Publikums) statt. Weil die Relationen zwischen Mitteilungen bzw. zwischen Kommunikatoren in den traditionellen Massenmedien noch keinen hohen Stellenwert besaßen, blieben sie in den Theorien und Methoden der Kommunikationswissenschaft unterbelichtet. Kommunikator und Rezipient wurden, da kein Rollenwechsel stattfand, in separaten Forschungsfeldern untersucht.

    Die Verkettung von Kommunikationsakten mehrerer Teilnehmer, wie sie das Internet ermöglicht, macht es nun notwendig, Relationen im zeitlichen Verlauf zu beobachten, z. B. einen Konflikt, in dem Kontrahenten Argumente austauschen und einander zu überzeugen versuchen. Diese Dynamik wurde bisher unzureichend abgebildet: In der quantitativen Inhaltsanalyse ist es üblich, die Merkmale eines Beitrags isoliert, d. h. ohne die Relationen zu anderen Beiträgen zu codieren. Anschließend werden die Beiträge im Aggregat betrachtet. Um Entwicklungen nachzuvollziehen, werden allenfalls aggregierte Daten für mehrere zeitliche Abschnitte verglichen, wie z. B. in Agenda-Setting-Studien. Idealtypische Phasenmodelle für Themenkarrieren wurden selten getestet. Dies liegt vor allem daran, dass die kontinuierliche Beobachtung von Themen mit Hilfe manuell durchgeführter Inhaltsanalysen mit einem erheblichen Aufwand verbunden ist. Erst für digitale Angebote lässt sich ein fortlaufendes Monitoring mit Hilfe von Software bewältigen.

    Die Kommunikationswissenschaft steht damit vor einer methodischen und einer theoretischen Herausforderung. In methodischer Hinsicht sind Netzwerkanalysen notwendig, die mit Inhaltsanalysen kombiniert werden (z. B. Nuernbergk 2013), in denen mit Hilfe relationaler Variablen auch die Qualität der Beziehungen zwischen Mitteilungen bzw. zwischen Kommunikatoren erfasst wird. Außerdem muss die Entwicklung des Interaktionsnetzwerks im Zeitverlauf betrachtet werden. In theoretischer Hinsicht sind Theorien gefragt, die Relationen und Dynamik in der medienvermittelten, öffentlichen Kommunikation einfangen. In diesem Aufsatz soll für diese theoretische Herausforderung ein Lösungsschritt vorgeschlagen werden.

    2 Interaktionsmodi

    Mit der Frage, in welcher Beziehung Akteure zueinander stehen und wie sich ihre Beziehung entwickelt, hat sich bereits ein Klassiker der Soziologie, Georg Simmel (1992: 20f, Kieserling 2011: 184), befasst. Er unterschied „soziale Formen wie Konflikt, Konkurrenz, Kooperation und Tausch, die für ihn den Kerngegenstand des Faches bildeten. Allerdings hat er diese Formen nicht systematisiert (Schimank 2010: 211, Kieserling 2011: 196) und auch nicht historisch relativiert (Kieserling 2011: 193). In diesem Aufsatz soll die Frage beantwortet werden, wie der Medienwandel soziale Formen bestimmt. Sie werden hier – Rosa (2006: 84f) folgend – als „Interaktionsmodi bezeichnet. Neben der Konkurrenz, der sein Hauptinteresse gilt, nennt Rosa als weitere Modi den (antagonistischen) Konflikt, die (assoziative) Kooperation, die (traditionalistisch-ständische) Zuteilung und die (autoritär-hierarchische) Regelung. Im Folgenden wird auf drei dieser Interaktionsmodi näher eingegangen, die für medienvermittelte, öffentliche Kommunikation von besonderer Bedeutung sind: auf Konflikt, Kooperation und Konkurrenz (Tab. 1).³ Danach soll ihre Realisierung in zwei medialen Kontexten diskutiert werden: in den traditionellen Massenmedien (Abschnitt 3) und im Internet (Abschnitt 4).

