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Journalistisches Texten
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eBook409 Seiten5 Stunden

Journalistisches Texten

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Über dieses E-Book

Wer als Journalist einen Text verfasst, arbeitet mit den verschiedensten Quellen – lauter Informationen, die bereits jemand anderes formuliert hat. Voraussetzung für einen guten journalistischen Stil ist deshalb die Fähigkeit, kritisch mit der Sprache anderer umzugehen. Es gilt, eigene und fremde Aussagen klar zu unterscheiden, sie im Text voneinander abzugrenzen und zu kennzeichnen.

Jürg Häusermann zeigt in seinem Buch »Journalistisches Texten«, wie dies geht und wie man dennoch attraktiv schreiben kann. Anhand zahlreicher aktueller Beispiele erläutert er die sprachlichen Mittel, mit denen Journalisten eigene und fremde Positionen abgrenzen können. Erprobte Tipps helfen den Lesern, eine verständliche und ansprechende Sprache zu finden. Das Buch hat sich in der journalistischen Aus- und Fortbildung bewährt.

In der 3. Auflage werden erstmals die verschiedenen Möglichkeiten des Wertens erklärt, also wann in einem Satz eine Meinungsäußerung enthalten ist und welches die sprachlichen Werkzeuge zur Trennung von Berichterstattung und Kommentar sind. Tipps für die verschiedenen Formen der Textkritik runden das Buch ab.

"Anhand zahlreicher Beispiele zeigt dieses Arbeitsbuch, wie durch den bewussten Einsatz sprachlicher Stilmittel Texte inhaltlich präzise und zugleich für den Leser attraktiv gestaltet werden, und wie konstruktive Textkritik ein Gewinn für die eigene Arbeit werden kann.
Ein praktisches Handbuch, ansprechend und verständlich formuliert."
planetpraktika.de
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Dez. 2014
ISBN9783864961038
Journalistisches Texten
Autor

Jürg Häusermann

Jürg Häusermann ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er hat zuvor als Radiojournalist und als Ausbilder für Radio und Fernsehen gearbeitet.

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    Buchvorschau

    Journalistisches Texten - Jürg Häusermann

    [16][17]

    1 Einfache Form, klare Interpretation: der Weg zum journalistischen Stil

    In den frühen Morgenstunden dringen Unbekannte in eine Pizzeria ein. Sie erbeuten einige hundert Euro aus der Kasse. Eine Pressemeldung der Polizei verbreitet die Nachricht unter dem Titel: Einbruch in Pizzeria. Genau diese Schlagzeile übernehmen die Zeitungen, Radios und Internetdienste der Region. Das Wichtigste ist damit gesagt.

    Wenn alle Ereignisse so einfach wären, müssten über journalistisches Texten nicht viele Worte verloren werden. Nur ist die Sache in den seltensten Fällen so klar, die Frage nach der passenden Formulierung kann oft nicht so eindeutig beantwortet werden.

    In einer Wiener Pizzeria schlief der Einbrecher noch am Tatort ein und konnte von der Polizei gleich festgenommen werden. Aber dieser Umstand schafft Probleme beim Texten. Schon die Überschrift Wiener Polizei verhaftete schlafenden Einbrecher (OE24.AT, 13.11.2008) ist inhaltlich falsch. In Wirklichkeit müsste Folgendes erklärt werden:

    Bevor die Polizei den Verdächtigen festnehmen konnte, musste sie ihn erst aufwecken, berichtete die Exekutive am Donnerstag.

    (DIEPRESSE.COM)

    Aber muss es so umständlich sein?

    Journalistisches Texten ist eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit der eigenen und mit fremder Sprache. Dieses Kapitel stellt Verfahren vor, die zu einer für den Journalismus geeigneten Sprache führen.

    1.1 Techniken des Formulierens

    Die meisten Menschen, die für die Öffentlichkeit schreiben, verhalten sich beim spontanen Formulieren seltsam: Statt einfache, überschaubare Sätze bilden sie ganz automatisch komplizierte, unübersichtliche Strukturen.

