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Die zwei Schwestern von Borneo: Ein Ava-Lee-Roman
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eBook361 Seiten4 Stunden

Die zwei Schwestern von Borneo: Ein Ava-Lee-Roman

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Über dieses E-Book

Ava Lee, charismatisch, clever und tough, ist in der Welt des großen Geldes zu Hause. Die chinesisch-kanadische Wirtschaftsprüferin ist darauf spezialisiert, veruntreutes Vermögen wiederzubeschaffen. Diesmal ist sie in eigener Sache unterwegs: Der von ihr, May Ling Wong und Amanda Yee gegründeten Investmentgesellschaft "The Three Sisters" droht ein Riesenverlust, kaum haben sie Millionen in eine Möbelfabrik im Besitz zweier Schwestern auf Borneo gesteckt. Ava Lee versucht die Hintergründe einer mysteriösen Insolvenz aufzudecken und gerät schon bald in große Gefahr …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. März 2021
ISBN9783959172196
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    Buchvorschau

    Die zwei Schwestern von Borneo - Ian Hamilton

    36

    1

    ALS SIE MAY LING WONG allein am Eingangsportal der Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis stehen sah, ahnte Ava Lee sofort, dass etwas nicht stimmte.

    Es war der zweite Samstag im Januar, und der Himmel war bewölkt. Es war kalt und feucht, typisch für einen Wintertag in Hongkong. Ava saß in einem Bentley mit Amanda Yee – der Braut und ihrer zukünftigen Schwägerin – und drei Brautjungfern, als sie May Ling entdeckte. Amanda war im Begriff, Avas Halbbruder Michael zu heiraten, und Ava war ihre Trauzeugin. Sie waren von Sha Tin hergefahren, der Stadt in den New Territories, in der Amandas Eltern lebten.

    Die fünf Frauen waren seit sechs Uhr früh auf, um von den teuersten Haarstylistinnen und Make-up-Artists Hongkongs frisiert und geschminkt und schließlich angekleidet zu werden. Ava hatte sich dagegen verwahrt, dass ihr schulterlanges schwarzes Haar zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur gestylt und gesprayt wurde. Sie hatte sich geweigert, ihr Gesicht mit Foundation und Puder zukleistern zu lassen. Doch sie hatte keine andere Wahl gehabt, als das glänzende lavendelfarbene Seidengewand anzuziehen, das Amanda für ihre Brautbegleiterinnen ausgewählt hatte. Das enge trägerlose Kleid ging ihr bis über die Knie und gab ihr das Gefühl, in buntes Plastik gehüllt zu sein.

    Ava war Mitte dreißig, und dennoch war dies erst die dritte Hochzeit, an der sie teilnahm. Die erste war die Hochzeit ihrer älteren Schwester Marian gewesen, die einen gweilo Beamten namens Bruce geheiratet hatte. Im vergangenen August hatte Mimi, ihre beste Freundin, Avas besten Freund und gelegentlichen Arbeitskollegen Derek Liang in der Toronto City Hall in Anwesenheit von zehn FreundInnen und Familienmitgliedern geheiratet. Mimi war von Derek schwanger, und die Hochzeit war kaum mehr als eine Formalität gewesen. Sie hatten ihr gemeinsames Leben längst begonnen und waren kürzlich in ein Haus in Leaside gezogen, einer von Torontos wohlhabenderen Gegenden. Im Anschluss an die Zeremonie hatte Derek sie alle in ein nahegelegenes chinesisches Restaurant eingeladen. Im Kontrast dazu würde diese Hochzeit in Hongkong nach Prunk und Pracht der Kathedrale bei einem achtgängigen Festmahl im Ballsaal des Grand Hyatt fortgesetzt werden.