    Interaktionsmodi lassen sich als basale Akteurkonstellationen aus in-/direkten Beobachtungs- und Beeinflussungsbeziehungen⁴ zwischen zwei bzw. drei Akteuren definieren. Eine Akteurskonstellation liegt vor, sobald die „Intentionen von mindestens zwei Akteuren interferieren und diese Interferenz von den Beteiligten wahrgenommen wird" (Schimank 2010: 202). Menschen sind aufeinander angewiesen, weil ihr Interesse an knappen Ressourcen und die Kontrolle darüber oft auseinanderfallen (Esser 1996: 342). Dabei können sie mit- oder gegeneinander versuchen, ihre jeweiligen Interessen durchzu setzen. Der erste Fall, die Kooperation, wird hier als direkte, wechselseitige Kommunikation zwischen mindestens zwei Kooperationspartnern aufgefasst, die einem gemeinsamen Zweck und/oder der gegenseitigen Unterstützung beim Erreichen individueller Ziele dient (Lewis 2006: 201-204). Im zweiten Fall rivalisieren Akteure und tragen untereinander Kämpfe aus, um ihre Interessen auch gegen Widerstreben durchzusetzen. Solche Kämpfe lassen sich danach unterscheiden, ob die Akteure direkt oder indirekt interagieren:

    Treffen die Kontrahenten direkt aufeinander und streiten, dann handelt es sich um einen Konflikt. Werron (2010: 305, H. i. O.) definiert ihn als „Abfolge direkt aufeinander Bezug nehmender Gegenwidersprüche". Ihn kennzeichnet – wie die Kooperation – eine direkte, wechselseitige Kommunikation zwischen mindestens zwei Kontrahenten (Kepplinger 1994: 219). Diese Kommunikationsformen sind mit einem hohen Koordinationsaufwand verbunden; ihre Teilnehmer- und Themenkapazität ist gering (Kieserling 1999: 32-47, Werron 2010: 312). Die Konstellation verkompliziert sich, wenn Dritte hinzutreten (Fischer 2010: 198f). Eine solche Triade ist der Fall der Konkurrenz (hier wird das Wort synonym mit Wettbewerb gebraucht). Simmel (2008: 203) definiert die Konkurrenz als indirekte Form des Kampfes, in dem man so „verfährt, als ob kein Gegner, sondern nur das Ziel (Simmel 2008: 204) existiere. Dabei herrsche „Konkurrenz zweier um den dritten (Simmel 2008: 208). Die Leistungsanbieter, z. B. Unternehmen und Parteien, setzen kommunikative „Mittel der Überredung oder Überzeugung" (Simmel 2008: 209) ein, um die Gunst des Publikums zu gewinnen. Zwischen den Konkurrenten besteht nur eine indirekte, über das Publikum verlaufende Beziehung. Das Publikum (hier i. S. v. Leistungsempfängern in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen, z. B. Konsumenten und Bürger) ist der von den Konkurrenten umworbene und daher lachende Dritte (Fischer 2010: 196, Werron 2010: 308). Es beobachtet, vergleicht und bewertet die Offerten der Leistungsanbieter und trifft danach seine Auswahlentscheidung. Die Glieder des Publikums müssen weder untereinander noch mit den Konkurrenten kommunizieren. Das Publikum kann daher (muss aber nicht) in einer passiven, nur rezipierenden und selektierenden Haltung verbleiben, während die Konkurrenten kommunikativ aktiv werden und für sich werben müssen, um im Leistungsvergleich des Publikums besser abzuschneiden und bei ihm ein intendiertes Anschlusshandeln auszulösen, es z. B. zur Wahl ihrer Partei oder den Kauf ihres Produkts zu veranlassen. Auch dieses Beeinflussen kann einseitig und punktuell bleiben, d. h. ohne fortgesetzte Interaktion mit dem Publikum. Die Beschreibung der für die drei Interaktionsmodi erforderlichen Kommunikationsformen lässt bereits vermuten, dass der mediale Kontext für ihre Realisierung von erheblicher Bedeutung ist.

