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Die Brunnen
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eBook291 Seiten4 Stunden

Die Brunnen

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Über dieses E-Book

Hans Herbjørnsrud erzählt in seinem Roman fünf Geschichten über die Magie des Alltäglichen, die gekennzeichnet von Leidenschaft, Visionen und merkwürdigen Begegnungen die Grenze zwischen Realität und Phantasie zu verwischen vermögen. -
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Jan. 2017
ISBN9788711468654
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    Buchvorschau

    Die Brunnen - Hans Herbjörnsrud

    Saga

    Während die Zeit läuft

    Es eilt. Mir läuft die Zeit davon. Ich muss mich sputen. Ich stehe im Morgengrauen auf, ziehe den rot melierten Laufdress und die neuen Cross-Schuhe an, esse am Küchentisch zwei Scheiben Knäckebrot und trinke ein Glas Orangensaft, bevor ich den ovalen Joggingstein in die rechte Hand nehme und über den Hofplatz trabe; um 6:04:13 laufe ich den Traktorweg über das Feld auf den Wald zu.

    Ich muss mich beeilen, um diese Geschichte zu schreiben. Ich muss bald hier raus. Heute Abend kommen meine Schwiegertochter Ting Ting und mein Enkel Man Lok zu Besuch. Anna wird sie um 20:45 Uhr am Busbahnhof abholen, sie sollen hier in meinem Arbeitszimmer im Backhaus wohnen. Bis sie kommen, muss meine Geschichte fertig sein. Es eilt. Ich muss raus. Die Zeit ist knapp. Ich laufe und schreibe und laufe.

    6:04:53, die Uhr zeigt 6:04:53, ich biege von der Treckerspur ab, hebe beide Arme vors Gesicht und kämpfe mich durch das dichte Fichtengehölz hinunter zu dem Bach. An der Böschung vor dem Biberdamm bleibe ich einen Augenblick stehen, verschnaufe und beiße mir auf die Zungenspitze.

    Es eilt. Mir bleibt doch nur der heutige Tag für meine Geschichte. Ich habe am Telefon gehört, dass Man Lok inzwischen ein Zweibeiner geworden ist und in Oslo über den Fußboden wackelt. Sie müssen den Hörer auf den Boden gelegt haben, denn die taumeligen Schritte unseres Enkelkindes dröhnten mir direkt ins Ohr. Es eilt, ich breite die Arme aus und balanciere vorsichtig über den Biberdamm; über dem blanken Wasserspiegel des Weihers, den Joggingstein in der geballten Faust und mit gespreizten Fingern über dem Durcheinander aus Zweigen und Ästen am Fuß der Böschung. Bei jedem meiner Schritte zeigen sich leichte Wellen auf dem reglosen Wasser des Tümpels. Der schwere Joggingstein in meiner Faust hält mich aufrecht.

    Dann bin ich auf der anderen Seite und laufe den Pfad durch den Erlenwald bis zur Heddøla. 6:06:13, ich folge dem Weg flussaufwärts und laufe jetzt immer schneller, obwohl der Fluss reißender wird und ich gegen den Strom laufe. Mou, keiwai und gwei, murmele ich. Sie haben mir erzählt, dass Man Lok ein chinesisches Bilderbuch bekommen hat und die Wörter seiner Eltern nachzuahmen versucht, während er sich die Bilder ansieht. Er kann bereits drei Wörter Chinesisch, haben sie gesagt und mir erklärt, mou bedeutet niemand, keiwai heißt merkwürdig und gwei ist ein Gespenst.

    Gegen den Strom zu laufen ist wie gegen den Wind zu laufen, ich verkürze die Schrittlänge, laufe an den Pfosten vorbei, die von der alten Hängebrücke noch stehen, und um 6:08:05 hüpfe ich von Stein zu Stein über die Mündung eines rieselnden Bachs und springe auf die breite Kiesbank, die sich entlang der Heddøla bis Grenehølen erstreckt. Mou, keiwai, gwei: Ich murmele ein Wort bei jedem Schritt, den ich auf den Kies setze: niemand, merkwürdig, Gespenst. Die Luft spült mir den Mund, der Kies knirscht und brennt unter den Füßen, und in meinen Ohren höre ich die durchdringenden Schritte von Man Lok auf dem Fußboden in Oslo. Schnell, es eilt, Man Lok entwickelt sich zu einem prächtigen Burschen, haben sie gesagt. Mou, keiwai und gwei, murmele ich wie eine Beschwörungsformel, wobei die Wörter unter den Schuhsohlen knirschen, und hetze im Gegenwind des Stromes vorwärts.