    Als die Limousine vor der Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis vorfuhr, warteten bereits drei Fotografinnen und zwei Kameramänner auf die Braut und ihre Begleitdamen. Zwanzig oder dreißig der mehreren Hundert Hochzeitsgäste drängten sich auf dem Bürgersteig, um schnell noch eine Zigarette zu rauchen. May Ling stand ein wenig abseits. Sie trug ein maßgeschneidertes Chanel-Kostüm in Korallenrot und Blassgrün, dessen Rock bis knapp übers Knie reichte. Sie starrte vor sich hin, ihr Gesicht ausdruckslos, und lehnte mit dem Rücken an der grauen Kirchenmauer.

    »Da ist May«, sagte Ava an Amanda gewandt. »Sie wirkt ein wenig besorgt.«

    »Was?«, sagte Amanda, die damit beschäftigt war, die meterlange Schleppe ihres elfenbeinfarbenen Hochzeitskleides von Vera Wang zusammenzuraffen.

    »Ach nichts.« Ava hätte das Wort ›besorgt‹ nicht über die Lippen kommen sollen. Die Hochzeit mochte nach westlicher Manier in einer römisch-katholischen Kirche stattfinden, aber damit war nicht aller chinesischer Aberglaube außer Kraft gesetzt. Allein schon ein negatives Wort – von einer Tat ganz zu schweigen – mochte die Macht haben, das Brautpaar mit einem Fluch zu belegen. Zu Avas Aufgaben als erste Brautjungfer gehörte es, dafür zu sorgen, dass Amanda unbehelligt in ihrer Glücksblase geborgen war.

    Als Ava aus der Limousine stieg, trat May Ling einen Schritt vor und winkte. Sie lächelte, aber ihre Stirn war gerunzelt und ihr Lächeln flüchtig.

    Amanda glitt aus dem Wagen, posierte für die Kameras und wurde dann für weitere Fotos von ihren Brautdamen umringt. Der Plan sah vor, dass diese sie zu einem kleinen Raum gleich hinter dem Haupteingang geleiten würden, wo Amanda ein allerletztes Mal ihr Aussehen überprüfen und sich auf den Gang zum Traualtar vorbereiten konnte. Als die Brautgesellschaft sich auf den Weg in die Kirche machte, trat Ava neben Amanda.

    »Wir haben noch ungefähr zwanzig Minuten, bevor die Zeremonie beginnt«, sagte Ava. »Ich werde kurz mit May Ling sprechen und mich dann drinnen wieder zu dir gesellen.«

    »Wo ist May?«

    »Dort drüben«, antwortete Ava, wies hinüber und merkte zu ihrer Erleichterung, dass Amanda ihrer vorherigen Bemerkung keine weitere Beachtung beimaß.

    Amanda warf einen Blick in Richtung May. »Ich bin erstaunt, dass sie hier ist.«

    »Warum?«

    »Sie hat mich vor ein paar Tagen angerufen und gesagt, dass sie es vielleicht nicht schafft.«

    »Warum nicht?«

    »Das hat sie nicht gesagt. Sie hat nur gemeint, sie müsse sich um einige Probleme in Wuhan kümmern.«

    »Nun, sie ist hier, also haben sich die Probleme vermutlich erledigt. Du gehst jetzt besser hinein.«

    »Bleib nicht zu lange weg. Ich bin nervöser, als ich gedacht hätte«, sagte Amanda.

    »Ich bin gleich wieder bei dir.«

    Ava wandte sich ab und ging zu May Ling hinüber. Die beiden Frauen hatten sich im Jahr zuvor kennengelernt, als May und ihr Mann Changxing Ava und Onkel, ihren Partner, engagiert hatten, um einige Millionen Dollar, die das Ehepaar beim Kauf gefälschter Kunstwerke verloren hatte, aufzuspüren und zurückzuholen. Ava und Onkel waren damals auf dem Gebiet der Schuldeneintreibung tätig gewesen. Kurze Zeit später war May Ava in einem Fall, der Avas Familie – insbesondere ihren Halbbruder Michael – betraf, zu Hilfe gekommen, und die beiden Frauen hatten Freundschaft geschlossen.