    Tabelle 1: Vergleich der Interaktionsmodi (nach Neuberger 2014: 575)

    3 Interaktionsmodi unter den Bedingungen traditioneller Massenmedien

    Die idealtypisch unterschiedenen Modi Konflikt, Konkurrenz und Kooperation können sich über die basalen Konstellationen als Keimzellen hinaus in der sozialen, zeitlichen und räumlichen Dimension erweitern. Dabei nehmen die Zahl der beteiligten Akteure, die Zahl verknüpfter Interaktionsakte, ihre Gesamtdauer sowie die räumliche Verteilung der Akteure zu. Die Größe und Komplexität von Interaktions-Netzwerken wächst damit. Zu dieser Ausdehnung tragen Medien der öffentlichen Kommunikation in erheblichem Maße bei.

    Die traditionellen Massenmedien Presse und Rundfunk ermöglichen in erster Linie einseitige, einstufige und punktuelle one-to-many-Kommunikation. Mangels Partizipations- und Interaktionsmöglichkeiten eignen sie sich nur begrenzt für Konflikt und Kooperation. Wechselseitige Kommunikation ist nur im kleinen Kreis vor einem Massenpublikum realisierbar, z. B. in Talkshows. Bei der Auswahl der Kommunikatoren konzentrieren sich traditionelle Massenmedien auf prominente Leistungsträger, die einen hohen Nachrichtenwert besitzen, während Leistungsempfänger zumeist auf die Rezipientenrolle beschränkt bleiben. Ihnen fehlt nicht nur ein Rückkanal zu den Medien, sondern auch der Kontakt zu den anderen Gliedern des dispersen, d. h. verstreuten Massenpublikums.

    Wesentlich bessere Voraussetzungen schaffen Presse und Rundfunk für die Konkurrenz. Der Bonner Soziologe Tobias Werron hat die Ko-Evolution von Massenmedien, Journalismus und Konkurrenz in den gesellschaftlichen Teilsystemen untersucht. Auf seine Analysen, die in der Kommunikationswissenschaft bisher noch nicht aufgegriffen worden sind, stützen sich die folgenden Ausführungen: Leistungsanbieter haben relativ günstige Wirkungsvoraussetzungen, wenn sie das Publikum einseitig beeinflussen wollen. Zur „Formierung der Gunst (Werron 2009a: 20) müssen sie sich jedoch „den Gesetzen öffentlicher Kommunikation unterwerfen (Werron 2009a: 20). Traditionelle Massenmedien eignen sich in umgekehrter Richtung auch für die einseitige Beobachtung der Leistungsanbieter durch das Publikum (via Journalismus und Werbung), weil sie für ein Massenpublikum kostengünstig Informationen bereitstellen. Der professionelle Journalismus konnte mit Hilfe medialer Techniken die Vergleichshorizonte erweitern: Das Beobachten, Messen und Vergleichen von Leistungen expandierte, zugleich wurden Ergebnisse dieses Leistungsvergleichs einem immer größeren Publikum zugänglich (Wehner et al. 2012: 59-66, Passoth/Wehner 2013: 10). Telegraphie und Presse förderten schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in mehreren Dimensionen „Universalisierungsdynamiken (Werron 2009b: 29) des Wettbewerbs (Werron 2009a, b, Werron 2005: 266-271, Werron 2007: 388, Werron 2012: 36). Die „Telegraphie-Presse-Allianz (Werron 2009b: 31) war „stilbildend für eine moderne Kombination aus Echtzeitnetzwerken und statisch-narrativer Evaluation" (Werron 2009b: 33, H. i. O.). Die Telegraphie als Technik der Nachrichtenübermittlung ermöglichte z. B., dass über eine Vielzahl von Sportwettkämpfen aktuell und gleichzeitig in der Presse berichtet werden konnte, die diese Ereignisse zusätzlich bewertete und miteinander verglich. Werron (2005: 266) hat am Beispiel des Sports die zeitliche („Der Beste aller Zeiten), räumliche („Der Beste der Welt) und soziale („Der Beste von allen") Universalisierung der Konkurrenz erläutert:

