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Aus der Einsamkeit
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eBook548 Seiten7 Stunden

Aus der Einsamkeit

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Über dieses E-Book

Nach Viersamkeit und Flucht in die Zweisamkeit folgt der letzte Band der Trilogie: Aus der Einsamkeit. Kathrin und Tom kehren nach Deutschland zurück und beginnen sich gegen alle inneren und äußeren Widerstände ein gemeinsames Leben aufzubauen. Tom bleibt von Zweifeln geplagt, gibt aber Kathrin immer mehr Einblick in sein nicht einfaches Leben vor ihrem Kennenlernen. Er bleibt zutiefst verunsichert, versucht immer wieder, Kathrin von sich zu drängen und hängt andererseits unermesslich an ihr. Sie bleibt der einzige Mensch, dem er sein Vertrauen schenken kann. Mit aller Geduld erträgt Kathrin Toms Verzweiflung und seine Ängste und erfährt auf der anderen Seite durch ihn eine großartige Unterstützung, als sie ihn wirklich braucht. Wird Tom sich aus seiner Einsamkeit lösen können? Wird er wagen, den Blick nach vorne auf ein gemeinsames Leben zu richten?
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum13. Apr. 2021
ISBN9783740741150
Aus der Einsamkeit
Autor

Beate Winkler

Beate Winkler, 1973 geboren in Hamburg, studierte Medizin in Lübeck. Ihre Weiterbildung zur Kinderonkologin absolvierte sie in Tübingen und Würzburg. Seit 2015 lebt sie mit ihren zwei Söhnen in ihrer Heimatstadt. Sie arbeitet weiterhin als Ärztin und schreibt in ihrer Freizeit. 2016 erschien die Trilogie "Viersamkeit, Flucht in die Zweisamkeit, Aus der Einsamkeit". 2020 der Roman "Der eigene Weg", die Vorgeschichte zu diesem Buch.

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    Buchvorschau

    Aus der Einsamkeit - Beate Winkler

    Nach ›Viersamkeit‹ und ›Flucht in die Zweisamkeit‹ folgt der letzte Band der Trilogie – ›Aus der Einsamkeit‹. Kathrin und Tom kehren nach Deutschland zurück und beginnen, sich gegen alle inneren und äußeren Widerstände ein gemeinsames Leben aufzubauen. Tom bleibt von Zweifeln geplagt, gibt aber Kathrin immer mehr Einblick in sein nicht einfaches Leben vor ihrem Kennenlernen. Er bleibt zutiefst verunsichert, versucht immer wieder, Kathrin von sich zu drängen und hängt andererseits unermesslich an ihr. Sie bleibt der einzige Mensch, dem er sein Vertrauen schenken kann. Mit aller Geduld erträgt Kathrin Toms Verzweiflung und seine Ängste und erfährt auf der anderen Seite durch ihn eine großartige Unterstützung, als sie ihn wirklich braucht. Wird Tom sich aus seiner Einsamkeit lösen können? Wird er wagen, den Blick nach vorne auf ein gemeinsames Leben zu richten?

    Beate Winkler, 1973 in Hamburg geboren, studierte Medizin in Lübeck. Ihre Weiterbildung zur Kinderonkologin absolvierte sie in Tübingen und Würzburg. Seit 2015 lebt sie mit ihren zwei Söhnen in ihrer Heimatstadt. Sie arbeitet weiterhin als Ärztin und schreibt in ihrer Freizeit. Nach der Trilogie ›Viersamkeit‹, ›Flucht in die Zweisamkeit‹ und ›Aus der Einsamkeit‹ veröffentlichte sie die Romane ›Der eigene Weg‹, ›Das Implantat‹ und ›Rosa‹.

    »Wenn ich einem General geböte,

    nach der Art der Schmetterlinge

    von einer Blume zur anderen zu fliegen

    oder eine Tragödie zu schreiben

    oder sich in einen Seevogel zu verwandeln,

    und wenn der General den erhaltenen Befehl nicht ausführte,

    wer wäre im Unrecht, er oder ich?«

    »Sie wären es«, sagte der kleine Prinz überzeugt.

    »Richtig. Man muss von jedem fordern,

    was er leisten kann.«

    Antoine Saint-Exupéry – Der kleine Prinz

    Inhaltsverzeichnis

    Das neue Jahr

    Jahrestag

    Ein kleines Leben

    Lena

    Zweifel

    Hochzeit

    Rückweg

    Dreizehn

    Krank

    Lena und Anna

    Unterstützung

    Geburtstag

    Aus der Einsamkeit

    Das neue Jahr

    Das Stehen in den Schlangen vor dem Zoll war anstrengend für mich, aber wir kamen etwas müheloser durch die Kontrollen als auf dem Hinweg. Wir bewegten uns langsam zum Gate, wo ich mich erleichtert auf einen der Stühle fallen ließ. Ich war immer noch müde nach der Party von gestern, erschöpft von dem Weg auf dem Flughafen, meine Rollstuhl-Sonderbehandlung stand mir bevor und ich vermisste unsere Zeit in Boston schon jetzt. Tom saß in Gedanken versunken neben mir. Als ich mich vorsichtig an ihn lehnte, sah er kurz auf und warf mir ein trauriges Lächeln zu. Ich forschte in seinem Blick.

    »Was ist, Tom? Freust du dich auf Deutschland?«

    Mich traf ein langer, nachdenklicher Blick.

    »Ich weiß nicht. Ich freue mich aufs Operieren.«

    »Hm.«

    »Du freust dich sicher auf deine Eltern, deine Familie?«

    »Ja.«

    Auf Tom wartete zu Hause keiner. Keiner, der ihm wirklich nah war. Er dachte sicher auch daran, er sah so traurig aus.

    »Ich … werde zum Friedhof gehen müssen.«

    Was sollte ich darauf antworten? Ich sah ihn nur an und streichelte ihn vorsichtig am Bein. Plötzlich richtete er sich auf, sah mich fest an.