    May trat einen Schritt vor und breitete die Arme aus. Ava glitt hinein, und die beiden Frauen umarmten sich.

    »Du siehst absolut fantastisch aus!«, sagte May.

    »Ich habe den gestrigen Abend und den heutigen Morgen mit Amanda und ihren Freundinnen verbracht, die alle in den Zwanzigern sind. Seitdem fühle ich mich alt und keineswegs fantastisch.«

    »Du bist auch erst Anfang dreißig. Ich bin Mitte vierzig – stell dir vor, wie ich mich fühle!«

    »May, die Männer lieben dich«, erwiderte Ava.

    »Changxing jedenfalls.«

    Ava trat einen Schritt zurück. May war so groß wie sie – eins sechzig – und wog vielleicht fünf Pfund weniger. Sie war sehr schlank, feingliedrig und hatte, genau wie Ava, üppige Brüste, die zu zeigen sie sich nicht scheute. Ihr Haar war glatt und zu einem modischen Bob geschnitten. Ihre zarte Erscheinung mochte Verletzlichkeit suggerieren, aber sie besaß einen scharfen Verstand und nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es drauf ankam. Sie konnte jedoch auch höchst charmant und dezent verführerisch sein. Onkel behauptete, Männer wären hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sie zu beschützen, und dem Wunsch, sie zu beeindrucken.

    »Wo ist Changxing?«, fragte Ava.

    »Er mag keine Hochzeiten, und er hasst Kirchen. Er verbringt den Nachmittag mit Onkel. Wir treffen uns nachher im Mandarin Oriental, um uns zum Abendessen umzuziehen.«

    »Onkel hat mir gegenüber gar nicht erwähnt, dass er sich mit Changxing trifft.«

    »Er hat Onkel heute Morgen angerufen, um zu hören, ob ihm der Besuch recht wäre. Onkel bejahte, obwohl ich Changxing gesagt habe, er hätte mit dir Rücksprache nehmen sollen.«

    »Ich bin weder Onkels Pflegerin noch seine Sekretärin, und er kann es nicht leiden, wenn ich mich wie das eine oder andere verhalte.«

    Onkel war genau wie Changxing und May Ling aus Wuhan in der Provinz Hubei in Zentralchina. Er war als junger Mann vor dem kommunistischen Regime geflohen. Nach seiner Ankunft in Hongkong war er in den Triaden aufgestiegen, bis er schließlich als Oberhaupt einer Triaden-Gesellschaft zurückgetreten war und sich auf Schuldeneintreibung spezialisiert hatte – ein Geschäft, in das Ava später eingestiegen war. Changxing betonte gern, dass er und Onkel gemeinsame Wurzeln hatten. Onkels Interesse an dem wohlhabenden Geschäftsmann, der als ›Kaiser von Hubei‹ bekannt war, gründete auf dessen guanxi, seinem Einfluss und seinen Verbindungen, und auf seiner Macht, Gefallen zu erweisen.

    Die Beziehung zwischen Ava und May Ling existierte unabhängig von der Verbindung zwischen den beiden Männern – ein Umstand, den Onkel guthieß. Obwohl es sich weder in Worten noch Taten nachweisen ließ, hatte Ava jedoch das Gefühl, dass Changxing Onkels Begeisterung für die zunehmend enge Freundschaft der Frauen nicht teilte, zumal diese noch gefestigt worden war, indem sie kürzlich ein gemeinsames Unternehmen gegründet hatten. Die drei Schwestern war der Name ihrer Investmentgesellschaft. May Ling und Ava waren die Hauptaktionärinnen und Amanda Minderheitsaktionärin. Amanda widmete sich der Investmentgesellschaft inzwischen in Vollzeit, May Ling teilte ihre Zeit zwischen dem neuen Unternehmen und ihren Geschäftsinteressen mit Changxing auf, und Ava engagierte sich, nachdem Onkel ihr seinen Segen erteilt hatte, ebenfalls auf dem neuen Betätigungsfeld.