    6:11:42, bei Grenehølen drehe ich um, nehme den Joggingstein in die linke Hand und laufe mit der Strömung zurück. Der Fluss fletscht die Zähne und schnappt nach den Steinen, während er rasch über den Grund fließt, der Strom wirbelt schneller als die Zeit, unmöglich, mit ihm Schritt zu halten. Trotzdem ist es einfacher, im Sog des Flusses zu laufen, ich gehe in lange Schritte über, berühre den Boden nur kurz mit den Ballen und drücke die Beine durch, dass es in den Kniekehlen zieht. Das Wasser schießt an mir, der ich laufe, vorbei und zieht mich mit, und schon bald gerate ich in einen paradiesischen Rausch und laufe Hand in Hand mit der fließenden Zeit.

    6:17:47 wache ich auf und sehe auf die Uhr. Ich stehe auf der Böschung vor dem Biberdamm. Schwarzglänzend liegt der aufgestaute Fluss vor mir, er ist über die Ufer getreten. Der Biber hat einen Fluss gefangen. Der Strom rennt gegen den Damm an. Mittendrin ragt ein entrindeter Espenast aus dem Lehm. Knochigweiß leuchtet der Ast und zittert unter dem Druck, zittert. Ich beiße mir auf die Zungenspitze, breite die Arme aus und tänzele über den Damm. Mou, keiwai und gwei: Bei jedem Schritt flüstere ich ein Wort, und die Worte lassen das aufgehaltene Wasser unter meinen Füßen vibrieren.

    Dann bin ich auf der anderen Seite und werde durch das Fichtengehölz gepeitscht, gelange auf die Treckerspur und lasse mich vom Schlussspurt aufsaugen, wobei die Beine wie bei einem Tausendfüßler unter mir wirbeln. Um 6:18:15 stehe ich wieder auf dem Hof, atme aus und schaue auf die Uhr.

    Ich setze Kaffee auf, bevor ich mich umziehe und ein paar Scheiben Brot esse. Dann schmiere ich mir Pausenbrote und fülle die größte Thermoskanne. 6:36:58. Anna ist noch nicht aufgestanden, als ich mit Proviant und Kaffee für den ganzen Tag hinüber ins Backhaus gehe, die Gardinen im Arbeitszimmer zuziehe und den Computer einschalte. Um 6:39:44 beginne ich, an meiner Geschichte zu schreiben.

    Es drängt, und damit die Zeit mir nicht davonläuft, fange ich an, die Joggingtour, die gerade hinter mir liegt, herunterzutippen. Es beginnt daher mit der Atemlosigkeit, denn nur acht Minuten, nachdem ich aufgestanden bin, bin ich über den Hofplatz getrabt und auf dem Traktorweg auf den Wald zugelaufen. Ich laufe und schreibe und laufe, und bei jedem Schritt hüpft ein Buchstabe auf den weißen Bildschirm, wie ein Fußabdruck im Neuschnee. Als ich im Morgengrauen lief, war das Gras zwischen den Reifenspuren grün. Jetzt, nur eine halbe Stunde später, laufe ich in einer anderen Jahreszeit über schneebedeckte Felder, und im Fichtengehölz bürsten die Bäume den eben auf mich herabgerieselten Schnee ab.

    Die Böschung, ich bleibe an der Böschung stehen, schnappe nach Luft, beiße mir auf die Zungenspitze und schaue über den schwarzen Wasserspiegel zwischen den weißen Ufern. Der Damm glänzt eisig. Der entrindete Espenast in der Mitte ragt glasig in die Luft. Es eilt, und ich breite die Arme aus und tänzele über den Rand des blockierten Stromes. Mou, kei...