    »Kathrin, unsere Zeit hier in Boston, sie war für mich unbeschreiblich. Ich werde sie in guter Erinnerung behalten. Ich vermisse sie schon jetzt.«

    »Wie gut, dass du mich ›gezwungen‹ hast mitzukommen, Tom. Es war auch für mich eine wundervolle Zeit. Allein hätte ich mich niemals getraut. Und – es ist uns so gut zusammen gegangen.«

    Auf dem Flug versuchte ich, an Tom gelehnt etwas zu schlafen. Er legte seinen Arm um mich und las. Nach stundenlangem Sitzen in einer Zwangshaltung kam ich in Frankfurt kaum auf meine Füße und war sehr dankbar für den Rollstuhl, der auf mich zum Transit wartete. Einmal war es mir egal, dass alle um mich herum einen Meter höher aufragten. Langsam schob ich mich mit dem Flughafenrollstuhl vorwärts, bis Tom mir einen fragenden Blick zuwarf und begann den Rollstuhl mit einer Hand zu schieben, daneben herlaufend. Ich sah kurz zu ihm hoch und seufzte, dann wandte ich den Blick ab. Ich zweifelte im Stillen, ob ich die Reise ohne Toms Unterstützung überhaupt geschafft hätte. Ohne ihn hätte ich die paar Schritte vom Rollstuhl zu unseren Sitzen in dem zweiten Flugzeug sicher nicht geschafft, ich war so müde, dass ich winzige Schrittchen machte, bis Tom sich hinter mich stellte und einfach mit mir lief. Genervt ließ ich mich auf den Sitz am Fenster fallen. Tom warf mir einen besorgten Blick zu.

    »Kannst du noch?«

    Ich schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster, hoffte nur noch, dass die Reise bald vorbei wäre und ich heil zu Hause ankommen würde.

    Zu Hause wäre keine eigene Wohnung mehr, mein erstes selbstständiges Domizil aufgelöst, jetzt mit Tom zusammen und mit Anja und Andreas unter einem Dach. Nach unserer gemeinsamen Woche in den USA machte mir das Sorgen, aber wir würden es ohnehin auf uns zukommen lassen müssen. Ob mein eigenes Refugium, mein Rückzugsort mir nicht doch fehlen würde? Ich war auch vorher in den letzten eineinhalb Jahren kaum mehr allein gewesen, wie oft hatten Tom, Anja oder Andreas mir Gesellschaft geleistet. Ich hatte das sehr genossen, nach der ersten Einsamkeit nach meinem Auszug zu Hause. Jetzt würde es anders sein, wir waren notgedrungen zusammen, keiner hatte mehr wirklich die freie Wahl allein zu sein. Auch für Tom würde dieses Gefühl im Zweifel sehr schwierig sein …

    Tom tippte mich an.

    »Wie kommen wir eigentlich vom Flughafen nach Hause?«

    »Michael holt uns ab.«

    Tom atmete auf, ich sah ihn fragend an.

    »Was?«

    »Ich hätte nicht gewusst, wie ich dich im Zug noch nach Hause bekomme.«

    »Och, du hättest mich eben tragen müssen, neben all den Koffern und dem Rollstuhl…«

    Tom grinste, dann wurde er ernst.

    »Schön, wenn man abgeholt wird.«

    »Ja.«

    »Aber – können wir direkt nach Hause fahren? Oder sind noch irgendwelche Zwischenstopps geplant?«

    »Nein, direkt zu dir. Michael wird klar sein, dass ich völlig erschöpft bin. Wir können das gerne als Entschuldigung anführen.«

    In Hamburg blieb ich in dem Gefährt sitzen bis zum Gepäckband und stieg dann in meinen Rollstuhl um, dankbar, dass er so viel einfacher zu bewegen war als die Standardmarke, meiner war für mich gewohnt und an mich angepasst. Wir klemmten meine Geige hinten dran und ich nahm Toms Klarinette auf den Schoß, Tom fuhr den hochbeladenen Gepäckwagen. So kamen wir auf meinen Bruder zu, dessen Lächeln kurz auf seinem Gesicht erstarb, als er mich im Rollstuhl erblickte. Er gewann schnell wieder seine Fassung, beugte sich zu mir herunter und nahm mich in den Arm: »Hallo Schwesterchen, schön, dass ihr heil wieder angekommen seid.«

    »Hallo, Michael. Danke fürs Abholen.«

    »Hi, Tom.«

    Tom nickte nur.

    »Ich parke gleich hier in der Nähe, auf einem Behindertenparkplatz, dachte heute wäre das ja angebracht. Aber erstmal, wie geht es euch? Wie war euer Flug?«

    »Anstrengend. – Alles okay, es geht uns gut. Nur lass uns gleich zu Tom fahren, ich bin total erledigt.«

    »Alles klar, wird gemacht, Chefin.«

    Mein Bruder und ich grinsten, alter Sprachgebrauch, wenn er mir zur Seite stand. Ich stieg zu ihm vorne ins Auto, Tom kam hinter mich auf die Rückbank. Michael und ich tauschten uns aus, wir hatten viel zu erzählen nach sechs Monaten mit wenig Kontakt. Tom sah ich im Rückspiegel, er starrte aus dem Fenster.

    Als wir vor Toms Haus hielten, stieg er sofort aus und blieb von draußen an das Auto gelehnt stehen. Seine Autophobie. Ich mühte mich aus dem Auto heraus.

    »Tom, kannst du mir die Krücken geben?«

    Sie waren hinten im Kofferraum gelandet. Tom schreckte auf meine Ansprache ein wenig zusammen, ging dann nach hinten, reichte mir die Krücken und begann, zusammen mit Michael das Auto auszuladen. Ich schlich langsam auf das Haus zu, da ich ohnehin nichts würde tragen können. Manchmal nervte es, sich so bedienen lassen zu müssen. Ich war so kaputt, dass ich immer wieder Pausen in meinem langsamen Gehen einlegte, dabei ließ ich meinen Blick über den Vordergarten schweifen. Er sah ordentlich und gepflegt aus, offenbar hatten Anja und Andreas sich gut gekümmert.

    Die eine Treppenstufe vor Toms Haustür war um eine Rampe ergänzt. Da käme ich allein hoch. Gerade wollte ich mich nach Tom umsehen, da war er neben mir.

    »Tom, wessen Idee war das denn? Wusstest du das?«

    Er nickte. Gemeinsam erklommen wir die Rampe. Vor der Haustür hielt Tom kurz inne, bevor er den Schlüssel aus der Hosentasche holte. Seine Hand zitterte leicht, als er den Schlüssel in das Schloss schob und öffnete. Plötzlich war Tom weg, nicht mehr neben mir, wie von seinem Elternhaus verschluckt, so schnell, dass ich ihm nur hinterher sehen konnte, wie er im Wohnzimmer verschwand.