    »Wie geht es Onkel?«, fragte May Ling leise.

    »So gut es die Umstände zulassen. Der Krebs hat sich vom Magen her auf weitere Organe ausgebreitet. Die Ärzte geben nicht gern Zeitprognosen ab, aber ich glaube nicht, dass ich noch lange in Hongkong gebraucht werde.«

    »Es sind jetzt vier Monate, nicht wahr?«

    »Es ist schon der fünfte. Allerdings geht es ihm besser, als ich für möglich gehalten hätte. An den meisten Tagen treffen wir uns morgens zum Congee essen, und, wenn sein Zustand es erlaubt, zum Abendessen irgendwo in Kowloon. Die Abendessen werden dieser Tage seltener – es gibt nur noch wenig, was sein Magen verträgt. Das macht ihn ärgerlich, und das tun nicht viele Dinge. Aber er scheint zu akzeptieren, was geschieht, und es gelingt uns, unser Beisammensein zu genießen und über andere Themen zu sprechen. Meine Mutter ist Anfang Dezember für zwei Wochen aus Toronto hergekommen. Das war ein Segen – als Unterstützung für mich und als Ablenkung für Onkel. Sie bringt ihn zum Lachen.«

    »Ava, hältst du Onkel bei diesen Gesprächen auf dem Laufenden, was unser Unternehmen angeht?«

    »In groben Zügen. Ich habe ihm erzählt, dass du und Amanda euch um alles kümmert, bis ich bereit bin, mich Vollzeit einzubringen.«

    »Gut.« May zögerte. Ihr Blick glitt an Ava vorbei zum Eingangsportal der Kirche. »Ich glaube, eine der Brautjungfern hält nach dir Ausschau.«

    Ava wandte sich um und sah Camille im Eingang der Kirche stehen. »Ich bin gleich da!«, rief sie ihr zu.

    »Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde die Situation befremdlich«, sagte May und betrachtete die Gäste, die nun allmählich in die Kirche gingen.

    »Was meinst du damit?« Ava war irritiert von Mays Bemerkung.

    »Entschuldige. Ich meine, dass du die Trauzeugin der Braut bist«, antwortete sie und schlug dann die Hand vor den Mund. »Ach, Ava, entschuldige noch mal. Ich wollte dich nicht kränken; es ist nur so, dass die Leute reden.«

    »Ich weiß. Heute Morgen bin ich zum ersten Mal Michaels drei Brüdern – meine Halbbrüdern – begegnet. Anfangs waren sie ziemlich distanziert. Dann haben wir ein bisschen miteinander geplaudert und sie entpuppten sich als unglaublich nett. Aber ich weiß, dass sich die Leute das Maul zerreißen, weil die Tochter einer zweiten Frau eine so große Rolle bei der Hochzeit des ältesten Sohnes der ersten Frau spielt.«

    »Es ist ungewöhnlich.«

    »So wie ich die Sache sehe, bin ich eine Freundin und jetzt auch eine Geschäftspartnerin von Amanda. Ihr Vater Jack war ein Klient von Onkel und mir, und wir haben ihm sogar das Leben gerettet. Wenn sie jemand anders heiraten würde, hätte ich die gleiche Rolle inne. Ich bin ihretwegen hier.«

    »Ava …« Erneut erklang Camilles Stimme vom Eingangsportal herüber.

    »Ich muss gehen«, sagte Ava zu May.

    »Können wir uns morgen zum Frühstück treffen? Wir könnten Dim Sum im Mandarin essen.«

    »Sicher, das müsste gehen«, antwortete Ava und merkte dann, dass May erneut an ihr vorbeiblickte. »Gibt’s ein Problem?«

    »Nein, eigentlich nicht. Wir müssen bloß einige Dinge besprechen.«

    »Ava, Amanda ist fast bereit«, sagte Camille, als sie neben Ava auftauchte und sie am Ellbogen fasste.

    »Sag ihr, sie ist die schönste Braut, die ich je gesehen habe«, bat May Ava.