    ... waiiiiiiiiii!, schreie ich, als ich in das fremde Wort strauchele und der Joggingstein ins Wasser fällt. Einen Augenblick schwanke ich und rudere mit den Armen. Dann verliere ich das Gleichgewicht, taumele seitwärts und falle der Länge nach in den Weiher. Der Aufprall schlägt weiße Funken auf der schwarzen Oberfläche, das Wasser trifft mich wie der Stoß einer Hochspannungsleitung, der sämtliche Sinne betäubt. Als ich endlich wieder zu mir komme, spüre ich, wie ich in einen Brunnen ohne Grund sinke, versinke.

    Milder, nach und nach wird die Dunkelheit um mich herum milder, bald ist es tropisch heiß, und ich höre schlurfende Schritte um mich herum. Es kommt jemand, jemand ist in dieser blinden Dunkelheit, in die ich hineinfalle, unterwegs. Die Luft ist voller erstickter Atemzüge. Vorhänge rascheln. Zeltbahnen flattern im Wind. Holzgefäße klappern. Tiere stampfen. Tief in der Dunkelheit höre ich ein Geräusch wie von einem Teppichklopfer oder Stockschlägen auf Fell und Knochen. Hat da gerade ein Esel geschrien, oder war es ein Kamel, das ebenso klingt? Ich weiß es nicht. Wo bin ich? Wann bin ich? Dumpfe, wie mit Erde bedeckte Stimmen flüstern Worte, die ich weder begreife noch verstehe. Jemand streicht mir sanft über die Stirn. Ich liege stumm auf einem Lager aus Dunkelheit, das hinunter ins Dunkle sinkt, und höre schleppende Schritte und Stimmen, die eifrig tuscheln.

    Yio sii ueo, was sagen sie? Keine Ahnung, ich weiß nicht, wann und wo ich bin. Eine Stimme stößt einen schrillen Schrei aus. Rasch wird sie von aufgebrachten Mündern niedergezischt. Reden sie über mich? Fragen sie sich, was sie mit mir anstellen sollen, hier, wo ich liege? Bestimmt bin ich ein Fremder, ein Eindringling in ihr Wo und Wann. Das Teppichklopfen oder die Stockschläge sind jetzt deutlicher zu hören. Vielleicht überlegen sie, wer auf mich losgehen soll. Stimmen murmeln düster in der Dunkelheit. Vielleicht wagen sie nicht, mir etwas zu tun, da ich zu den Lebenden gehöre.

    Ja, ich bin in die Geschichte gefallen, die ich schreibe, während die Zeit über den Biberdamm hinweg weiterlief, hinüber auf den Weg entlang der Heddøla. Ich horche und schreibe und horche auf die Geräusche, die ich in der Dunkelheit höre. Die flatternden Zeltbahnen. Die raschelnden Schritte. Die löchrigen Stimmen, die Unverständliches murmeln und hier und da ein unfreiwilliges Schnaufen und Räuspern von sich geben. Die Dunkelheit riecht nach Tierkot und verbranntem Haar. Ich schreibe, gieße Kaffee ein, esse von den Pausenbroten und schreibe über meine Erlebnisse in der lebendigen Dunkelheit um mich herum.

    Endlich, endlich bin ich fertig. Es gibt nichts mehr zu schreiben. Meine Geschichte ist beendet. Langsam steige ich zur Oberfläche des hellen Computerschirms auf. Rasch überfliege ich die Geschichte und lese hier und da einen Abschnitt. Doch, es sieht gar nicht so schlecht aus. Ob sie trägt, müssen andere entscheiden.

    Ich speichere die Datei auf eine neue Diskette, beklebe sie mit einem Etikett, schalte den Computer aus und stehe steif von meinem Schreibtisch auf. Als ich die Gardine zurückziehe, stelle ich fest, dass es bereits dunkel ist. Ich habe also bis in den späten Abend geschrieben. Die Fenster im Hauptgebäude sind erleuchtet. Sicher ist Anna von ihrer Arbeit bereits nach Hause gekommen.

    Ich nenne die Geschichte »Während die Zeit läuft«, schreibe den Titel, meinen vollen Namen und das Datum, 15. September 2001, auf die Diskette und nehme sie mit, als ich aus dem Backhaus über den Hof zum Hauptgebäude gehe.