    »Hey, Kathrin, geh schon rein. Ich bin schwer bepackt.«

    Michael war hinter mir mit Koffern und Taschen. Ich machte ihm Platz.

    »Wohin?«

    »Ach, lass es einfach im Flur stehen, wir sortieren uns dann schon.«

    »Komm, gehen wir einen Moment in die Küche?«

    Michael ging voraus, als würde er sich sehr gut in diesem Haus auskennen. Völlig erschöpft ließ ich mich auf einen der Küchenstühle fallen.

    Lachend öffnete Michael den Kühlschrank.

    »Schau, wir haben ihn euch sogar aufgefüllt. Mama und Papa hatten doch die Schlüssel. Mama hat hier immer wieder nach dem Rechten gesehen.«

    »Oh, lieb von euch.«

    »Naja, heute ist Sonntag, sonst hättet ihr erstmal auf dem Trockenen gesessen. Sag mal, wo ist eigentlich Tom?«

    »Ich weiß nicht genau, am ehesten im Wohnzimmer.«

    »Ich hole ihn mal«, Michael sagte es im Losgehen, »Tom? Kommst du auch in die Küche? Trinken wir noch etwas? Dann würde ich mich wieder aufmachen.«

    Sie kamen zusammen zurück. Tom gebärdete, mich im Blick zum Dolmetschen.

    »Holen wir erst die Sachen rein, dann können wir einen Tee machen oder etwas Kaltes?«

    »Okay. Also, ich nur ein Wasser.«

    »Holt ihr die Sachen, ich kümmere mich um die Getränke.«

    Es war schwierig, wieder hochzukommen, aber unbeobachtet nicht so schlimm. Tee und Wasser waren so weit, bis sie das Gepäck ins Haus verfrachtet hatten. Tom setzte sich zu mir, Michael uns gegenüber. Tom sah ihn an.

    »Danke, Michael. Fürs Abholen und Mitanpacken.«

    Ich übersetzte. Michael lächelte.

    »Gern geschehen, zum Ausgleich könntet ihr mal die Kinder hüten.«

    »Würde ich gerne machen, Michael. Wann kommt denn euer drittes? Ist es nicht bald so weit?«

    »Ein, zwei Wochen noch. Für die Geburt haben wir für die zwei Großen schon Mama und Papa gebucht. – Weißt du eigentlich, dass Jonathan heiratet?«

    Ich war erstaunt.

    »Nein, er hat nichts geschrieben.«

    Michael wurde etwas rot.

    »Oh, vielleicht noch ein Geheimnis, ich hab’s nicht verraten, okay?«

    »Alles klar, ich werde sehr erstaunt sein. Aber – wie schön, ich freue mich für ihn.«

    Mein mittlerer Bruder war schon eine ganze Weile mit seiner Freundin zusammen, sein Studium fast beendet.

    Tom strich mir vorsichtig über den Arm.

    »Können wir aufhören? Ich bin so müde. Oder ihr redet noch weiter und ich ziehe mich zurück.«

    »Michael, ich glaube, ich brauche jetzt eine Pause. Ich bin völlig erledigt nach dem Flug.«

    Michael hob kurz die Augenbrauen, ließ seinen Blick von mir zu Tom schweifen.

    »Alles klar. Dann lass ich euch mal. Meine Frau wartet auch auf mich. Also dann.«

    Er beugte sich zu mir herunter und gab mir einen Kuss.

    »Ciao, Tom«, damit verschwand Michael.

    Tom blieb regungslos am Küchentisch sitzen und starrte Löcher in die Luft.

    »Alles klar, Tom?«

    Da er nicht guckte, sprach ich. Er sah auf, zuckte ein wenig die Schultern.

    »Komisch, wieder hier zu sein.«

    »Schön?«

    »Ich weiß nicht. – Kommst du mit ins Wohnzimmer?«

    »Ich mag mich eigentlich nicht mehr bewegen, mir tut alles weh.«

    Er tat etwas, was er selten tat, er insistierte.

    »Bitte, komm kurz mit.«

    Ich warf ihm einen fragenden Blick, dann hebelte ich mich vom Küchenstuhl hoch und mühte mich über den Flur ins Wohnzimmer. Tom ging neben mir, zögerlich, fast noch langsamer als ich. In der Tür zum Wohnzimmer blieb er stehen, sah erst zum Flügel, dann Richtung Fotowand. Langsam lotste er mich darauf zu. Ich sah zu ihm hoch, sein Blick glitt über die Fotos, blieb hier und da hängen. Ich lehnte mich an ihn, widmete mich auch den Fotos und wartete. Er hatte sich nach all den Monaten nicht allein diesen Fotos stellen wollen. Nach einer Weile legte er den Arm um mich und schob mich zum Sofa, drückte mich regelrecht darauf nieder und ließ sich neben mich fallen. Er nahm schweigend meine Hand, seine war verschwitzt und ein wenig zittrig. Er hatte seit vor der Feier vor zwei Tagen nichts gegessen.

    Ich drückte seine Hand, damit er mich ansah.

    »Tom, du musst etwas essen. Nicht, dass du noch umkippst.«

    »Ich … es geht jetzt nicht.«

    »Der Kühlschrank ist voll. Meine Mutter hat ihn zu unserer Ankunft aufgefüllt. Geh doch mal gucken.«

    »Nein, lass uns erst schlafen. Danach versuche ich es, okay?«

    »Okay, danach essen wir etwas zusammen.«

    Ich wusste kaum, wie ich es noch bis zum Bett schaffte. Meine Mutter hatte sogar die Betten bezogen, so dass wir nur noch hineinfallen mussten. Ich war lange schon nicht mehr so erleichtert gewesen, mich meiner Schienen entledigen zu können, inspizierte nur kurz die Druckstellen, die natürlich wieder entstanden waren. Ich schlief, kaum dass ich lag, ein, Tom neben mir.