    »Ja, das sage ich ihr«, erwiderte Ava. Dann wandte sie sich um und betrat mit Camille zusammen die Kirche.

    Was für ein seltsamer Tag, dachte sie. Erst lerne ich alle meine Halbbrüder kennen, und dann erweckt May den Eindruck, als sei sie in Sorge. Und jetzt werde ich gleich vor Amanda den Gang zum Altar hinunterschreiten in dem Wissen, dass die meisten Menschen in dieser Kirche es allein schon für skandalös halten, dass ich überhaupt anwesend bin.

    Ava ahnte nicht, dass der Tag noch viel seltsamer werden sollte.

    2

    DIE HUNDERT JAHRE ALTE KATHEDRALE der Unbefleckten Empfängnis war ein Juwel unter den Gotteshäusern mit ihrem spiegelnden schwarz-weißen Schachbrettboden, flankiert von weißen Granitsäulen und überdacht von erhabenen Bögen. Die glänzenden hölzernen Kirchenbänke waren mit Gästen in ihrer feinsten Kleidung besetzt, und Amandas ausladendes Gewand aus Seide und Chiffon raschelte leise, als sie neben ihrem Vater, Jack Yee, den Gang entlang zum Altar schritt.

    Ava war denselben Gang dreißig Sekunden zuvor entlanggeschritten, die Augen fest auf den Altar vor sich geheftet. Sie meinte Gewisper und Gemurmel zu hören, aber es waren keine Worte auszumachen. Als sie ihren Platz eingenommen hatte, fiel es ihr schwer, Ruhe zu bewahren. Sie konnte nicht umhin, zur ersten Reihe hinüberzuschauen, wo ihr Vater, Marcus Lee, neben seiner ersten Frau, Elizabeth, saß. Ava hatte die erste Frau ihres Vaters nie zuvor gesehen, geschweige denn kennengelernt, dennoch wusste sie, dass sie es war. Elizabeth Lee starrte Ava an, genau wie die Frauen um sie herum, und Ava wandte rasch den Blick ab.

    Wie May Ling angedeutet hatte, war Amandas Entscheidung, Ava zu ihrer Trauzeugin zu machen, sehr umstritten und Gegenstand von Klatsch und Tratsch in Hongkong. Als Tochter einer zweiten Frau wurde Ava offiziell als illegitim betrachtet, und somit war ihre herausragende Rolle bei dieser Hochzeit mehr, als manche Leute ertrugen. Ava hatte das Gerücht vernommen, dass Elizabeths vier Schwestern überlegt hatten, die Hochzeit zu boykottieren. Sie wusste nicht, ob sie es tatsächlich taten, und es war ihr wahrhaftig auch egal. Sie war da, weil Amanda, unterstützt von Jack Yee, auf ihrer Anwesenheit und ihrer Rolle bestanden hatte. Michael hatte sich bereiterklärt, seinem Vater und seiner Mutter die Idee vorzutragen. Marcus Lee hatte keine Meinung dazu geäußert; es war die Reputation seiner Frau, die auf dem Spiel stand, also war es ihre Entscheidung. Zum Entsetzen aller hatte sie sich mit Amandas Wünschen einverstanden erklärt.

    Ava schaute nach rechts. Michael und seine Brüder blickten Amanda entgegen. Als sie noch ungefähr fünf Schritte entfernt war, wandte Michael sich um und schaute Ava an. Er hob kaum merklich die Brauen, und dann lächelte er, als wolle er sagen: Wer hätte gedacht, dass dieser Tag kommen würde? Ava erwiderte sein Lächeln und spürte, wie ihre Beklommenheit nachließ.

