Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Löwin der Bretagne - Historischer Roman
Löwin der Bretagne - Historischer Roman
Löwin der Bretagne - Historischer Roman
eBook364 Seiten5 Stunden

Löwin der Bretagne - Historischer Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Ein historischer Rachefeldzug einer beeindruckenden jungen Frau!Mit all seiner Kraft, versucht Frankreich während der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts seinen Einfluss auf die Bretagne auszuweiten. Jedoch gibt die Halbinsel, die bis dahin kulturell und politisch eigenständig war, alles um sich dagegen zu wehren. Die Konsequenz ist ein über zwanzig Jahre dauernder Krieg. In diesem Buch wird die wahre Geschichte der wohlhabenden Adligen Jeanne de Clisson erzählt, die in dem Chaos ihrer Zeit ihren Ehemann und ihren Besitzt verliert. Daraufhin schwört Jeanne furchtbare Rache.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum23. Sept. 2019
ISBN9788726159899
Löwin der Bretagne - Historischer Roman

Mehr von Franjo Terhart lesen

Ähnlich wie Löwin der Bretagne - Historischer Roman

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Löwin der Bretagne - Historischer Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Löwin der Bretagne - Historischer Roman - Franjo Terhart

    www.egmont.com

    Vorwort

    In der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts versuchte Frankreich mit aller Macht, seinen Einflußbereich auch auf die Bretagne im äußersten Westen auszudehnen. Aber die bis dahin kulturell wie politisch eigenständige Halbinsel setzte sich dagegen heftig zur Wehr. Es entbrannte ein Krieg, der über zwanzig Jahre dauerte.

    Dies ist die wahre Geschichte der reichen Adeligen Jeanne de Clisson, die in den Wirren dieser Ereignisse nicht nur ihre ganzen Besitztümer und ihre Heimat, sondern auch ihren jungen Ehemann, den Fürsten Olivier de Clisson, verlor.

    Jeanne de Clisson schwor daraufhin furchtbare Rache: »Nieder mit Frankreich! Tod den königlichen Blois!«

    Jeanne wurde zur Rebellin und Piratin und damit zu einer der schillerndsten Frauengestalten ihrer Epoche.

    1

    Der Winter des Jahres 1350 hat bereits die bretonische Nordküste erreicht. Die Wassermassen, die auf den ins Meer zurückflutenden Wellenbrechern Schaumkronen entfalten, tragen die Kälte aus den Tiefen des Ozeans auf das wie erfroren daliegende steinige Land zu. Eine Kette einzeln aufragender Felsen reicht bis an die Grenzen des Horizonts; dichte Dunstwolken ziehen stürmisch dahin, Himmel und Meer vereinigen sich. Im düsteren Nebel, der jedermann frösteln läßt, sieht man nichts als riesige Schaumkugeln, die sich erheben, bersten und mit furchtbarem Krachen in die Luft stieben. Man meint, die Erde beben zu fühlen, und ergreift unwillkürlich die Flucht. Doch inmitten dieser Hölle kämpft sich weit draußen ein Schiff – nicht mehr als eine Nußschale – langsam auf die Küste der Bretagne zu. Der eiskalte Wind bläht seine Segel. Mit der morschen Barke, die zudem noch Wasser zieht, haben sich fünf Menschen den tobenden Elementen anvertraut. Ganz vorne im Bug kauert eine Frau mit ihren zwei Kindern. Sie hält die beiden Knaben fest unter ihrem schwarzen Umhang, um sie gegen die entfesselte See einigermaßen zu schützen. Der dunkelblonde, etwa zehn Jahre alte Olivier liegt mit geschlossenen Augen und weißen Lippen in den Armen seiner Mutter. Der andere, Thomas, sein gleichaltriger Freund, wirkt nicht weniger leblos, doch sind ihre grauen Augen starr auf das in der Ferne allmählich sichtbar werdende Ufer, ihre Rettung, gerichtet. Im Heck der Barke versuchen zwei Männer, mit der tobenden See fertigzuwerden und die zerbrechliche ›Nußschale‹ einigermaßen auf Kurs zu halten.