    Die Hoflampe brennt nicht. Und die Außentür ist verschlossen. Merkwürdig, gewöhnlich schließen wir die Türen nie ab, wenn wir auf dem Hof sind. Ich klopfe und rufe: Anna! Anna! Mir geht durch den Kopf, dass es vermutlich das erste Mal ist, dass ich vor unserem Haus stehe und klopfe. Ich klopfe noch einmal und rufe Annas Namen. Aber sie öffnet mir nicht.

    Ich warte eine Weile. Nein, kein Laut. Ich lege die Diskette auf die Treppe und rüttele mit beiden Händen an der Türklinke. Da von innen immer noch kein Laut zu hören ist, klopfe ich kräftiger, bis das Türglas klirrt.

    Dann höre ich das Öffnen der Wohnzimmertür im ersten Stock und eilige Schritte im Treppenhaus. Die Hoflampe wird eingeschaltet, es knarrt im Schloss, und die Haustür springt auf.

    Im Türrahmen steht ein fremder Mann und sieht sich um. Er hat schwarzes halblanges Haar und ist mit einem grünen Seidenhemd und einer weiten grauen Leinenhose bekleidet. Ein teigrundes Gesicht mit markanten Wangenknochen, einer stumpfen Nase und schmalen, beinahe zusammengekniffenen Augen. An den Füßen trägt er große unförmige Schilfpantoffeln. Er ist ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, möglicherweise etwas älter. Ich habe ihn nie zuvor gesehen.

    »Guten Abend«, sage ich. »Ich wohne auf diesem Hof. Sind Sie vielleicht zu Besuch hier? Ich bin Annas Mann, verstehen Sie?«

    Der Fremde antwortet nicht. Sein Kopf dreht sich von einer Seite zur anderen, ohne dass der Blick an irgendetwas hängenbleibt. Dann tritt er über die Türschwelle, bleibt stehen und schaut über den Hof. Einen Augenblick sieht er mir direkt in die Augen, bevor er an ihnen vorbei oder durch sie hindurch auf die Scheune starrt.

    »Guten Abend«, sage ich noch einmal und strecke die Hand aus.

    Der Mann scheint mich weder zu hören noch zu sehen, denn in diesem Moment entdeckt er die Diskette, die ich auf die Treppe gelegt habe. Er bückt sich, hebt die Diskette auf und bleibt stehen, während er sie hin und her dreht. Als er liest, was ich auf den Aufkleber geschrieben habe, schüttelt er den Kopf und zuckt die Achseln. Noch einmal liest er Titel, Autorennamen und Datum der Diskette. Dann tritt er mit erhobenem Kopf vor und schaut neugierig über den Hof zur Scheunenauffahrt.

    Eine Frauenstimme ruft irgendetwas im Treppenhaus. Der Mann dreht sich zur Tür um.

    »Keiwai«, sagt er.

    Wieder ruft die Frau irgendetwas. Sie hat eine hohe, helle Stimme.

    »Mou«, antwortet er.

    »Keiwai?«, ruft die Frau oben im Treppenhaus.

    »Gwei«, antwortet der Mann, tritt in die Diele und schließt die Tür hinter sich. Die Diskette zwischen seinen beiden Fingern ist das Letzte, was ich sehe, bevor die Tür zufällt. Das Schloss knarrt.

    Im Haus höre ich aufgeregte Stimmen und Schritte, die die Treppe hinaufgehen.

    Ich bleibe auf dem Hofplatz stehen, und die Außenlampe scheint durch mich hindurch.

    Das Skelett und das Anatomiebuch

    Als ich im Winter 1976 die Heimvolkshochschule Sagaheim in Sør-Trøndelag verließ, um hier in Heddal den Erbhof zu übernehmen, nahm ich im Möbelwagen ein Skelett und ein Anatomiebuch mit.