    Die Zeremonie ging glatt über die Bühne, und nachdem die offiziellen Dokumente unterzeichnet waren, schritt die Hochzeitsgesellschaft unter Beifall und Hochrufen den Mittelgang entlang zum Ausgang. Ava hatte sich bei ihrem Halbbruder Peter, Michaels Trauzeugen, untergehakt und hielt den Blick fest geradeaus gerichtet. Als sie die Kirche verließen, trat das Brautpaar unter einen roten Schirm, der symbolisch böse Geister abhalten sollte. Er hatte den zusätzlichen Effekt, die beiden vor den Reiskörnern zu schützen, mit denen die Verwandtschaft und der Rest der Hochzeitsgesellschaft sie bewarfen. Nur dem Konfettiregen entrannen sie nicht.

    Dem Brauch entsprechend waren der Bräutigam und sein Gefolge früher am Morgen zu dem Haus in Sha Tin gefahren, um die Braut abzuholen. Michael und Amanda stiegen nun in den Bentley, der die Braut von Sha Tin hierhergebracht hatte; Ava und die übrigen Brautbegleiterinnen stiegen in einen Mercedes, die Begleiter des Bräutigams in einen anderen. Dann fuhren die Wagen im Konvoi zum Grand Hyatt, wo der Empfang stattfand.

    Im Hotel suchten Amanda und ihre Damen zunächst ihre aneinandergrenzenden Suiten auf, um sich frischzumachen und umzukleiden. Für ihren Einzug in den Ballsaal und die Teezeremonie würde Amanda ein traditionelles rotes chinesisches Hochzeitskleid tragen. Im Anschluss daran würde sie sich noch mehrmals umziehen. Das Kleid, das sie am frühen Abend tragen wollte, war bereits auf dem Bett ausgebreitet. Das eigentliche Abendkleid und das Cheongsam für später hingen im Schrank. Ava wünschte, sie hätte auch etwas – irgendetwas – zum Umkleiden, aber sie musste weiterhin das lavendelfarbene Kleid tragen.

    Die abendlichen Aktivitäten fanden im Großen Ballsaal des Hyatt und dessen angrenzenden Räumlichkeiten statt. Als Amanda und ihre Damen schließlich erschienen, standen Michael, seine Brüder und beide Elternpaare bereits am Eingang beisammen. Michael eilte an Amandas Seite und führte sie in den Ballsaal und auf die Tanzfläche, wo zwei Stühle für die Teezeremonie bereitstanden.

    Peter trat zu Ava. »Wir müssen auch hineingehen«, sagte er. Er führte sie zu einem kleinen Tisch rechts von den Stühlen, auf dem die Hotelbediensteten Teetassen und Teekannen bereitgestellt hatten.

    »Hast du das schon einmal gemacht?«, fragte Peter.

    »Nein, aber ich habe zugesehen.«

    »Im Grunde ist es ganz einfach. Unsere Aufgabe ist es, Michael und Amanda fortwährend mit frischem Tee zu versorgen.«

    »Ich glaube, das schaffe ich.«

    Am Rande der Tanzfläche hatte sich bereits eine Gästeschar versammelt. Jack Yee und seine Frau traten herbei und nahmen auf den Stühlen Platz. Peter schenkte zwei Tassen Tee ein, gab eine davon Ava, und dann gingen sie gemeinsam zu Michael und Amanda hinüber, die direkt vor den beiden Stühlen standen. Sie nahmen die beiden Tassen Tee von Ava und Peter entgegen und wandten sich dann zu Amandas Eltern um. Sie knieten nieder, beugten die Köpfe und hielten die Teetassen hoch. Die Yees nahmen die Tassen entgegen und tranken von dem Tee. Dann beugten sie sich mit breitem Lächeln auf den Gesichtern vor. Jack Yee legte Michaels Hand auf Amandas, sagte leise etwas und reichte ihnen dann einen roten Umschlag. Ava wusste, dass dies der erste von Hunderten von roten Umschlägen – oder Taschen – war, die das Paar an diesem Abend bekommen würde, aber sie bezweifelte, dass einer der anderen annähernd so viel Geld enthielt wie dieser erste.