    Einer von ihnen steht aufrecht am Steuerruder. Der Mann ist klein und massig und wird deswegen oft unterschätzt. Sein Name ist Roland de Raz. Er hat die Kraft eines Bullen, und die ist in dieser gefährlichen Situation auch bitter nötig, um gegen die schwere See bestehen zu können. Er kennt die Küste und das Meer an dieser Stelle ganz genau. Sie ist nicht ungefährlich, weil Untiefen und Riffe unter der regengrauen Oberfläche lauern. Eine falsche Entscheidung nur – und das Boot würde von diesen messerscharfen Riffen aufgeschlitzt, als ob das Messer des Schlachters durch den Bauch eines Schweines geht. Der Kapitän nickt seinem zweiten Steuermann Pierre le Rouge zu, so als wollte er ihm signalisieren, daß er alles unter Kontrolle habe. Längst hat Roland de Raz bemerkt, daß Pierre seinen Blick kaum von der schwarzhaarigen Frau im Bug des Schiffes abwenden kann. Sie fasziniert ihn wohl gewaltig. Der Kapitän muß lächeln, denn obwohl er weiß, um wen es sich bei dieser mutigen Frau handelt, darf er es Pierre nicht sagen. Die ganze Aktion ist streng geheim. Die Frau befindet sich mit ihren zwei Kindern auf der Flucht. Auf ihren schönen Kopf ist der höchste Preis ausgesetzt, den der französische König jemals für die Ergreifung eines Feindes oder eines Verbrechers gefordert hat. Das ›Schwein‹ Charles de Blois würde sogar seine eigene Mutter verkaufen, wenn es ihm dadurch gelänge, dieses Weib dort endlich zur Strecke zu bringen.

    Keine Geringere als diese Frau, die sich jetzt so schützend über die Kinder beugt, ist es nämlich gewesen, die für viele Jahre den gesamten französischen Schiffsverkehr zwischen Loire und Seine lahmlegte. Werweiß schon, wie viele Bewaffnete aufgeboten wurden, diese Bretonin zu jagen? Ohne Erfolg! Niemand kann sagen, wie viele Dörfer sie selbst in Schutt und Asche legte, wie viele Landstriche sie verwüstete und wie viele tapfere Männer durch ihr Schwert enthauptet oder durchbohrt worden sind. Zugegeben, sie mag das Gesicht eines Engels haben und nach zwei Geburten immer noch die Figur einer Tänzerin aus dem Morgenland, aber sie versetzt die Franzosen genauso in Angst und Schrecken wie das Auftauchen englischer Schiffe am Horizont.

    Roland de Raz wischt sich mit dem Ärmel das triefnasse Haar aus der Stirn. Schwer stemmt er sich gegen das Ruder, als eine Windböe das Schiff von der Seite erwischt. Aber er ist ein erfahrener Segler. Noch immer umspielt ein spöttisches Lächeln seine Mundwinkel, wenn er mit ansieht, mit welch schmachtendem Blick Pierre an dieser Frau hängt, dabei jede ihrer Bewegungen verfolgt. Leider ist es ihm verboten, die Identität der schönen Unbekannten aufzudecken. Jetzt stellt sich Pierre neben ihn, was nicht einfach ist, weil der Sturm die Barke auf den aufgepeitschten Wellen tanzen läßt wie Kork. Pierres eisige Finger greifen hilfesuchend nach einem Tau, damit er nicht über Bord geschleudert wird.

    »Verfluchtes Wetter! Und verdammt kalt, Roland! Ich bin naß bis auf die Haut.«

    »Mir geht es nicht anders. Aber in weniger als einer Stunde erwartet uns zwei ein gemütliches Plätzchen am Kaminfeuer im Schloß von Morlaix.«

    Pierre le Rouge zeigt auf die einsame Frau.

    »Daß sie nicht vor Kälte stöhnt oder sich bei diesem Höllensturm fürchtet. Was ist das nur für eine Frau? frage ich dich.«

    Der Angesprochene schweigt.