    Stunden später, draußen war es schon dunkel, wachte ich von gedämpfter Klaviermusik wieder auf. Ich blieb noch ein wenig liegen und genoss es. Schade, dass man nicht ewig so liegen bleiben konnte. Ich begann über das Aufstehen nachzudenken, Schienen oder Rollstuhl? Mein Blick glitt durch das Zimmer, unser neues Schlafzimmer in Toms Haus. Tom hatte mir alles bereitgestellt. Sowohl mein Rollstuhl als auch Schienen und Krücken lagen in griffbereiter Nähe beim Bett. Auch Jogginghose und T-Shirt hatte er hingelegt. Wie lieb, er dachte immer daran. Ich setzte mich auf, untersuchte die Druckstellen an meinen Beinen, die mir klar signalisierten, dass der Rollstuhl die bessere Idee war. Ich ließ die Schienen Schienen sein, zog die Jogginghose über meine schlappen, schienenlosen Beine und hievte mich in Strumpfsocken hinüber in den Rollstuhl. Ich hatte mich noch nie in Toms Haus in dem Ding bewegt, es passte aber erfreulicherweise durch alle Türen. Tom hatte unsere Schlafzimmer- und die Wohnzimmertür geschlossen, sicher um mich nicht mit seinem Klavierspiel zu wecken. Leise öffnete ich die Wohnzimmertür und konnte einmal ohne viel Mühe und deutlich lautloser als sonst, mich von hinten auf ihn zu bewegen. Tom saß in Gedanken versunken am Klavier und spielte eines seiner vielen eigenen, traurigen Stücke. Er sah kaum auf die Tasten, mehr aus dem Fenster hinaus in den Garten, in dem sich die ersten Frühlingszeichen regten. Als ich neben ihn rollte, sah er erschrocken auf und lächelte vorsichtig.

    »Hi, Tom. «

    »Hallo, Kathrin. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt. Ich konnte nicht widerstehen.«

    »Nein, war schön zu Klaviermusik aufzuwachen. «

    »Ich konnte nicht schlafen, bin gleich wieder aufgestanden.«

    »Du hast den Flügel sehr vermisst, oder?«

    »Ja.«

    »Spielst du noch ein wenig weiter?«

    Vorsichtiges Lächeln. Er löste das Pedal, das die Töne leise gemacht hatte und setzte seine Musik fort, sie füllte das Wohnzimmer, vertrieb die Stille. Ich fuhr noch einmal zu der Fotowand. Das Abiturfoto mit beiden Jungs in den gleichen Anzügen zwischen ihren Eltern. Michael mit einem strahlenden Lachen im Gesicht, sein Vater hatte ihm jovial den Arm um die Schultern gelegt und strahlte ebenfalls in die Kamera. Tom daneben, dünner als sein Bruder, und ernster, er guckte nicht direkt in die Kamera, suchte den Blick seiner Mutter wie sie seinen. Wie ähnlich dieser Blick war.

    Immer wieder Fotos von Michael mit seinem Vater, einmal war er vielleicht fünf und saß auf einem Pony, sein Vater stand daneben, sie lachten in die Kamera.

    Michael und Tom, noch relativ klein, beide auf dem Fußboden ins Legospiel vertieft, Michael sah auf in die Kamera, Tom war nur mit seinem Bauwerk beschäftigt.

    Die Jungen als Jugendliche mit einem Pokal zwischen sich in der Hand, in der anderen beide einen Tennisschläger.

    Klassenfoto, etwa achte Klasse. Tom und Michael nebeneinander. Ich entdeckte auch meinen Bruder, der neben Toms Bruder stand, sie hatten die Köpfe zusammengesteckt, achteten nicht auf den Fotografen und diskutierten etwas. Tom starrte in die Kamera.

    Das Hochzeitsfoto von Toms Eltern. Sie eine hübsche zierliche Frau mit aufgesteckten, dunklen, langen Haaren, er hoch aufragend daneben, so groß wie Tom heute und sehr viel Ähnlichkeit zu ihm, nur war sein Vater kompakter, nicht so mager und er hatte diesen anderen Ausdruck im Gesicht, sein Gesicht, sonnengebräunt, entspannt lachend.

    Es gab auch ein Bild, auf dem seine Mutter den vielleicht vierjährigen Tom mit irgendeinem Brei fütterte, Tom war nur mit dem Essen beschäftigt, seine Mutter lächelte vorsichtig triumphierend in die Kamera.

    Die Musik hatte aufgehört, Tom kam von hinten auf mich zu und legte seine Arme um mich. Ich sah zu ihm auf, wies dann auf das letzte Foto, das relativ weit unten an der Fotowand hing.

    »Das hatte ich noch gar nicht entdeckt. Andere Perspektive im Sitzen.«

    Tom beugte sich herunter.

    »Mein erster Brei – dokumentiert. Sie haben immer wieder erzählt, wie glücklich sie waren, als sie mich auch endlich wie ein normales Kind füttern und essen lassen konnten.«

    »Apropos, essen … «

    »Ja, ich weiß, ich habe es versprochen. Aber warte, erst kurz noch etwas anderes.«

    Weg war er, ich rollte neben einen der Sessel. Tom kam mit seinem Handy zurück und setzte sich zu mir, machte eine Nachricht auf und reichte es mir.

    »Was, Tom?«

    »Lies!«

    »Dein Handy? Deine Nachrichten?«

    Er verdrehte die Augen.

    »Ist von deinem Vater, mach schon.«

    Ich las.

    Hallo Tom. Ich habe Kathrin nicht erreicht. Seid ihr gut angekommen?

    Ja. Kathrin schläft.

    Oh, gut. Wir wollten euch heute Abend zum Essen einladen, sind sehr gespannt von euch zu hören, wie es euch ergangen ist.

    Morgen? Kathrin allein?

    Ich bespreche es gerade mit meiner Frau wegen morgen. Warte.

    Also gut, morgen zum Kaffeetrinken, meine Frau hat ohnehin frei und ich bekomme das auch organisiert. Aber wir würden euch sehr gerne beide zusammen einladen. Magst du nicht mitkommen?

    Hier gab es einen kleinen Uhrzeitensprung, eine Pause von wenigen Minuten. Tom hatte sicher nachgedacht, was er antworten soll, schließlich hatte er geschrieben.

    Doch. Wieviel Uhr?

    15 Uhr?

    Ja, bis morgen.