    Es hatte sich so ergeben, dass ich an einem stürmischen Februartag kurz vor der Abreise den Auftrag bekam, in der Lehrmittelkammer des alten Gebäudes eine Auswahl der erhaltenswerten Materialien zu treffen. Das Gebäude, in dem Sagaheim seit Gründung der Schule 1898 untergebracht war, sollte abgerissen werden, und wir Lehrer nutzten einen der Samstage, an denen die Schüler nach Hause fuhren, um die Gegenstände, die aufbewahrt werden sollten, auszusortieren und in das nagelneue Unterrichtsgebäude zu transportieren. Der Rest würde in einer Wolke aus aufwirbelndem Staub unter Holzbalken und splitternden Paneelen begraben werden, wenn der Bulldozer das ungeheure Gespensterschloss mit all seinen verzierten Erkern und Balkonen im Schweizer Stil zertrümmerte. Der Abriss begann einige Monate nach unserer Abreise, zur gleichen Zeit, als daheim unser hinfälliger Altenteiler John Deere den ganzen Tag o-beinig über die Felder humpelte, pflügte, eggte, säte und unter bronchialem Dieselschnaufen seines Auspuffrohrs die Frühjahrsarbeit erledigte.

    Meine Aufgabe war es also, die Lehrmittelkammer zu durchforsten, allerdings muss man den Raum, den man auf dem weitläufigen Dachboden zwischen zwei Querbalken unter den Dachsparren eingerichtet hatte, wohl eher als einen Verschlag aus ungehobelten Brettern bezeichnen. Die Sparren glichen den Rippen eines gewaltigen Brustkastens, und der Dachboden atmete das Wetter ein, heulte und stöhnte in den Windböen und pumpte sich die Lunge voll mit eiskalter Luft an diesem wutschnaubenden Februartag, so dass der undichte Verschlag kalt und klamm wie ein Hatschi! war. Der elektrische Heizstrahler half überhaupt nicht, daher trug ich einen dicken Mantel und stieß Sprechblasen voller Nebelsätze und anderem diffusen Gerede aus, als ich in Pechnahtstiefeln über die lockeren Bodenbretter stapfte.

    Die Arbeit ging rasch von der Hand, da die Objekte mit Etiketten nummeriert und bezeichnet waren, wie man sie auch für Einmachgläser verwendet, und die Sammlung nach den einzelnen Fächern sortiert war: Physik, Chemie, Geographie, Biologie und Geologie. In einem Glasschrank fand sich eine in Spiritus eingelegte stockbesoffene Kreuzotter, eine ausgestopfte Riesenralle, ein ausgesprochen lebendig wirkendes Hermelin und einige andere präparierte Tiere und Vögel, an die ich mich nicht mehr erinnere. Aber ich entsinne mich, dass auf einem der Regale der Schädel eines Vielfraßes und das Skelett eines größeren Fisches lagen, dem man den vertrockneten Kopf offenbar wieder aufgesetzt hatte, damit sein glühender, quellender Blick wie aus gehämmertem Kupfer der Nachwelt erhalten blieb. Die nackte Gräte des Fisches verzweigte sich in haarfeine Knochen und glich einer Bonsaibirke, die man mit ihrem bleichrindigen Stamm und den ebenso weißen Zweigen gerade an einem Berghang gefällt hatte. Ein Biber, der keinen Platz mehr in den Regalen gefunden hatte, saß auf dem Schrank und nagte an einem Espenzweig, unbeirrbar. Die Schnurrhaare des Hermelins zitterten hellwach, und ich hatte den Eindruck, dass seine Augen in kristalliner Furcht glasig schimmerten, wenn ich auf den nachgebenden Bodenbrettern auf und ab ging, die unter meinen Stiefeln mit einem warnenden Klatschen krachten, als würde der Biber auf dem Schrank mit dem Schwanz auf die Wasseroberfläche eines Gebirgsbaches einschlagen. Einzelne Bretter knirschten in ihren rostigen Nägeln, wenn sie unter dem Tritt der Stiefel zusammenzuckten, und mir schien das kratzende Geräusch der Nägel dem Schrei der Riesenralle so unglaublich ähnlich, dass ich mich zumindest einmal umdrehen und den Vogel anstarren musste.