    In der Zeitdimension kam es durch Wettkampfserien zur Verdichtung und Verstetigung von Vergleichsereignissen, um die wachsende Nachfrage der Medien zu befriedigen. Das Publikum der periodisch erscheinenden Massenmedien beobachtete diese Vergleichsereignisse kontinuierlich. Beim Leistungsvergleich wurden Einzelereignisse in einen größeren zeitlichen Zusammenhang gestellt. Über Leistungen im Verlauf einer Saison wurde in Tabellen Buch geführt. Medien forcierten damit die Gleichzeitigkeit des Vergleichens durch ihre hohe Aktualität und die zeitliche Ausdehnung des Vergleichens in die Vergangenheit als eine Art kollektives Gedächtnis (Werron 2009b: 27-29).

    In der Raumdimension trieb die immer größere Reichweite der Berichterstattung und Verbreitung der Medien die Globalisierung des Vergleichens voran. Lokale Ereignisse wurden in einen immer größeren räumlichen Vergleichshorizont gestellt. Im Sport differenzierten sich Vergleichsebenen heraus, die von der Kreisklasse über nationale Ligen bis zur Weltmeisterschaft reichen (Werron 2009b: 29, Heintz 2010: 167).

    In der Sozialdimension weiteten Medien den Beobachterkreis von einem überschaubaren Präsenz- zu einem massenhaften Medienpublikum aus. Der Leistungsvergleich findet in den Massenmedien vor und in einem unabgeschlossenen, als Fiktion wirksamen Publikum statt, um dessen Gunst geworben wird (Werron 2009a: 16f, 20, Werron 2010: 309f).

    Der professionelle Journalismus hat also mit Hilfe der traditionellen Massenmedien zur zeitlichen, räumlichen und sozialen Universalisierung der Konkurrenz im Sportsystem beigetragen. Eine ähnliche Ko-Evolution zwischen Teilsystemen, Massenmedien und Journalismus liegt auch für andere Teilsysteme nahe.

    Allerdings bieten auch die traditionellen Massenmedien nicht in jeder Hinsicht optimale Bedingungen für Konkurrenz: Den Anbietern bleibt der Blick auf das Publikum weitgehend versperrt, weshalb er sich mit einer operativen Fiktion behelfen muss (Werron 2009a: 16f, 20, Werron 2010: 309f). Dafür gibt es zwei Ursachen: Erstens führt die allgemeine Zugänglichkeit der Öffentlichkeit dazu, dass das Publikum stets unabgeschlossen ist. Die Fiktionalität wird zweitens dadurch gesteigert, dass auch das tatsächliche Publikum für die Leistungsträger weitgehend intransparent bleibt. Deshalb bemühen sie sich, über den Umweg der Marktforschung das Publikum besser in den Blick zu bekommen. Dennoch bleibt ein erhebliches Maß an Unbekanntheit und Unberechenbarkeit des Publikums, was jedoch funktional ist, da sie Leistungsanbieter zu besonderen Anstrengungen nötigen. Sie erzeugen zumindest einen „öffentlichen Zwang zur Simulation von Sachlichkeit und Leistungsbereitschaft" (Werron 2009a: 25), um den unterstellten Erwartungen des fiktiven Publikums gerecht zu werden.⁵ Das Publikum profitiert davon, dass es „systematisch überschätzt" wird. Deshalb ist das Publikum ein „versteckter Dritter, der in diesem Sinne am meisten zu lachen hat" (Werron 2009a: 25, H. i. O.).