    Geht es dabei nicht um Einbruch, sondern etwa um Bildungspolitik, entstehen leicht Sätze von über 30 Wörtern Länge:

    [18] Zehn Jahre nach dem ersten Pisa-Test im Jahre 2000 liegt Deutschland beim Lesen im OECD-Schnitt, in Mathematik und Naturwissenschaften deutlich darüber und zählt zu den wenigen Ländern, die sich durchgängig verbessert haben. ( FAZ.NET , 8.12.2010 )

    Dabei ginge es auch einfacher. In einem Gespräch würde man vielleicht so formulieren:

    Es gibt eine neue Pisa-Studie. Deutschland ist besser als vor zehn Jahren. Im Lesen haben die deutschen Schüler den OECD-Schnitt erreicht. In Mathematik und Naturwissenschaften liegen sie sogar deutlich darüber. So wie Deutschland haben sich nur wenige Länder durchgängig verbessert, d.h. in allen Fächern, die geprüft wurden.

    Der Ausgangssatz ist hier in mehrere Sätze aufgeteilt, die Informationen sind neu angeordnet. Die Sätze klingen etwas weniger offiziell, als bei Nachrichtenmeldungen üblich. Aber sie bieten eine Alternative.

    In der Praxis bewegt man sich meistens zwischen beiden Stilen. Zwar müssen viele Vorgaben eingehalten werden, die den Text komplexer machen. Aber das Ideal ist – und da sind sich alle einig – eine Sprache, die der Sache gerecht wird und sie dennoch verständlich und klar wiedergibt.

    Wer also eine Meldung über die neueste Pisa-Studie verfasst, muss mit der Sprache von Forschern und Behörden kämpfen. Komplizierte Satzkonstruktionen sind da die Regel. Hinzu kommen Werbephrasen; denn wer an die Öffentlichkeit geht, ist immer Partei. Dies trifft auch beim Pressetext zu, den die deutsche Kultusministerkonferenz und das Bundesministerium für Bildung und Forschung zum Anlass veröffentlicht haben:

    Gerade im Vergleich zu anderen Staaten hat sich Deutschland über die Jahre kontinuierlich verbessert und liegt inzwischen in vielen Bereichen über dem OECD-Durchschnitt. Dafür haben Bund und Länder mit ihrer deutlichen Steigerung der Bildungsinvestitionen sowie mit ihren qualitätssichernden Maßnahmen gesorgt und damit eine positive Dynamik im Bildungswesen eingeleitet.

    Wer derartige Sätze zu einer Nachricht verarbeiten muss, darf sich nicht von den komplexen Satzkonstruktionen beeindrucken lassen und muss gleichzeitig herausfinden, was hinter Wendungen wie deutliche Steigerung der Bildungsinvestitionen und qualitätssichernde Maßnahmen steckt.

    Das Ziel sind Sätze, die das Lesen erleichtern, weil sie einfach sind und nur so viele Informationen enthalten, wie sie ein Leser auf Anhieb verarbeiten kann. Und zudem sollten es Sätze sein, mit denen sich ein [19] Journalist oder eine Journalistin von ihren professionellen Informationsquellen abgrenzen kann. Mit einem weniger geschwollenen Stil machen sie die Informationen leichter überprüfbar. Zudem nähert man sich damit der Sprache eines allgemeinen Publikums.

    Achtung: Hier wird nicht vor langen Sätzen gewarnt. Ein langer Satz an sich ist nicht schädlich. Problematisch ist, dass lange und komplexe sprachliche Gebilde den Stil der meisten Texte prägen, aus denen die Journalistinnen und Journalisten ihren Stoff beziehen. Und zudem haben diese sich im Verlauf ihres Studiums oft selbst angewöhnt, kompliziert zu formulieren. Wenn dem so ist, besteht die Gefahr, dass man den Sprachstil der Quellen unkritisch übernimmt und eigene wie fremde Texte zu wenig hinterfragt. Dagegen lässt sich etwas tun: Man zergliedert grundsätzlich alle umständlichen Sätze in mehrere Teile. Dieses Portionieren macht sie besser überblickbar. Das ist ein nützliches Hilfsmittel am Anfang des Textens und bei jedem Durchlesen und Überarbeiten des Geschriebenen.