    Toms minimalistischer Telegrammstil, jahrelang beim Blockschreiben trainiert. Ich reichte Tom das Handy zurück.

    »Ich rufe sie nachher an.«

    Er sah mich an, einen Zweifel im Blick.

    »Ist es wirklich okay, wenn ich mitkomme? Wollt ihr nicht einmal unter euch sein?«

    »Nein, Tom. Alles gut. Mein Vater hat doch explizit geschrieben, dass wir beide kommen sollen. Möchtest du nicht mitkommen?«

    »Ich weiß nicht.«

    »Ich würde mich sehr freuen. Meine Eltern sicher auch. Außerdem käme ich mir komisch vor, ganz allein von unseren Boston Erlebnissen zu erzählen.«

    »Okay.«

    Er sah nicht glücklich aus.

    »Morgen ist morgen. Erstmal ist heute. Essen wir etwas?«

    Er stöhnte lautlos.

    »Muss wohl sein.«

    Wir begaben uns in die Küche und Tom reichte mir alles Mögliche aus dem Kühlschrank herüber und machte einen Tee.

    Ich merkte erst jetzt, wie hungrig ich war und machte mich über Brot und Aufschnitt her. Tom nippte zunächst nur an seinem Tee.

    »Tom, wann hast du zuletzt gegessen? Vor der Feier?«

    »Ja.«

    »Wie hältst du es nur so lange aus?«

    Er zog die Stirn kraus.

    »Notgedrungen, alles Training.«

    Dann griff er zu einem Joghurt und begann ihn langsam zu löffeln. Ich atmete innerlich auf und aß etwas entspannter weiter.

    Am nächsten Morgen war Tom so vernünftig, sich Sondenkost zu organisieren. Es war weiterhin ein wohl gehütetes Geheimnis, so dass meine Eltern nichts hatten vorbereiten können. Ich wollte eigentlich ein wenig aufräumen, aber Tom war schon wieder schneller gewesen und hatte alles ausgeräumt, als ich noch schlief. Meine Beine waren weiterhin verziert von den großen roten Druckstellen, wie Brandmarken. Also wieder ein Rollstuhlvormittag, heute Nachmittag wollte ich meinen Eltern auf zwei Beinen entgegentreten. Es fühlte sich irgendwie merkwürdig an, in Toms Haus allein zu sein. Anders als in meiner Wohnung. Ich beschloss, das komische Gefühl mit meiner Geige zu vertreiben. Ich stellte den Notenständer so, dass ich über dessen Rand in den grünenden Garten sehen konnte. Was für ein Ausblick. Ich spielte ein paar Stücke, die ich gut kannte, einfach so vor mich hin. Gerade war ich bei einem der zahlreichen Duette, als sich aus dem Hintergrund die zweite Stimme dazu spann. Erschrocken sah ich auf.

    »Andreas! Ich dachte, ihr kommt erst heute Abend?«

    Er lachte über das ganze Gesicht.

    »Wir sind die ganze Nacht durchgefahren, ich habe mich so auf dich gefreut.«

    Er beugte sich herunter und wir versanken in einem langen, intensiven Kuss. Er zog sich einen Stuhl heran, landete so neben mir und spielte einfach weiter. Ich grinste und stimmte mit ein. Wunderschön …

    Zwischen zwei Stücken setzte Andreas kurz ab und musterte mich von der Seite.

    »Warum bist du im Rollstuhl? Ist etwas passiert?«

    Er fragte es ganz natürlich.

    »Nein, alles gut. Ich habe nur Druckstellen nach dem langen Flug. Ich muss mich ein bisschen schonen.«

    Andreas guckte erstaunt, ich nahm den musikalischen Faden wieder auf, hatte keine große Lust, darüber zu sprechen. Wir spielten eine Weile, bis sich ein Schlüssel im Schloss der Haustür drehte. Andreas legte die Geige zur Seite und stand auf.

    »Das wird Tom sein, oder? Ich sage ihm hallo.«

    Schon war er weg aus dem Wohnzimmer auf dem Flur. Ich rollte hinterher.

    »Hi, Tom. Wir sind doch schon früher zurück«, Tom sah ihn nur an, einen Karton vor dem Bauch, »was hast du denn da? Gib mal her, ich helfe dir.«

    Die Hände besetzt warf Tom mir nur einen hilfesuchenden, fast panischen Blick zu. Ich schaltete mich ein.

    »Lass, Andreas. Ist nur der eine Karton. Tom bringt ihn nur schnell in die Küche. Gehen wir alle ins Wohnzimmer?«

    Andreas warf mir einen verwirrten Blick zu, ließ aber von Tom ab.

    »Wenn ich Sie unterstützen darf, junge Dame … «, damit schob er mich zurück ins Wohnzimmer. Wir bewegten uns zu der Sitzgruppe.

    »Sag mal, ist es nicht blöd, in dem Ding zu sitzen? Willst du nicht mit auf das Sofa? Ich helfe dir.«

    »Nein, lass mal. Im Moment ist es gut so, ganz beweglich und eigenständig.«

    Andreas ließ sich auf das Sofa fallen.

    »Warum nutzt du den Rolli eigentlich nicht häufiger? Wäre doch oft einfacher, oder? Du müsstest dich nicht immer wieder mühsam hochstemmen aus dem Sitzen und dann auf jeden Schritt achten. Es wäre nicht so anstrengend und schneller bist du auch.«

    Er saß neben mir auf der Sofakante, seine Hand auf meinem Knie, er fragte vorsichtig, liebevoll.