    4 Interaktionsmodi unter den Bedingungen des Internets

    Das Internet erleichtert wechselseitige und mehrstufige, d. h. sequentielle Kommunikation, wie sie Konflikt und Kooperation erfordern, und es ermöglicht eine breitere Beteiligung des Publikums in der Kommunikatorrolle (Partizipation). Im Internet steigt deshalb nicht nur die Relevanz von Konflikt und Kooperation im Verhältnis zu anderen Interaktionsmodi, sondern es fördert auch ihre zeitliche, räumliche, soziale und sachliche Universalisierung. Es verfügt nämlich u. a. über das Potenzial, Mitteilungen zu archivieren (zeitlich), global zu verbreiten (räumlich), Mitteilungen einer Vielzahl von Kommunikatoren zu verknüpfen, z. B. durch Hyperlinks und Retweets, ohne dass darunter die Kohärenz der Interaktion leiden müsste (sozial), und das Themenspektrum auszuweiten, wenn jeder nach eigenem Interesse Themen selektieren kann (sachlich).

    Die Möglichkeit, an Konflikten teilzunehmen, hat sich im Internet wesentlich verbessert: Konsumenten, Bürger und andere Leistungsempfänger können ihre Kritik relativ ungehindert öffentlich artikulieren. Damit steht ihnen neben der konkurrenzspezifischen Exit-Reaktion (z. B. bei Konsumentscheidungen oder politischen Wahlen) auch die konfliktspezifische Voice-Reaktion zur Verfügung. Allerdings stellt sich die Frage, in welchem Maße in teilnehmeroffenen Konflikten Respekt, Kohärenz und andere deliberative Qualitätskriterien verwirklicht werden können (z. B. Dahlberg 2004, Rucht et al. 2008, Freelon 2010, Gerhards/Schäfer 2010).

    Kooperationen waren in der Vor-Internet-Ära in der öffentlichen, medienvermittelten Kommunikation kaum relevant, weil sie noch nicht – wie heute z. B. im Fall der Wikipedia (Stegbauer 2009) – mit großer Teilnehmerzahl sowie zeit- und raumunabhängig realisierbar waren. Benkler (2011: 11) behauptet sogar, dass es historisch eine Abwendung von Kontrolle und Konkurrenz (sowie dem damit verbunden Bild des selbstsüchtigen, egoistischen Menschen) und eine Hinwendung zur Kooperation gegeben habe, gefördert u. a. durch das Internet (Benkler 2011: 23). Studien befassen sich mit den Motiven der Kooperationsbereitschaft (Stegbauer 2009, Benkler 2011, Nowak 2011), der Qualitätssicherung (McIntosh 2008, Sunstein 2009) sowie geeigneten Formaten und Regeln (Walther/Bunz 2005, Bos et al. 2007, Sohn/Leckenby 2007, Benkler 2011: 238-247).

    Die große Herausforderung des Internets besteht darin, für wechselseitige Kommunikation – sei es für Konflikt oder Kooperation – geeignete Formate und Regeln zu finden, die einerseits die Beteiligung einer relativ großen Zahl an Kommunikatoren erlauben bzw. zur Teilnahme motivieren, andererseits aber auch die Qualitätserwartungen an den Verlauf und das Ergebnis sicherstellen.