    Portionieren als Hilfsmittel beim Texten

    Kleinere Portionen sind mundgerechter. Das Portionieren hilft gerade beim textbasierten Schreiben, die Sprache fremder Texte zu überprüfen. Bevor man umfangreiche Sprachbrocken übernimmt, probiert man aus, wie der gleiche Inhalt portioniert schmeckt. Und plötzlich erweist sich vieles als überflüssig, anderes als unverständlich oder verschleiernd formuliert.

    Die Lokalzeitung berichtet über den örtlichen Friedhof. Er sieht anders aus als noch vor zehn Jahren. Die Zahl der Gräber, die von Privatleuten betreut werden, geht zurück. Es gibt mehr offene Grünflächen als früher. Der Einstiegssatz des Artikels lautet so:

    Veränderte Bestattungsgewohnheiten und der permanente Rückgang der Görlitzer Bevölkerung haben auf dem Friedhof der Neißestadt zur Umgestaltung geführt. (SÄCHSISCHE ZEITUNG, 26.9.2000)

    Dieser Satz mag in seiner ganzen amtssprachlichen Pracht überzeugend klingen. Wenn man ihn aber in einzelne kleinere Portionen aufteilt, wird rasch deutlich, dass er nicht nur umständlich sondern auch falsch ist:

    Die Bestattungsgewohnheiten haben sich verändert.

    Die Görlitzer Bevölkerung geht permanent zurück.

    Das hat dazu geführt, dass …

    [20] Wozu hat es geführt? Dass der Friedhof umgestaltet wurde? – Nein. Zwar sieht der Görlitzer Friedhof heute anders aus als vor Jahren, parkähnlicher, wie aus dem Text zu erfahren ist. Er hat sich aber allmählich verändert. Das ist nicht dasselbe wie eine bewusste Umgestaltung des Friedhofs. Korrekt wäre also etwa: Das hat dazu geführt, dass sich das Bild des Friedhofs allmählich verändert hat.

    Wenn die Autorin ihren Gedankengang auf diese Weise portioniert, bekommt sie selbst einen besseren Überblick über ihre Informationen. Und sie vermeidet allzu grobe sprachliche Schnitzer. Selbstverständlich braucht sie es im endgültigen Text nicht bei diesem Kurzsatz-Stil bewenden zu lassen. Aber als Rohfassung hilft er, die ersten Schritte zu bewältigen.

    Das Verfahren des Portionierens kann überall dort Anwendung finden, wo man ein Unbehagen spürt und nicht weiß, worauf es zurückzuführen ist. In einfache Sätze umgeformt, wird der Inhalt klarer, und die Gründe für die Verständnisschwierigkeiten treten zutage.

    Portionieren bringt Wiederholung. Wer eine Folge von mehreren einfachen Sätzen produziert, macht automatisch auch einige Angaben mehrmals. Der Text wird redundanter. (Redundanz ist ein Begriff für den Gehalt an scheinbar Überflüssigem im Text. Ein redundanter Text ist weniger dicht, die Informationen sind besser auf mehr Sätze verteilt.) Diese Wiederholungen vereinfachen den Text; sie erleichtern das Verstehen. Portionieren kann auch einen erzählerischen Stil fördern – wenn der Text dann mehr Sätze und damit mehr Verben enthält.

    Guter Stil: mehr als kurze Sätze

    Portionieren ist ein Weg, nicht ein Stil-Ideal. Wenn der Endtext nur aus kurzen Hauptsätzen besteht, kann er langweilig sein. Oft ist er vor allem weniger differenziert als ein Text, in dem verschiedenste Satzbautypen vorkommen. Dies zeigt das folgende Beispiel mit gesprochener Sprache.