    »Warum bringen wir sie nach Morlaix in aller Heimlichkeit? Kannst du mir das sagen? Als ob sich ein Dieb in der Nacht irgendwo einschleichen würde.«

    Roland de Raz stößt mit seinen Füßen ein leeres Faß beiseite, das ihn jetzt behindert. Was soll er dem Freund nur erklären, wenn es nichts zu sagen gibt?

    »Hörst du mich nicht, Roland? Bist du etwa taub?«

    »Nein, bin ich nicht. Siehst du den Streifen dort? Das ist Land, mein Junge. Wir haben es bald geschafft.«

    Auch die Frau hat seinen Ausruf verstanden und blickt nun erst nach vorn zum nahenden Ufer und danach zurück zum Heck. Ihre dunklen Augen leuchten geheimnisvoll, und ihre Wangen glänzen von der Gischt des Meeres.

    »Wie sie so dasitzt, das Haar zerzaust, sieht sie aus wie Botizäa, die Königin der Pikten, von der mir meine Mutter, als ich noch ein Kind war, so viele Schauergeschichten erzählt hat«, sagt Pierre.

    »Wer ist denn diese Botizäa gewesen? Ich habe ihren Namen noch nie zuvor gehört.«

    »Eine unglaubliche Frau ist das gewesen, Roland. Botizäa ist zwar schon lange tot, aber in Schottland unvergessen. Sie hat die römische Flotte angegriffen, als sich ihr Volk in höchster Not befand. Sie hat gekämpft mit dem Mut einer Löwin und gewonnen. Ihre Augen sollen Blut gesprüht haben. Das Beil in der Faust haltend, hatten sie die Römer gefürchtet wie eine Todesgöttin, die aus den Fluten auftaucht, um Schädel zu spalten und Brüste zu durchbohren. So ist diese Königin der Pikten zu Lebzeiten gewesen, heißt es. Und wenn ich diese Frau dort vorne betrachte, dann glaube ich fast, diese Königin ist wiederauferstanden.«

    »Vielleicht liegst du gar nicht mal so falsch!«

    Pierre le Rouge sah den Kapitän mit großen Augen an.

    »Wie meinst du das? Wer ist diese Frau? Warum verrätst du mir ihren Namen nicht?«

    »Ich darf es nicht, leider, mein Freund.«

    In diesem Augenblick nähert sich die Frau den beiden Männern. Ungläubig bemerkt Pierre le Rouge, daß sie trotz des Seegangs nicht einmal hin und her schwankt, geschweige denn irgendwelche Anzeichen von Furcht erkennen läßt. Als ob sie es gewöhnt sei, bei Sturm auf Deck herumzuspazieren.

    »Ich danke euch beiden tapferen Männern. Dank dafür, daß ihr mich und meine Kinder wohlbehütet zurück in meine Heimat gebracht habt.«

    Dann wendet sich die schlanke und hochgewachsene Frau direkt Pierre zu. Ein Lächeln umspielt ihre schmalen Lippen. Der Mann errötet unter ihrem Blick.

    »Roland de Raz weiß, wer ich bin. Er kennt mich seit vielen Jahren. Ihm ist auch bewußt, daß er sich in große Gefahr begeben hat, nur weil er mir hilft, den Franzosen zu entkommen. Aber es schien mir am sichersten, wenn so wenige wie möglich von meiner Rückkehr wüßten. Ich bin die letzten Jahre fast ausschließlich nur auf See gewesen.«

    Pierre le Rouge schluckt und reißt die Augen weit auf. Es gibt im Umkreis von tausend Kilometern nur eine einzige Frau, die dies von sich behaupten kann. War es denn möglich, daß ...

    Die Frau nickt ihm bestätigend zu.

    »Ja, ich bin Jeanne de Clisson. Du hast dein Leben für mich aufs Spiel gesetzt und verdienst es deshalb zu erfahren, für wen du es getan hast. Nochmals Dank dafür!«

    Sie dreht sich um und geht langsam und stolzen Schrittes zu ihren beiden Kindern zurück, die geduldig vorne im Boot auf ihre Mutter gewartet haben. Die zwei Männer sehen ihr nach.

    »Was wird sie daheim erwarten, sie, die soviel für unser Land getan hat?«

    Es ist Roland de Raz, der dies fragt.