    »Ich weiß es auch nicht so genau, Andreas. Ich mag nicht, wenn alle mit ihren Gesichtern einen Meter über mir sind und ich zu ihnen hochgucken muss. Und – ich habe Angst, das Laufen ganz zu verlernen, wenn ich mich an den Luxus des Rollstuhls gewöhne. War früher der ewige Spruch meiner Mutter.«

    »Eltern … Sie fordern und fördern. Aber kann deine Mutter wirklich wissen, was gut für dich ist?«

    »Sie meint, es ziemlich genau zu wissen. Nein, kann sie nicht. Mein Vater schon eher, aber nicht einmal er versteht es ganz genau.«

    »Meine Eltern haben alles versucht, mich davon abzuhalten, Musik zu studieren – es sei eine brotlose Kunst … «

    »Wie kann das sein, Andreas? Du bist so gut. Natürlich ist es ein harter Bereich, wo man sich nie zurücklehnen kann, immer viel arbeiten muss. Aber für dich ist es doch genau deins, oder?«

    »Ja. Ich habe mich ja durchgesetzt.«

    »Hast du nur noch dieses Semester?«

    »Ja, nächstes sind die Abschlussprüfungen.«

    »Und dann?«

    »Mal sehen. Wird von meinen Noten abhängen«, er grinste, »denen in den Prüfungen natürlich. Vielleicht suche ich mir erstmal ein gutes Orchester. Eine sichere Startbasis sozusagen.«

    Ich sah ihn von der Seite an, spielte mit seiner Hand auf meinem Knie.

    »Dann wird es ziemlich sicher nicht Lübeck bleiben, oder?«

    »Ja. Vielleicht klappt ja Hamburg, dann könnten wir hier wohnen bleiben.«

    »Aber nicht nur für mich, Andreas. Nimm da keine falsche Rücksicht bitte.«

    Er sah mich voll an.

    »Nein, Kathrin. Viel mehr für mich. Auch für Anja. Sie … kommt allein nicht klar, die letzten Wochen haben das wieder gezeigt. Sie hing total drin. Wenn ich weiter wegginge, müsste ich sie mitnehmen, sonst passiert noch etwas.«

    »Sonst passiert noch etwas?«

    Andreas sah mich lange an.

    »Sie hat es schon mehrmals versucht, Kathrin.«

    Ich war nicht sicher, was er meinte, konnte es nicht lassen, weiter zu fragen: »Was versucht, Andreas?«

    »Sich umzubringen.«

    In dem Moment stand Tom in der Tür, er hatte die letzten Worte gehört und sah Andreas entsetzt an. Auch in mir arbeitete es, Tom blieb unsicher in der Tür stehen.

    Andreas sah zu ihm: »Komm her, Tom. Setz dich doch zu uns.«

    Langsam kam er näher, Andreas immer fest im Blick, ließ er sich langsam auf einen der Sessel nieder.

    »Entschuldige, Tom. Das war nicht für dich gedacht. Eigentlich etwas Privates zwischen Kathrin und mir. Wahrscheinlich ist es Anja schon nicht recht, dass ich Kathrin eingeweiht habe. Aber ich muss es irgendwo loswerden, mit jemandem reden können.«

    Tom sah Andreas mit hochgezogenen Augenbrauen an.

    »Ich schweige sowieso, keine Sorge.«

    Ich übersetzte. Andreas quittierte den Satz mit einem nachdenklichen Nicken.

    »Wo ist Anja eigentlich?«

    »Oben. Sie hat sich mal wieder in ein dunkles Zimmer gesperrt. Ich … brauchte eine Pause. Da bin ich runter zu dir. Tom, ich hoffe, das ist okay. Mag eigentlich nicht einfach hier bei euch eindringen.«

    Tom winkte nur ab.

    »Andreas, ich würde gerne zu Anja hochgehen. Nur diese blöde Treppe … «

    Eben noch ernst, zwinkerte Andreas plötzlich Tom zu, der sich auch ein Grinsen kaum verkneifen konnte.

    »Hast du es noch gar nicht gesehen, Kathrin?«

    »Nein, was denn?«

    Das Grinsen auf den beiden Gesichtern wurde immer größer.

    »Komm mit.«

    Andreas ging voraus zur Haustür, Tom und ich hinterher.

    »Komm, die Rampe runter, so im Rolli können wir es gleich richtig austesten.«

    »Sagt mal, Jungs, was ist denn los?«

    »Überraschung!« – »Überraschung!«

    Die zwei sagten und gebärdeten es zugleich, sahen sich an und lachten. Ich fuhr die Rampe hinunter.

    »Nach rechts, bitte.«

    Ich fuhr nach rechts an der Hauswand entlang, dort kam so etwas wie ein Anbau, ich hatte es gestern vor lauter Müdigkeit nicht wahrgenommen.

    »Ein Fahrstuhl? Ihr seid verrückt! Wer hat denn dafür gesorgt? Wer hat das bezahlt?«

    Tom kam herum und hockte sich zu mir nieder.

    »Andreas und ich haben es per E-Mail gemeinsam geplant, dein Vater war auch eine große Hilfe. Bezahlt? Sagen wir mal, jeder hat etwas dazu beigetragen.«

    Ich vergaß vor lauter Staunen zu übersetzen, aber Andreas würde sowieso wissen, was Tom da erzählte. Ich orderte den Fahrstuhl und zu dritt weihten wir ihn gemeinsam ein. Was für ein Luxus. Fast automatisch und ohne jede Anstrengung für mich landeten wir im oberen Stockwerk.

    »Super, ich kann mir einfach angucken, wie ihr euch hier oben eingerichtet habt.«

    Wir fuhren durch alle Zimmer, es war ganz anders als zuvor. Kaum wieder zu erkennen, auch Tom hatte es noch nicht gesehen. Er lief langsam neben mir. Ließ seinen Blick schweifen und schwieg. Aus seiner Miene war nicht zu entnehmen, ob es ihm gefiel. Schließlich landeten wir vor Anjas geschlossener Zimmertür, dem eigentlichen Zweck unseres Enterns der ersten Etage. Andreas seufzte, er klopfte vorsichtig an.

    »Anja? Ich bin hier, zusammen mit Kathrin und Tom. Dürfen wir reinkommen?«

    Als sich drinnen so gar nichts regte, öffnete er die Tür einen Spaltbreit und lugte hinein. Kein Licht drang aus dem Zimmer, die Vorhänge waren zugezogen. Keine Antwort von Anja, also öffnete Andreas die Tür und ging hinein. Das Licht auf dem Flur drang durch die Türöffnung, ich sah Anja zusammengekauert auf ihrem Bett liegen. Andreas steuerte auf sie zu, ließ sich auf die Bettkante nieder.

    »Anja? Willst du Tom und Kathrin nicht wenigstens hallo sagen?«

    Sie tauchte auf, mit verwuschelten Haaren starrte sie uns mit einem leeren Blick an. Erschrocken sah ich zu ihr, noch nie hatte ich sie so gesehen. Vorsichtig rollte ich zu Anja in das Zimmer.