    Der Journalist und Islamwissenschaftler Reinhard Baumgarten antwortet auf die Frage nach dem Sinn des Kopftuchs. Er ist in eine Talkshow eingeladen und formuliert spontan. Die Haupt- und Nebensätze sind unterschiedlich lang. Sie sind aber einfach strukturiert, fügen sich linear aneinander:

    Also über den Sinn des Kopftuchs kann man natürlich viel sagen. Aber es gibt Begründungen im Koran. Und zwar sollten die Frauen des Propheten ihr Haupt verhüllen. Und da streiten sich dann wirklich die Gelehrten, ob das jetzt so gemeint ist, um sich kenntlich zu machen als die Frauen des Propheten oder um [21] deutlich zu machen, dass sie schamhafte Frauen sind. Denn es gibt im Koran die so genannte asbab an-nuzul, die »Gründe der Herabsendung«, warum bestimmte Verse herabgesandt wurden, und in diesem speziellen Fall des Kopftuchs war es so, dass die Frauen des Propheten angepöbelt wurden von Männern. Also der Grund fürs Kopftuch war auch damals schon das Fehlverhalten von Männern. Aber wie gesagt, da gehen dann die Meinungen auseinander. ( SWR 1, 17.11.2010 )

    Der Sprecher portioniert, und zudem wiederholt er einzelne Ausdrücke. Beim freien Formulieren sucht man unwillkürlich einen Sprachstil, der einem selbst hilft, seine Gedanken geordnet zu präsentieren und der den Zuhörern hilft, zu verstehen.

    Zum gleichen Thema äußert sich ein Text, der zum Lesen gedacht ist. Er besteht aus viel längeren und komplexer aufgebauten Sätzen:

    Es ist heute augenscheinlich, dass die Mehrheit der jungen kopftuchtragenden Frauen dies nicht etwa tut, weil sie einer bestimmten Parteiung angehören wollen. Für viele europäische muslimische Frauen ist das »Problem Kopftuch« eher ein Symbol für eine verdrängte Debatte um die Rolle der Frau und der Sexualität in der europäischen Gesellschaft. Das Kopftuch wird für diese Frauen zum Ausdruck der Selbstbestimmtheit der muslimischen Frau, die ihren Körper verhüllt, weil er ihr, nicht aber der Gesellschaft gehört. Hierher gehört wohl auch, dass viele Belehrungen über das Kopftuch von biederen Männern stammten, zu deren Selbstdefinition gehört, wie eine Frau eben für sie auszusehen hat. (ISLAMISCHE ZEITUNG, 26.11.2010)

    In vielen mündlichen Situationen ist das Portionieren eine gute Hilfe, um den Stress zu mindern. Dennoch kann die Forderung nach lauter Hauptsätzen keine Stilregel sein. Sie schränkt, stur angewendet, die Aussagefähigkeit ein. Im Extremfall führt sie zu einer Folge kurzer Hauptsätze, bei denen nicht mehr klar ist, wie sie untereinander verknüpft sind.

    Im Printbereich findet man eine stark portionierte Sprache, wenn es darum geht, einfach zu erzählen. Im folgenden Text (Titel: Kopftuchverbot: Diese junge Türkin ist dagegen …) wird genau dies geleistet:

    Amina Sleiman (18) ist bildhübsch. Mit zwölf Jahren nahm sie zum ersten Mal ein Kopftuch, trägt es seitdem, sobald sie aus dem Haus geht. In BILD sagt die in Berlin lebende Türkin, warum sie gegen ein Verbot ist.

    »Ich habe mich vor sechs Jahren dafür entschieden, weil viele aus meiner Familie Kopftuch tragen. Ich wollte dazugehören«, sagt Amina. Ihre Mitschüler an der Hermann-von-Helmholtz-Gesamtschule (im Hauptstadt-Bezirk Neukölln) reagierten tolerant.

    [22] »Aber meine Lehrer wollten ständig wissen, ob meine Eltern mich dazu gezwungen haben.«

    Heute macht Amina eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Das Kopftuch trägt sie inzwischen aus Überzeugung. »Ich möchte zeigen, nach welcher Religion ich lebe.«

    Dass Schulen in der Türkei Kopftücher nicht zulassen, versteht die Neuköllnerin nicht. Auch ein Verbot in Deutschland fände sie ungerecht: »Schließlich dürfen ja auch alle ein Kreuz um den Hals tragen.«

    (BILD.DE, 12.12.2009)

    Dieser Text ist gekennzeichnet durch kurze Sätze und eine einfache, chronologische Struktur. Kompliziertere Begründungen, differenziertere Argumente wären nicht unmöglich, bräuchten aber viel mehr Platz, Wiederholungen und anspruchsvollere Konjunktionen.