    »Der König hat alle ihre Güter konfisziert. Jeder, der ihr hilft, soll des Todes sein. Ihren Mann hat er hinrichten lassen und seinen Kopf zur Abschreckung in Nantes über das Stadttor gehängt. Jeanne de Clisson besitzt nichts mehr außer ihrem Leben und ihren Kindern.«

    »Du kennst diese Frau?«

    Pierre le Rouge nickt.

    »Wer in der Bretagne kennt ihren ruhmreichen Namen nicht? Jedes Kind kann davon erzählen, was sie für uns alle geleistet hat.«

    »Ihr Kampf ist noch lange nicht vorbei. Und sie ist noch so jung!«

    »Aber sie wirkt bereits, als hätte sie die Erfahrung eines langen, gefährlichen Lebens hinter sich.«

    »Die königlichen Blois werden nicht eher Ruhe geben, bis sie Jeanne erfolgreich gejagt, verurteilt und enthauptet haben.«

    »Meine Hilfe hat sie uneingeschränkt«, verspricht Pierre. »Wann immer sie mich ruft, ich werde da sein!«

    Nur so hat sie überhaupt all die Jahre überleben können, denkt der Kapitän. Indem sie Männer wie Pierre für sich einnahm und so sehr begeisterte, daß sie von da an alles für sie taten. Er selbst nimmt sich davon nicht aus. Hätte er sonst diese gefährliche Überfahrt auf sich genommen? Aber das Leben von Jeanne de Clisson – oder Madame, wie die Franzosen sie respektvoll nennen – ist nicht immer so gefahrenreich verlaufen. Sie wurde als Adelige geboren und stammte aus reichem Hause. Jeanne hatte es sich keineswegs ausgesucht, als gefürchtete Piratin und Rebellin zu enden. Es war ihr vielmehr von einem ungnädigen und harten Schicksal aufgedrängt worden.

    2

    »Jeanne! Kleines! Du benimmst dich mal wieder unmöglich! Mädchen klettern nicht wie Jungen auf Bäume. Mädchen sind sittsam und versuchen nicht aufzufallen. Steig also sofort herunter und bemüh dich endlich, wie eine kleine Dame zu sein! Im übrigen wird deine Mutter furchtbar schimpfen, wenn sie erfährt, in welche Gefahr du dich begeben hast.«

    Amélie, die ältliche Zofe der jungen Grafentochter, seufzte laut, und wischte sich den Schweiß von der Stirn, weil sie auch einen möglichen Tadel durch ihre Herrin fürchtete: Genéviève de Belville. Die Gräfin hatte ihr besonderes Augenmerk auf ihre Tochter gelegt, nachdem sich bewahrheitet hatte, daß es ihr einziges Kind bleiben sollte. Nicht auszudenken, wenn dem Mädchen bei seinen waghalsigen Klettereien etwas zustieße. Aber seit den Tagen, als sie laufen gelernt hatte, gebärdete sich Jeanne wie ein Wildfang: immer ungestüm und ständig auf und davon laufen, wenn man sie bloß einen Moment lang aus den Augen ließ. Man hätte die Kleine schon wie einen Bluthund an die Leine legen müssen, um sie unter Kontrolle zu halten. Da hatte es die Zofe mit ihren zwei Halbbrüdern Maurice und Thomas erheblich leichter, stellten diese sie doch vor weitaus weniger Schwierigkeiten, sie zu beaufsichtigen. Was bei zwei halbwüchsigen Jungen schon wiederum ungewöhnlich war. Die Mutter von Thomas und Maurice war vor Jahren überraschend am Blutfluß im Kindsbett gestorben. Plötzlich knackte es bedrohlich über dem Kopf der Zofe.