    »Hallo, Anja.«

    »Lasst mich in Ruhe.«

    Damit legte sie sich hin, zusammengekauert kehrte sie uns den Rücken zu. Andreas brauste auf.

    »Mann, Anja, kannst du dich nicht wenigstens etwas zusammenreißen, wenn auch andere da sind?«

    »Sie sollen weggehen«, es klang gedämpft, sie sprach durch ein an ihr Gesicht gedrücktes Kissen, »bitte, geht weg. Ihr sollt mich so nicht sehen.«

    Es klang flehentlich, Andreas erhob sich seufzend, zuckte die Schultern und verließ an Tom und mir vorbei das Zimmer, er hatte Tränen in den Augen. Tom war neben mir, hatte das Zimmer mit seinem Blick umrissen und näherte sich langsam dem CD-Player. Obenauf lag das Rachmaninow Klavier-Konzert, er griff zur CD und legte sie ein. Zu den leisen Klängen der Musik hockte er sich schweigend zu Anja auf die Bettkante und strich vorsichtig über ihren Rücken. Er warf mir einen Blick zu, gebärdete klein und leise.

    »Geh ruhig zu Andreas. Ich bleibe ein wenig hier.«

    Ich rollte aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter mir.

    »Andreas? Wo bist du?«

    Er steckte den Kopf aus seinem Zimmer und ich fuhr zu ihm. Er setzte sich auf sein Bett, das Gesicht in den Händen vergraben, die Tränen tropften durch seine Hände auf den Fußboden. Irgendwann sah er mit tränennassem Gesicht auf.

    »Ich halte das nicht mehr aus, Kathrin. So schlimm war es schon lange nicht mehr.«

    »Ist sie in Therapie, Andreas? Nimmt sie Medikamente?«

    »Therapien hat sie viele hinter sich, vielleicht zu viele. Ja, sie nimmt Medikamente, oft helfen sie auch ganz gut, aber manchmal fällt sie in ein ganz tiefes Loch. Ich komme im Moment gar nicht an sie heran, sie ist so weit weg, mit sich allein. Kommt nicht zur Ruhe, kann nicht einmal weinen, schläft kaum … «

    »Ich … wusste es gar nicht, Andreas. Ich kenne Anja jetzt ja eigentlich schon relativ lange. Noch nie habe ich sie so gesehen.«

    »Sie kann sich in der Öffentlichkeit sehr gut zusammenreißen, sich verstellen. Wenn es gar nicht geht, ist sie eben ein paar Tage krank, Grippe, Migräne, sonst eine Entschuldigung. Das müsstest du auch erinnern.«

    »Ja, das stimmt, immer mal wieder. Ich habe nie darüber nachgedacht. Was sagen eure Eltern dazu?«

    »Sie wissen es nicht, Kathrin. Wir haben es immer geheim gehalten, meinen Eltern geht es auch so schon schlecht genug, seit mein Bruder gestorben ist, sie verkraften nicht mehr.«

    »Das heißt, du bist der Einzige, der von Anjas Nöten weiß?«

    »Ja. Außer die Psychiater, zu denen ich sie immer wieder geschleppt habe. Im Moment – ich kann einfach nicht mehr. Ich ertrage es nicht. Ich möchte so gerne, dass es ihr gut geht. Ich möchte ein normales, gesundes Leben für sie, für mich … «

    Ich rollte ganz nah an das Bett heran.

    »Hilfst du mir rüber, Andreas?«

    Er lächelte ein wenig unter seinen Tränen.

    »Nichts lieber als das.«

    Er trug mich hinüber auf das Bett, nahm mich in den Arm und schmiegte sich an mich. Sein Gesicht in meinem Pulli vergraben, weinte er sich aus. Ich strich über seinen Kopf wie bei einem kleinen Kind. Irgendwann wurde er ruhiger.

    »Entschuldige, Kathrin. Ich wollte dich eigentlich nicht so begrüßen.«

    »Du hast mich doch vorhin mit deiner Geige begrüßt, schon vergessen?«

    »Ich … bin weggelaufen, habe mich davongestohlen.«

    »Es ist doch okay, wenn man mal nicht mehr kann. Passiert uns doch allen.«

    Er setzte sich auf, zog auch mich hoch. Wir saßen mit dem Rücken an der Wand aneinander gelehnt.

    »Wir waren nochmal spontan im Urlaub, manchmal hilft ihr das, wenn es ihr so schlecht geht. Diesmal war es eine Katastrophe. Wir hätten auch gleich hierbleiben können, Anja hat sich ohnehin nur im Zimmer verschanzt. Ich … musste nach Hause heute. Bin ich froh, dass ihr da seid und ich nicht mehr allein mit ihr bin. Ich habe solche Angst um sie. Was mache ich, wenn … «, er stockte.

    »Wenn …?«

    »Wenn sie es irgendwann schafft? Und ich ganz allein zurückbleibe.«

    »Aber Andreas, das wird nicht passieren. Wir können zusammen auf sie aufpassen. Anja hat doch auch viele ganz stabile Phasen, oder?«

    »Hm.«

    »Weißt du, warum es gerade jetzt so schlimm ist? Hat es etwas mit Tom und mir zu tun? Hat Anja zusätzlich Angst wegen des Vierers?«

    »Das glaube ich nicht, trotz unseres komischen Urlaubs im Schnee. Anja und ich hoffen sehr auf euch. Wir glauben beide, dass es uns zu viert besser geht, als wenn wir auf Dauer zu zweit bleiben. Wir können uns nur bedingt gegenseitig stützen. Nein, bald jährt sich der Todestag. Uns kommen dann immer diese furchtbaren letzten Wochen und Tage im Leben unseres kleinen Bruders wieder hoch. Er hat sich ziemlich gequält, bis er endlich gehen konnte.«

    Es klopfte vorsichtig. Tom sah durch die Tür.

    »Tom?«

    »Sie schläft.«

    Ich brauchte gar nicht zu dolmetschen, Andreas verstand die Geste auch so.

    »Sie schläft? So richtig?«

    Tom nickte. Andreas warf Tom ein erstauntes Lächeln zu.