    Einfache, kurze Sätze sind in einigen wenigen Textformen besser als längere, verschränkte Sätze. Dies gilt immer dann, wenn rasche Orientierung notwendig ist, wie etwa bei Leads in Tageszeitungen.

    Portionieren kann als ein Hilfsmittel trainiert werden, auf das man bei Bedarf zurückgreifen kann. Ich trainiere es in allen Stilkursen für Journalisten: Die Teilnehmer haben einen schriftlichen Text vor sich und versuchen, ihn einfach, in möglichst vielen Portionen wiederzugeben. Die Erfahrung zeigt: Je mehr journalistische Erfahrung die Teilnehmer haben, desto schwerer fällt es ihnen, einen einfachen Stil zu produzieren. Offensichtlich haben sie ganze syntaktische Muster im Kopf, Prestigeformulierungen, die mehr der Selbstdarstellung als der Informationsvermittlung dienen. Es kann ein wichtiges persönliches Ziel einer Schreiberin oder eines Schreibers sein, einfach und trotzdem seriös zu formulieren.

    Übungsmöglichkeiten für das Portionieren

    Portionieren will geübt sein. Als Ausgangsmaterial für Portionierübungen eignen sich komplizierte Texte aller Art, die sich einem nicht auf Anhieb erschließen. Erkenntnisreich ist es für die Übenden natürlich, wenn sie Texte aus ihrem eigenen Blatt und so Themen, die ihnen aus der eigenen Arbeit vertraut sind, als Übungsmaterial nehmen.

    Man nehme etwa das folgende Beispiel. Die schweizerischen Asylbehörden haben es oft mit jungen Asylbewerbern zu tun, die keine Ausweise bei sich haben. Die Behördenvertreter meinen, dass viele von ihnen ein zu niedriges Alter angeben, um ihre Chancen, nicht ausgewiesen zu werden, zu verbessern. So hat man zur erstaunlichen Lösung gegriffen, die jungen [23] Leute mit Röntgenstrahlen zu untersuchen, um den Wachstumsstand der Knochen herauszufinden. Der Artikel berichtet jetzt, dass die Kontrollinstanz (die Asylrekurskommission) dieses Verfahren missbilligt hat (übrigens aus rein wissenschaftlichen Gründen). Der Einstiegssatz lautet so:

    Die Asylrekurskommission hat die Beschwerde eines Asylsuchenden gutgeheißen, dem seine Angabe, noch unmündig zu sein, auf Grund einer Röntgenaufnahme der Handknochen als Täuschung über die Identität zur Last gelegt worden war.

    (NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, 28.9.2000)

    Extrem portioniert und chronologisch angeordnet, lauten diese Informationen so:

    Ein Asylsuchender gab an, er sei noch unmündig.

    Da röntgte man seine Hand.

    Auf Grund der Röntgenaufnahme erachtete man seine Angabe als falsch.

    Man nahm an, er habe vortäuschen wollen, dass er jünger sei.

    Dies legte man ihm zur Last.

    Der Asylsuchende legte Beschwerde ein.

    Die Asylrekurskommission hieß seine Beschwerde gut.

    Beim Portionieren wird klar, warum der Text merkwürdig wirkt. Die kurzen Sätze lassen Fehlerhaftes und Unlogisches schnell erkennen.

    Da ist einmal eine sprachliche Unsauberkeit: Mit Identität ist eigentlich das Alter des Asylsuchenden gemeint. Es fehlen aber auch wesentliche Informationen. Bezeichnenderweise sind es Angaben zu den handelnden Personen. Was man dem Asylsuchenden angetan hat (eine Handlung, die auch im Widerspruch zum Asylgesetz steht), wird zu einem abstrakten Vorgang: Der Ausdruck auf Grund einer Röntgenaufnahme sagt nicht aus, wer den Mann röntgen ließ.

    Eine derartige Analyse von Sätzen schafft eine neue Basis für einen gründlich überarbeiteten Text. Er wird einen neuen Aufbau haben und informativere Sätze enthalten.