    Entsetzt sah die Frau, wie sorglos Jeanne auf den Ästen herumhangelte. Dabei grinste die Kleine sie auch noch frech an:

    »Mach den Mund zu! Ich fall schon nicht runter, Amélie! Ich kann klettern wie eine Katze, das sieht doch jeder!«

    Und ob sie das sah! Aber es entsprach keinesfalls dem guten Ton. Daß Mädchen sich nicht so benehmen wie Jungen, war etwas, was man der Kleinen einfach nicht klarmachen konnte. Es schien beinahe so aussichtslos, als wollte man eine Katze vom Nesträubern abbringen. Amélie seufzte erneut. Aus Jeanne sollte einmal eine große Dame werden. Vielleicht sogar jemand, den der zukünftige Herzog der Bretagne zur Frau nehmen würde. Denn Jeanne war hübsch und verfügte bereits als Siebenjährige über einen ziemlich einnehmenden Charme. Außerdem stammte sie aus den besten Kreisen der Bretagne.

    »Ist ja schon gut, Amélie. Du ziehst ein Gesicht wie ein Wolf, der in ein Eisen getappt ist. Bevor du auch noch wie er zu heulen anfängst, klettere ich lieber wieder zu dir herunter.«

    Amélie verzog genervt die Mundwinkel nach unten. Jeanne hatte sich ihrer also erbarmt. Bei der seligen Jungfrau Maria, das konnte ja noch heiter werden, wenn das Mädchen älter wurde! Vermutlich hing dann alles nur noch von ihrem Wohlwollen ab. Und wer, bitte, sollte sie dann vernünftig erziehen? Sie jedenfalls würde es sich nicht zutrauen. Jeanne blieb unberechenbar.

    Das Mädchen rutschte den unteren Teil des Baumstammes behende herab, wobei sie sich geschickt mit beiden Händen festhielt. Daß sie keine Angst hat, sich dabei weh zu tun, wunderte sich die Zofe.

    »So! Da bin ich! Freust du dich?«

    Jeanne blickte zu der Frau vor ihr auf, und dies mit einer Unschuldsmiene, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte.

    Ich kapituliere, dachte Amélie, die bereits einige Kinder hatte aufwachsen sehen. Keines von ihnen war so selbstbewußt wie Jeanne gewesen.

    »So? Und was machen wir jetzt? Willst du mich etwa mit Tischsitten langweilen oder mit Verhaltensregeln, wie sie nur Erwachsene für gut finden können?«

    Die Zofe schwieg und rieb sich durch die müden Augen. Dann sagte sie: »Wir beide gehen jetzt langsamen Schrittes zurück ins Schloß. Es ist bald Tischzeit, und außerdem glaube ich gehört zu haben, daß Herzog Jean heute zu Besuch kommt.«

    Diesmal war es an Jeanne, sprachlos mit offenem Mund dazustehen. Aber nur kurz.

    »Onkel Jean kommt zu uns? Heute? Au fein!«

    Sie spurtete davon.

    »Aber ich habe doch gebeten, langsamen Schrittes ...«

    Amélie erhielt keine Antwort. Sie sah das Mädchen über die Wiese zu den breiten Stufen eilen, die zurück ins elterliche Schloß führten. Wenn Onkel Jean kam, der mächtige Herzog der Bretagne, dann gab es für Jeanne kein Halten mehr. Er wäre außer ihrem Vater im übrigen der einzige gewesen, der sie von irgend etwas hätte abhalten können. Onkel Jean, der nach Meinung des Mädchens Belville viel zu selten einen Besuch abstattete, liebte die Kleine nun einmal abgöttisch.

    Genéviève de Belville stand im Kabinett ihres Schlosses und schaute aus dem Fenster weit über die Zinnen der Burgmauer hinweg in die Ferne. Sie war allein. Die Gräfin trug ein smaragdgrünes Unterkleid, das in leichten Wellen über ihren schlanken Leib bis hinunter über die gestickten Sandalen wallte. Darüber schmiegte sich eine bis zu ihren Knien reichende samtschwarze Tunika, die von einem kostbaren Gürtel mit einem Beryll in der Taille umschlossen wurde. Ihr kastanienbraunes Haar hielt ein goldfadengesticktes Netz umfangen, doch nichtsdestotrotz hatten sich ein paar Locken auf ihre hohe Stirn verirrt.