    »Wie hast du das geschafft? Anja hat seit Wochen praktisch gar nicht geschlafen. Danke!«

    Am Nachmittag waren wir bei meinen Eltern. Ich hatte mir die Schienen angeschnallt, die dort, wo ich es spüren konnte, ziemlich drückten und war mit dem Auto gefahren. Tom, wie immer, auf seinem Fahrrad. Vor dem Haus meiner Eltern die unsinnigen drei Stufen, wieder dachte ich darüber nach, wie mein Vater als Architekt für barrierefreie Bauten in diesem Haus wohnen konnte. Zusammen mit Tom mühte ich mich die Stufen hoch – Boston hatte derer wirklich erstaunlich wenige gehabt.

    »Tom, ich bin nach dem Luxus in Boston wirklich komplett aus dem Training.«

    Er grinste zur Antwort, dann klingelten wir. Ausnahmsweise öffnete mein Vater die Tür – im Rollstuhl. Ich zuckte kurz zurück.

    »Hallo, Paps. Du – hast ja gar nicht gesagt, dass … «

    Er lächelte.

    »Hallo Kleines, hallo Tom. Ich wollte euch nicht beunruhigen. Hat aber auch seine Vorteile, bin schneller an der Haustür.«

    Meine Mutter stieß von hinten dazu, sie strahlte.

    »Hallo, ihr zwei, kommt doch rein.«

    Schneller als ich gucken konnte, hatte sie mich im Arm, ein wenig länger und fester als sonst. Ich sog den mir so gut bekannten Duft ein und schluckte ein wenig, wie hatte ich sie vermisst …

    »Tom, lass dich auch in den Arm nehmen. Schön, dass ihr wieder da seid.«

    Tom ließ die Umarmung über sich ergehen, legte kurz einen Arm um meine Mutter und machte sich wieder frei.

    Im Wohnzimmer war der Kaffeetisch schon gedeckt. Kuchen, Kekse, Blumen, Kaffee und Tee, es war ein bisschen feierlich.

    »Setzt euch doch.«

    Ich ließ mich so mühsam wie immer auf meinen Stuhl sinken, mein Vater rollte an den Tisch heran, sein Stuhl stand in einer Ecke des Wohnzimmers. Meine Mutter flatterte um uns herum.

    »Kaffee? Tee?«

    »Wir nehmen Tee, Mama.«

    »Kuchen?«

    Tom sah versonnen den Kuchen an.

    »Käsekuchen … Hat meine Mutter auch immer gemacht.«

    Es war an meine Mutter gerichtet, ich übersetzte, sie lachte.

    »Ich weiß. Es ist, glaube ich, sogar das gleiche Rezept. Wir haben damals so viele gemeinsame Kaffeetrinken gehabt. Möchtest du ein Stück, Tom?«

    Er nickte langsam. Ich hoffte, meine Mutter würde es mit der Größe des Stücks nicht allzu gut meinen. Sie war geschickt und schnitt ihm nur ein kleines ab.

    »Du auch, Kathrin?«

    »Klar.«

    Dann tauchten wir zwischen Kaffee, Tee und Kuchen in unsere Unterhaltung ein. Wie war es uns in Boston, wie meinen Eltern in den letzten Monaten ergangen. Ich versuchte, beim Erzählen über Boston Tom im Blick zu haben, ob ich in seinem Sinne redete, aber er war mit der Eroberung seines Käsekuchens vollauf beschäftigt und hörte nicht zu. Er brauchte vielleicht eine halbe Stunde, aber er bewältigte das ganze Stück, schob schließlich mit einem zufriedenen Lächeln den Teller zur Seite und nahm auf seine Art am Gespräch teil. Er hörte zu, was ich, was wir erzählten. Ich war gerade bei Orchester und Jazzgeschichten gelandet, Tom hörte und sah mir aufmerksam zu, sein Gesicht voller Zustimmung zu meiner Darstellung der Geschichten. Ich warf ihm immer mal wieder einen Blick zu, ob er selbst erzählen wolle, aber er hielt sich wie so oft zurück.

    Es war mein Vater, der versuchte, Tom direkt einzubinden.

    »Sag mal, Tom, hat dein Vater da drüben nicht auch Musik gemacht? Hat er nicht dort seine ersten Versuche im Jazz gehabt?«

    Tom nickte.

    »Wart mal«, damit rollte mein Vater vom Tisch auf sein großes CD-Regal zu, »ich glaube, ich habe sogar noch eine CD von der Gruppe, mit der er gespielt hat, von damals. Weißt du noch, Inge, dass wir zusammen im Konzert waren?«

    »Ja, sie haben wahnsinnig gute Musik gemacht. Ich erinnere mich auch. Ich saß zusammen mit deiner Mutter im Zuschauerraum und wir haben diskutiert, welcher dieser schwarzen Männer uns am attraktivsten erschien.«

    Mein Vater kam zurück, auf Tom zu und reichte ihm eine CD. Tom und ich kannten sie schon. Tom starrte einen Moment auf das Cover, reichte sie ohne einen weiteren Kommentar an meinen Vater zurück.

    »Ich kann sie einlegen.«

    Tom schüttelte sachte den Kopf, bedeutete meinem Vater zu warten, ging auf den Flur und kam mit seinem Rucksack zurück. Er zog ein grünes Päckchen im CD-Format hervor und reichte es meinem Vater.

    »Für mich? Für uns?«

    Tom nickte. Mein Vater entflocht die CD aus dem Papier, dabei ebenso ungeduldig wie ich immer. Es lockte Tom ein Grinsen hervor, er zwinkerte mir zu. Mein Vater guckte überrascht auf das Cover.

    »Das gibt’s doch nicht. Du hast … Sind das wirklich die gleichen Typen wie damals mit deinem Vater? Vor dreißig Jahren?«

    Zustimmendes Nicken.

    »Aber sag mal, wie hast du sie denn gefunden?«

    Tom warf mir einen bittenden Blick zu, ich war ein wenig traurig, dass er nicht selbst erzählen wollte, gab aber die Story zum Besten.

    »Was für eine verrückte Geschichte. Also gut, dann legen wir wohl die neue CD ein.«

    Meine Mutter nahm es meinem Vater ab und bald füllte der mir so wohl bekannte Jazz das Wohnzimmer meiner Eltern. Eine Weile hörten wir einfach zu, meine Mutter begann im

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