    Die Übung zeigt allerdings auch, dass ein Neuformulieren oft eine Nachrecherche verlangt. Wenn etwa in einem Passivsatz das Subjekt fehlt (Der Passant wurde niedergeschlagen), kann es erst eingesetzt werden, wenn man sich sachkundig gemacht hat (Der Passant wurde von einem Linksextremen/von einem Rechtsextremen/von einem Bankräuber niedergeschlagen).

    [24] Reihum erzählen als spielerische Übung

    Wenn mehrere Leute miteinander Portionieren üben, können sie eine Stufe weitergehen. Sie lesen einen einfachen Text – irgendeine vermischte Meldung – und erzählen ihn dann gemeinsam nach. Welche Herausforderung darin liegt, kann das folgende Beispiel illustrieren:

    Erfolg für die Sicherheitsbehörden in den USA: Sie haben einen Anschlag während der traditionellen Weihnachtsbaumzeremonie im Bundesstaat Oregon vereitelt. Während der feierlichen Beleuchtung des Weihnachtsbaums in Portland habe ein Mann versucht, einen mit Sprengstoff beladenen Transporter in die Luft zu sprengen, teilte das Justizministerium an diesem Samstag mit.

    Es habe sich dabei jedoch um eine Attrappe gehandelt, die von den Sicherheitskräften präpariert worden war. Verdeckte Ermittler hatten den Teenager bereits seit längerem beobachtet. Der mutmaßliche Attentäter war am Freitagabend mit seinem Lieferwagen in die Nähe der geplanten Feier gefahren, wo eine Viertelstunde später zum ersten Mal die Lichter am Weihnachtsbaum angezündet werden sollten.

    Kurz darauf sei der Teenager festgenommen worden. Wie das Justizministerium und die Bundespolizei mitteilten, stammt der 19-Jährige aus Somalia, besitzt aber die US-Staatsbürgerschaft. Sein Name wurde als Mohamed Osman M. angegeben. Er sei bereits seit August 2009 im Visier der Fahnder gewesen.

    Laut dem örtlichen FBI-Vertreter Arthur Balizan war die Bedrohung sehr ernst: M. sei zu einem großangelegten Anschlag »fest entschlossen gewesen«. FBI und örtliche Polizei hätten jedoch sichergestellt, dass die Öffentlichkeit zu keiner Zeit in Gefahr gewesen sei.

    (AFP, 27.11.2010)

    Die Übung geht reihum. Jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer spricht nur einen Satz. Man darf sich dabei ohne Weiteres an der Textvorlage orientieren. Aber der eigene Satz muss kurz sein. Am besten einigt man sich darauf, dass er nicht mehr als acht Wörter enthalten darf (was nicht allzu kleinlich kontrolliert werden soll). Die Geschichte entwickelt sich auf diese Weise langsam, vor allem, weil noch eine Auflage zu erfüllen ist: In jeden eigenen Satz muss ein Wort eingebaut werden, das aus dem vorangegangenen Satz stammt.

    Auf diese Weise entsteht eine Erzählung, nicht unbedingt ein journalistischer Text. Für Menschen, die gewohnt sind, textbasiert zu arbeiten, ist die Aufgabe dennoch oft schwierig – gerade weil sie die Fakten in einer beliebigen Reihenfolge präsentieren dürfen.

    [25] Diese Übung weckt bei den Teilnehmern nur ganz langsam die Lust am Formulieren. Sie müssen sich zuerst von den Zwängen des nachrichtenmäßigen Textaufbaus lösen. Auch danach verlieren sie erst allmählich die Tendenz, komplexe (und für die Übung zu lange) Sätze anzusteuern, also Sätze, die so anfangen: Während der feierlichen Beleuchtung des Weihnachtsbaums …

    Mit der Zeit merken sie, dass sie es sich und auch den anderen Gruppenmitgliedern leichter machen, wenn sie möglichst kurze Sätze formulieren. Am einfachsten geht es schließlich, wenn sie sich nur auf das zu wiederholende Wort konzentrieren und weniger auf den Inhalt. Sie formulieren etwa so:

    Im Bundesstaat Oregon liegt die Stadt Portland.

    In Portland findet jährlich eine besondere Feier statt.