    Der größte Teil der Physik- und Chemiesammlung stammte aus dem frühen 20. Jahrhundert, und sonderlich viel blieb nicht übrig, nachdem ich die Gläser mit den unterschiedlichsten Stoffen in Pulverform gesichtet hatte. Die Schalenwaagen wurden gewogen und für zu leicht befunden. Die Deziliterbecher, Literkannen und Meterstöcke maßen auch nicht mehr zeitgemäß und wurden ausgesondert. Dasselbe passierte mit dem Thermometer, das sich in der falschen Jahreszeit befand.

    Von dem Gestell mit den alten, ausgefransten Bildtafeln, die in Naturkunde und Bibelgeschichte eingesetzt wurden, suchte ich zwei lebendige Szenerien aus, laut Etikett hatte die Schule sie 1906 angeschafft. Eine der Tafeln zeigte Kain, der Abel vor dem Opferaltar mit dem Kieferknochen eines Esels erschlägt, die andere Josef, der bis zur Hüfte im Wasser steht und die Hände bittend zu den Köpfen der Brüder hinaufstreckt, die wie elf schwarze Sterne am hellen Himmel hoch über ihm den Brunnenrand umringen. Außerdem nahm ich eine Anatomietafel des menschlichen Skeletts und die Abbildung eines gehäuteten männlichen Körpers mit, auf der gezeigt wurde, wie die Sehnen und Bänder das Fleisch am Knochengerüst festzurren und den Körper mit Streifen einwickeln, die mich gleichermaßen an Leichentücher wie Babywindeln erinnerten.

    Nur wenige Landkarten stimmten noch mit den politischen Landesgrenzen von 1976 überein, und ich opferte sie alle den Bulldozern. Allerdings rettete ich die ausgestopften Säugetiere und Vögel und schenkte ihnen ein längeres Leben, indem ich sie in eine Ausstellungsvitrine vor den Kunst- und Handarbeitssaal im Neubau sperrte. Auch der gefräßige Biber verlor seine Freiheit und wurde in der Vitrine gefangen gesetzt, wo er weiterhin an seinem ewig währenden Espenzweig nagte. In tausend Jahren hätte dieser Biber sicher nicht mehr geschafft, als den Stock zu entrinden, der dann noch immer knochig weiß schimmern würde.

    In einem mannshohen Mahagonischrank ganz hinten im Verschlag stand ein Skelett, das ich schon einige Male gesehen hatte. Doch als ich an diesem Tag an dem Schrank vorbeistapfte, hatte ich den Eindruck, das trockene Rasseln der Knochen zu hören. Es hieß, ein Medizinstudent, der 1918 ab dem Herbst an der Schule hospitierte, hätte das Skelett aus der Universität von Oslo mitgebracht. Und als er in jenem Jahr Mitte Dezember an der Spanischen Grippe starb, blieb das Skelett aus irgendeinem Grund an der Schule. Auf dem Etikett stand: »Knochengerüst eines achtunddreißig jährigen Bauern aus dem Numedal, das Zeitliche gesegnet im August 1835. Gehörte Sjur Loftsgard, den vor Weihnachten 1918 die Epidemie dahinraffte.«

    Ja, Sjur war der Name des Medizinstudenten, und es gab durchaus Geschichten über ihn, die den mageren Informationen auf dem Etikett etwas Fleisch auf die Rippen geben konnten. Sjur kam vermutlich nicht nur aus dem gleichen Ort, sondern auch von dem gleichen Hof wie der Numedalbauer, ja, es handelte sich angeblich sogar um das Gerippe seines Großvaters, wie einige vermuteten. Es hieß, dass er möglicherweise deshalb so durcheinander und fahrig reagierte, sobald die Rede auf das Skelett kam. Man hatte mir auch erzählt, dass Sjur der Erstgeborene gewesen sei und sich vorgenommen habe, nach Beendigung seines Medizinstudiums den Erbhof zu übernehmen und sich in seinem Heimatort als Distriktarzt niederzulassen. In der letzten Phase seines Lebens soll er sogar mit seinem Gerippe ins Bett gegangen sein, wie der ehemalige Hausmeister der Schule mir anvertraut hatte. Er schlug den Blick dabei nieder, wobei sein Glasauge mich eisig anstarrte. Verstehst du, sein Großvater trug auch den Namen Sjur, sagte er, ohne dass ich begriff, was ich verstehen sollte.