    Die Teezeremonie war die traditionelle Art, auf die Amanda und Michael ihren älteren Verwandten und den engsten Freundinnen und Freunden der Familie ihren Respekt erwiesen. Es gab eine feste Reihenfolge. Auf die Eltern der Braut folgten die Eltern des Bräutigams, und dann würden die übrigen Verwandten, angefangen bei den Ältesten, auf den Stühlen Platz nehmen.

    Marcus und seine erste Frau betraten die Tanzfläche. Als sie auf die Stühle zugingen, empfand Ava Unbehagen beim Anblick ihres Vaters mit einer Frau, die nicht ihre Mutter war. Es war eine Sache zu wissen, dass Elizabeth Lee existierte; eine andere war es, sie am Arm ihres Vaters zu sehen.

    Und dann war da Elizabeths äußere Erscheinung. Sie trug ein knöchellanges Cheongsam aus gold-grünem Brokat mit einem offenen Stehkragen, der einen langen, schlanken Hals zeigte, der mit einem grünen Jadegeschmeide geschmückt war, das zu den tropfenförmigen Ohrringen passte. Das Cheongsam hatte lange ausgestellte Ärmel, die bis über die Hände reichten. Das Kleid war an einer Seite von der Fessel bis zum Knie geschlitzt und ließ eine schlanke Wade sehen. Ein Cheongsam, fand Ava immer, war ein schwierig zu tragendes Kleidungsstück. Es betonte jedweden körperlichen Makel und gereichte weder zu dünnen noch molligen Frauen zum Vorteil. An Elizabeth Lee sah es perfekt aus.

    Ava wusste, dass Elizabeth um die Sechzig war, aber es überraschte sie zu sehen, dass ihr Haar nahezu weiß war. Wohlhabende Chinesinnen beugten sich normalerweise nicht so einfach der Natur. Elizabeths Haar, modisch kurzgeschnitten, umrahmte ein schmales feingezeichnetes Gesicht. Sie war ungefähr eins fünfundsechzig groß, schätzte Ava, und reichte ihrem Mann auf ihren Absätzen bis knapp über die Schulter. Sie hatte einen wundervollen Gang, langsam, beinahe gemächlich, und ganz gewiss elegant. Sie bewegt sich wie Maggie Cheung, dachte Ava, und war selbst überrascht von dem Vergleich. Ihre eigene Mutter wurde oft mit dem Hongkonger Filmstar verglichen, und einige Jahre zuvor hatte Onkel, als er von ihrem Vater und seinen Frauen sprach, gemeint, Markus scheine einen bestimmten Typ Frau zu bevorzugen und suche sich nur immer eine neue.

    Auf ihrem Weg zu den Stühlen kamen Marcus und Elizabeth an Peter und Ava vorbei. Elizabeth lächelte Peter zu, als sie und Marcus Platz nahmen, und dann warf sie aus ihren dunkelbraunen Augen einen kurzen Blick auf Ava, der nicht im Mindesten unfreundlich war. Ava hielt den Blick abgewandt, als sie mit der Tasse Tee vortrat. Die Lees tranken von ihrem Tee, gaben Braut und Bräutigam den einen oder anderen Ratschlag mit auf den Weg und überreichten ihren roten Umschlag.

    In der nächsten halben Stunde nahm eine Parade von Tanten und Onkeln, Freundinnen und Freunden ihren Weg zu den beiden Stühlen. Ava kannte niemanden von ihnen. Peter nannte ihr diejenigen, die mit der Familie Lee verbunden waren, einschließlich der vier Schwestern seiner Mutter und ihres Bruders. Die Schwestern warfen Ava mörderische Blicke zu, als sie sich ihnen mit dem Tee näherte, und wandten sich ab, als Ava sie Amanda zum Weiterreichen gab.