    Bei dieser Feier wird ein Weihnachtsbaum beleuchtet …

    Es entsteht dann ein sehr redundanter Text, und was zuerst Pflicht war – die Wiederholung eines Wortes –, wird jetzt zur Erleichterung: Während man das Wort (etwas bereits Bekanntes) wiederholt, lässt sich bereits der Rest des Satzes planen. Man kann diesen Umstand übrigens auch im Alltag nutzen: Wer unter Druck spontan formulieren muss, schafft sich so Zeit, ohne ins Stocken zu geraten.

    Wiederbeleben: Aus Komprimierungen werden Sätze

    In vielen Sätzen verbergen sich mehrere andere Sätze. Die deutsche Sprache hat bestimmte Techniken entwickelt, um einen ganzen Satz zu einem Satzglied zu komprimieren. Dann lässt er sich in einen anderen Satz einbauen. Dies ist eigentlich ganz praktisch. Man bringt so auf wenig Raum mehr Information unter. Der Text wird dadurch aber auch unanschaulich und oft schwer verständlich. Deshalb müssen für einen attraktiven journalistischen Stil solche Komprimierungen erkannt und rückgängig gemacht werden.

    Zuerst soll an einem Beispiel gezeigt werden, wie das Komprimieren funktioniert. Dies ist der Sachverhalt:

    Die Pilotenvereinigung Cockpit hat zu einem Streik aufgerufen.

    Sie hat dies vorher nicht angekündigt.

    Die Fluggesellschaft Germania hat heute dennoch alle Flüge planmäßig durchgeführt.

    Wer all dies unbedingt in einem Satz sagen will, kann zwei Verfahren des Komprimierens nutzen.

    [26] Das erste ist die Substantivierung: Aus dem Verb aufrufen wird das Substantiv Aufruf. Und weil zum Streik aufgerufen wurde, ist es ein Streikaufruf.

    Das zweite Verfahren ist die Partizipkonstruktion: Aus dem Verb ankündigen wird das Partizip angekündigt. Und weil es sich um etwas dreht, das nicht angekündigt wurde, wird daraus unangekündigt.

    Damit ist es gelungen, zwei Dinge, für die ursprünglich finite Verben verwendet wurden, mit anderen Wortarten auszudrücken. Damit brauchen sie nicht mehr einen eigenen Satz, sondern lassen sich beide in den dritten Satz einbauen. Und so lautete denn auch die ursprüngliche Meldung:

    Die Berliner Fluggesellschaft hat trotz des unangekündigten Streikaufrufs der Vereinigung Cockpit (VC) am heutigen Mittwoch alle Flüge planmäßig durchgeführt.

    (DMM, 8.12.2010)

    Man erkennt sofort den Vorteil eines Stils, der Komprimierungen bevorzugt: Die Informationen sind kompakt gefasst, es lässt sich sehr viel in einen einzigen Satz packen. Die Nachteile werden aber ebenfalls schnell deutlich: Die Sätze werden meistens schwerer verständlich und die Täter fallen heraus.

    Die Verständlichkeit ist nicht immer erschwert. Viele Komprimierungen sind so geläufig, dass mit ihnen tatsächlich Zeit und Platz gespart werden kann. Dazu gehört z.B. das Partizip bewaffnet im Satz:

    Ein mit einer Pistole bewaffneter Mann betrat den Supermarkt.

    Beim obigen Streiktext ist dagegen die Komprimierung nicht ohne: Gibt es eigentlich unangekündigte Streikaufrufe? Oder nur unangekündigte Streiks? Hier zeigt sich zumindest, dass einen das Auflösen von Komprimierungen zum Nachdenken, unter Umständen sogar zum Nachrecherchieren bringen kann. Zweifel an der Lesbarkeit von Sätzen sollten aufkeimen, wenn Wortfolgen entstehen wie:

    der mit den durch die

    in der die im Verhältnis

    über den über den

    Die dazugehörigen Sätze lauten folgendermaßen:

    [27] 1878–82 wurde der große Erweiterungsbau der Universitätsbibliothek errichtet, der mit den durch die Bibliothek im Netz des preußischen Bibliothekswesens neu hinzu gekommenen Aufgaben, wie der Fernleihe, erforderlich geworden war.