    Auch der Konkurrenz eröffnet das Internet neue Möglichkeiten. Dass einseitige Beobachtungs- und Beeinflussungsbeziehungen in der Medienöffentlichkeit nicht mehr so stark dominieren, zeigt sich z. B. im Wirtschaftssystem. Dort galt bisher die Konkurrenz als wichtigster Interaktionsmodus. Im Internet wird die Konkurrenz durch Konflikt und Kooperation flankiert: Leistungsempfänger kooperieren, wenn sie untereinander Erfahrungen austauschen oder sich zu Protesten gegen Leistungserbringer zusammenschließen. Mit der Kritik, die sie dabei üben, treten sie in Konflikte mit den Leistungsanbietern ein. Damit verlassen Konsumenten ihre passive Beobachterrolle. Weil sie sich sowohl bei der Kooperation untereinander als auch mit ihrer Kritik, die sie an Leistungserbringer adressieren, öffentlich exponieren, werden sie aber zugleich für Leistungsanbieter besser beobachtbar (Wendelin 2014). Im Internet wird für sie das Publikum transparenter, weil seine Kommentare und die Datenspuren, die das Nutzerverhalten hinterlässt, gesammelt und ausgewertet werden können. Allerdings ändert sich nichts daran, dass das Publikum unabgeschlossen ist und damit sein Verhalten nur in Grenzen kalkulierbar ist. Im Gegenteil: Reaktionen des nun aktiven Publikums können weitaus gravierender sein als in der Vergangenheit. In der Gegenrichtung gewinnt auch das Publikum einen besseren Überblick über die konkurrierenden Leistungsangebote, weil es effizienter vergleichen und dabei auch auf Erfahrungen anderer Konsumenten zurückgreifen kann. Beidseitig wächst also die Transparenz(-vermutung), worauf wiederum reagiert wird, z. B. durch die Manipulation von Konsumenten-Äußerungen seitens der Unternehmen oder durch Proteste gegen das Datensammeln.

    Der Journalismus verliert im Internet zum Teil seine Rolle als vermittelnder Dritter, weil er nicht mehr notwendig zwischen Trägern von Leistungs- und Publikumsrollen stehen muss, sondern umgangen werden kann (Disintermediation). Das Publikum kann deshalb unmittelbar mit den Leistungsträgern und deren persuasiven Botschaften konfrontiert sein. Allerdings entstehen auch neue Intermediäre, die den besonderen Bedingungen des Internets angepasst sind. Dabei treten neben professionellen Vermittlern auch partizipative und technische Vermittler auf. Im Prozess der Institutionalisierung des Internets haben sich auch spezialisierte Angebotsformate herausgebildet, die für einen bestimmten Interaktionsmodus günstige Bedingungen schaffen sollen: Für Konflikte sind dies z. B. Diskussionsforen, für Kooperationen „virtuelle Gemeinschaften" und für Konkurrenzen Vergleichsportale. Es ist aber noch weitgehend offen, wie solche Interaktionsrahmen optimal zu gestalten wären.

    5 Fazit

    Mit Hilfe von Interaktionsmodi lassen sich die Konstellationen zwischen Akteuren typisieren, die an medienvermittelter, öffentlicher Kommunikation beteiligt sind. Sie helfen, die Relationen zwischen Akteuren bzw. ihren Mitteilungen sowie die Dynamik von Interaktionen systematisch zu erfassen. Traditionelle Massenmedien schufen zunächst die Möglichkeit der einseitigen Beobachtung für ein Massenpublikum und dessen einseitiger Beeinflussung. Dies förderte vor allem Konkurrenzbeziehungen und deren Universalisierung. Das Internet besitzt das technische Potenzial für einen flexiblen Wechsel zwischen der Kommunikator- und Rezipientenrolle sowie für die Beteiligung einer großen Zahl von Akteuren in der Kommunikatorrolle. Es unterstützt damit wechselseitige und mehrstufige, d. h. sequentielle Kommunikation, die für Konflikte und Kooperationen charakteristisch ist. Der Medienwandel hat also die Bedingungen für Interaktionsmodi verändert, was zu einem Wandel der Beziehungen zwischen Leistungsträgern und -empfängern in den diversen gesellschaftlichen Teilsystemen beigetragen hat. Diese Ko-Evolution genauer zu analysieren, ist Aufgabe künftiger Studien. Neben dieser langfristigen Makroperspektive wären in einer kurzfristigen Mikroperspektive Verlaufsmuster für Konkurrenz, Konflikt und Kooperation zu bestimmen und zu erklären. Auf der Mesoebene wäre schließlich zu prüfen, wie Angebote und Formate Akteurskonstellationen prägen.

    Literatur

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