    Nun ja, der alte Hausmeister wusste viel, aber noch mehr konnten mir zwei ehemalige Schüler aus dem Ort erzählen. Beide waren neunundsiebzig Jahre alt und hatten damals Unterricht in Norwegisch, Geschichte und Anatomie bei dem Studenten. Seit ihrer Zeit auf der Heimvolkshochschule hatten sie als Holzarbeiter im Wald gearbeitet, und dieses mühselige Leben mit Bogensäge und Axt in metertiefen Schneewehen und an schwindelheißen Julitagen hatte ihre Körper windschief gemacht und seine Spuren hinterlassen. Ich traf die beiden im Altenheim des Ortes. Der eine saß im Rollstuhl, und wenn er versuchte, sich an 1918 und den Aufenthalt in Sagaheim zu entsinnen, zogen sich tiefe Runzeln über die leberfleckige Stirn, wie bei einem frisch gehäufelten Kartoffelacker mit vielen Furchen, und seine Nase glich auch noch einem alten Pflug mit zwei breiten Scharen und einer langen Spitze bis hin zu den Augenbrauen. Allerdings war die Arbeit bereits getan, denn der Pflug stand nun quer zu den Runzeln am Rand des Ackers.

    Die beiden Alten erzählten, dass der Mann, dessen Haut, Bart und Haare die Knochen des Skeletts ehemals polsterten und schmückten, Opfer eines Brudermords in einer der oberen Ansiedlungen im Numedal, im Uvdal, geworden sei. Sjur hatte ihnen alles darüber erzählt. Oben auf dem Schädel konnte man einen Spalt von einer Beilklinge erkennen, schmal wie der Schlitz eines Sparschweins. Ich versuchte es mit einem Fünfkronenstück, es ließ sich durch die Öffnung drücken und klimperte in der leeren Hirnschale.

    Zwei Brüder, so erfuhr ich, hatten jeder einen angesehenen Hof in demselben Flecken besessen, und eines schönen Tages, während sie auf dem Höhenzug die Grenze zwischen ihren Viehweiden markierten, gerieten sie in Streit über einen Grenzstein. Bald gab ein Wort das andere, und die Wortgefechte gingen in Axthiebe über. Es wurde ein kurzer, wortkarger Kampf, als die Klingen der Äxte begannen, mit ihren schneidenden Stimmen zu sprechen. Der Mörder versenkte die Leiche in einem kleinen See, doch als er allein zum Dorf zurückkehrte und keine Rechenschaft über seinen Bruder ablegen konnte, begannen die Leute Unrat zu ahnen. Sie bemerkten, dass sein Arm zitterte und bebte, als er sich mit den Fingern durch die Haare fuhr, und bei jedem Wort, das er stotternd hervorbrachte, verkrampften sich seine Halssehnen, als würde er seinen Durst an einem Bierfass löschen. Und doch kamen seine Worte so merkwürdig sanft wie der Januarregen. »Ich bin nicht meines Bruders Hüter«, soll er gesagt und sich im ersten Stock des Wohnhauses ins Gästezimmer eingeschlossen haben. Man hörte, wie er dort drinnen mit vielen wilden und unbekannten Stimmen heulte und brummte.

    Schließlich fand sich eine Truppe von Leuten, die auf den Hochweiden ausschwärmten, wo die Brüder den Grenzverlauf abgesteckt hatten. Drei Tage lang durchkämmten die Nachbarn Gestrüpp und Gebüsch, drangen in eine verlassene Bärenhöhle ein, wateten durch die Weidesenke und zogen an langen Leinen befestigte Eisenhaken durch Flüsse und Seen, aber der Vermisste schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Die Haken holten lediglich Seerosenwurzeln an die Oberfläche, so schleimig wie Aale. Sie riefen und lauschten. Das Echo verspottete ihre Rufe. Rasteten sie, hörten sie die himmelhohe Stille des Almgebiets.

    Wenn sie in der Dämmerung auf die Alm zurückkehrten, glitzerten weiße Wiesenkuhschellen in der Luft wie flitzende Felchen im Flussstrom. Dann ergoss sich der Abend über die Heide und verschleierte den Tag. Über der Almhütte füllte sich der Himmel mit blinkenden Glasscherben.

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