    (WIKIPEDIA, ARTIKEL »GEORG-AUGUST-UNIVERSITÄT GÖTTINGEN«)

    Dieses Beispiel zeigt, dass Komprimierungen verschachtelte Konstruktionen ermöglichen. In diesem Satz gehören die folgenden Teile zusammen:

    (der Erweiterungsbau,) der erforderlich geworden war

    mit den neu hinzu gekommenen Aufgaben

    durch die Bibliothek im Netz des preußischen Bibliothekswesens

    Die Wortfolge in der die im Verhältnis stammt aus dem folgenden Volleyball-Satz:

    Für Gesprächsstoff nach der Partie, in der die im Verhältnis deutlich besser besetzten Hanseatinnen einen 1:2-Satzrückstand noch umdrehten, sorgte der allerletzte Ball.

    (ECHO-MUENSTER.DE, 22.2.2010)

    In diesem Satz ist nicht die Komprimierung selbst, besetzt, das Problem. Aber sie erlaubt einen sehr langen eingeschobenen Nebensatz und unterbricht die eher einfache Aussage: Für Gesprächsstoff sorgte der allerletzte Ball. Damit sind zwei Dinge, die nacheinander geschahen, in einer einzigen Satzkonstruktion verschränkt.

    Natürlich darf in einer solchen Sammlung ein juristischer Text nicht fehlen. Wer in einem Internet-Suchprogramm die Wortfolge über den über den eingibt, erhält über hundert Treffer. Die meisten entpuppen sich als Tippfehler. Aber der folgende ist nicht nur beabsichtigt, sondern auch grammatikalisch korrekt:

    Und so lange über den über den gesetzlichen Anspruch hinaus gehenden Urlaub keine entsprechenden Vereinbarungen getroffen wurden, ist dieser wie gesetzlicher Urlaub zu behandeln.

    (JURAFORUM.DE, 27.1.2010)

    Auch solche Sätze könnte man portionieren und damit lesbarer machen. Eine einfache Faustregel für diese und ähnliche Beispiele besagt, dass eine Massierung von Präpositionen die Verständlichkeit generell erschwert.

    Der zweite Nachteil des Komprimierens ist, dass ein journalistisches »W« wegfällt, die Beantwortung der Frage »Wer?«. Nur das »Was?« bleibt. [28] Damit fehlt das, was einen Satz mit aktivem Verb attraktiv macht. Wer aus dem Verb ankündigen ein Partizip, aus dem Verb aufrufen ein Substantiv macht, muss den Menschen oder die Organisation, die dies tut, nicht mehr nennen. Er kann sagen: trotz des unangekündigten Streikaufrufs – und basta.

    Oft wird auf diese Weise die Ursache einer Handlung verharmlost. Im Satz

    Durch den Einsatz von Wasserwerfern wurden Demonstranten verletzt.

    braucht nicht gesagt zu werden, wer die Wasserwerfer eingesetzt hat. Wenn die Substantivierung Einsatz aufgelöst wird, wird es zum aktiven Verb, und das Subjekt (hier z.B.: die Polizei) muss genannt werden.

    In vielen Fällen ist nicht eruierbar, wer für eine Sache verantwortlich ist. Dann ist ein präzises Subjekt nicht möglich. Dennoch lohnt es sich, mit einem aktiven Satz anzudeuten, dass es sich um eine absichtsvolle Tat handeln kann.

    Wenn z.B. drei Zentner Stichlinge, Elritzen, Döbel und Bachforellen tot im Alfbach von Mehren nach Gillenfeld treiben, lässt sich nicht auf Anhieb sagen, wer dafür verantwortlich ist, auch wenn die Ermittlungen zeigen, dass jemand illegal Gift in den Bach geleitet hat. Das lässt sich natürlich nicht präziser ausdrücken als so:

    Ersten Vermutungen zufolge haben Unbekannte giftige Flüssigkeiten in den Altbach geleitet.

    Aber dies ist immerhin ein aktiver Satz. Es ist eine Sprache, die mit der Möglichkeit rechnet, dass jemand etwas getan hat

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