    Nachdem die zweite seiner Tanten Ava brüskiert hatte, sagte Peter: »Ich entschuldige mich für meine Tanten. Sie fanden, es sei respektlos meiner Mutter gegenüber, dass du überhaupt zu der Hochzeit eingeladen warst, und als sie hörten, dass du auch noch die Trauzeugin sein würdest – nun, es war sehr unschön. Es stand sogar zu Debatte, dass sie nicht teilnehmen würden.«

    »Das Gerücht habe ich gehört.«

    »Ich bin froh, dass sie doch noch Vernunft angenommen haben.«

    Ava sah keinen Grund, darauf etwas zu erwidern.

    »Du musst jedoch zugeben, dass es aus ihrer Sicht eine etwas ungewöhnliche Situation ist«, fuhr er fort.

    »Ich bin nicht als die illegitime Tochter unseres Vaters hier. Ich bin hier als Amandas Freundin.«

    »Ich wollte dich nicht verletzen«, sagte er rasch.

    Ava schaute ihm ins Gesicht und entdeckte keine Spur von Bosheit. »Das hast du nicht.«

    Das Ende der Teezeremonie war das Zeichen für Amanda, nun ihr rotes Gewand anzulegen. Als Ava und sie gemeinsam den Ballsaal verließen, um in die Suite zurückzukehren, spürte Ava die Blicke der Tanten auf sich. Sie kannte kaum jemand von den Gästen. Hongkong war nicht ihr Zuhause, und weder ihre Mutter noch Onkel verkehrten in den Kreisen, die den Ballsaal bevölkerten. Die einzigen Menschen, die Ava, abgesehen von der Hochzeitsgesellschaft, kannte, waren Simon To, Michaels Geschäftspartner, seine Frau Jessie sowie May Ling und Changxing Wong. Plötzlich fiel Ava auf, dass sie May Ling seit ihrer Begegnung vor der Hochzeitszeremonie noch nicht wieder gesehen hatte.

    »Hast du May Ling irgendwo gesehen?«, fragte sie Amanda.

    »Nein«, antwortete Amanda abwesend, während sie ihr Make-up auffrischte.

    Als sie zum Großen Ballsaal zurückkehrten, war der Geräuschpegel gestiegen und der Raum vollständig gefüllt.

    Sie suchten sich ihren Weg zur Brauttafel und ließen sich zu einem Festmahl nieder, dessen Zusammenstellung stundenlange Debatten erfordert hatte. Es würde Marcus Lee an die siebenhundert US-Dollar pro Person kosten – also insgesamt etliche hunderttausend Dollar. Und zwar allein für das Essen. Ava hatte keine Ahnung, welche Kosten noch für die französischen Rot- und Weißweine hinzukommen würden, die ihnen kredenzt wurden, oder für die Bar, an der nur die exklusivsten Spirituosen ausgeschenkt wurden. Die Hochzeitsgäste erwarteten allerdings auch nichts Geringeres. Sie gehörten zu Hongkongs Elite, und es verstand sich, dass Marcus Lee es nicht riskieren würde, anlässlich der Hochzeit seines ältesten Sohnes sein Gesicht zu verlieren.

    Im Gegensatz zu den meisten westlichen Hochzeitsgepflogenheiten waren es in diesem Fall die Eltern des Bräutigams, die die Kosten für die Hochzeit trugen. Ava wusste von Amanda, dass Jack Yee, ebenfalls sehr wohlhabend, Marcus angeboten hatte, die Hälfte der Kosten zu übernehmen. Sie hatte keine Ahnung, zu welcher Einigung die beiden Männer gelangt waren. Das Schild an der Tür des Ballsaals hieß die Gäste im Namen beider Familien, der Lees und der Yees, willkommen, und die Platzkarten auf den Tischen kündeten ebenfalls von der Verbindung beider Familien. Ava vermutete, dass Jack die Mitgift seiner Tochter erhöht und einige der vorhochzeitlichen Veranstaltungen bezahlt hatte, während Marcus für alles andere aufkam.

    Die Männer trugen allesamt Designer-Anzüge, die nicht unter zweitausend Dollar gekostet hatten. Manche waren maßgefertigt von

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