    Das Kabinett war der Ort, an den sich die Schloßherrin am liebsten zurückzog, wenn sie allein mit sich und der Welt sein wollte. Die Wände des eher karg eingerichteten Raumes waren mit buntfarbigen Teppichen behängt. In der Mitte standen ein schmales Tischchen und ein hoher Stuhl, den ihr Gemahl vor einigen Jahren von einem Kreuzritter, der ins Morgenland gereist war, als Geschenk erhalten hatte.

    Genéviève de Belville war in Gedanken versunken. Sie nahm ihre Umgebung kaum wahr, vielmehr malte sie sich lebhaft die mögliche Zukunft ihrer Tochter Jeanne aus. Sie hatten nun mal nur ein Kind, und mit diesem Pfand mußte so hart wie möglich gewuchert werden, um das Bestmögliche für die Familie herauszuschlagen.

    Im übrigen waren dies Zeiten, in denen alle Bretonen und ganz besonders ihr Adel zusammenstehen mußten wie ein Heer. Gerade in früheren Jahrhunderten war es häufig vorgekommen, daß sich die einzelnen Fürstenhäuser bis aufs Blut bekriegt hatten, um ihren jeweiligen Einfluß zu vergrößern. Aber heutzutage durfte niemand mehr, der noch alle Sinne beisammen hatte, den Feind unter den eigenen Leuten erblicken. Der alleinige Feind der Bretagne hieß seit langem schon Frankreich, und seine Drohgebärden an den Grenzen des Landes wurden von Jahr zu Jahr gefährlicher. Deshalb war es jetzt um so wichtiger zusammenzustehen. Nur vereint konnten sie den Armeen Frankreichs trotzen oder sie sogar schlagen.

    Ein feiner Luftzug blies der Gräfin ins Gesicht. Sie begann zu husten und erwachte aus ihrem Tagtraum. Genéviève de Belville trat vom Fenster weg und setzte sich auf den Stuhl, der mal irgendeinem Scheich in einem fernen Land gehört haben mochte. Jeanne mußte unter allen Umständen mit den Clissons verheiratet werden. Nicht heute, aber sobald sie eine Frau geworden war. Aber der Weg zu dieser Ehe mußte schon heute geebnet werden. Die Clissons besaßen nicht nur große Macht in Nantes, sondern auch Einfluß auf die bedeutendsten herrschaftlichen Häuser der Bretagne. Um so wichtiger erschien es deshalb, wenn das Haus der Belvilles mit dem der Clissons verwandtschaftliche Banden einging. Für beide alteingesessenen Familien würde es von einem nicht zu unterschätzenden Vorteil sein, zukünftig miteinander und niemals mehr gegeneinander Politik zu betreiben. Leider war sie sich mit ihrem Gemahl Maurice uneins in dieser Frage. Maurice mochte die Clissons nicht, weil einige von ihnen ihn bei einer Parforcejagd einmal übervorteilt hatten. Eitles Männergehabe, dachte die Gräfin, und in diesen Zeiten völlig fehl am Platze. Um Maurice doch noch umzustimmen, hatte sie Jean III. zu sich eingeladen. Von seinem hohen Besuch erhoffte sich Genéviève de Belville die nötige Rückendeckung für ihre ehrgeizigen Pläne. Maurice, so meinte sie voraussagen zu können, würde sich einem Ansinnen des Herzogs sicherlich nicht widersetzen wollen.

    Vom Vorplatz des Schlosses, also noch jenseits der Brücke, die an nur einer Stelle über den breiten Wassergraben führte, der die ganze Anlage umschloß, klang plötzlich der dumpfe Ruf eines Horns an ihr Ohr. Jemand meldete, daß Besuch nahte. Das konnte nur Jean sein. Die Gräfin erhob sich von ihrem Platz und ging ohne Hast auf eine Ecke des Raumes zu, wo an der Wand ein kleiner vergoldeter Spiegel angebracht war. Geschickt ordnete die Frau mit ihren Fingern ihr dichtes blondes Haar und strich sich noch rasch die samtschwarze Tunika an Schultern und Brust sauber. Genéviève de Belville freute sich sehr auf das Eintreffen von Herzog Jean III., dem das Volk nicht zu Unrecht den Beinamen ›Le Bon – der Gute‹ gegeben hatte. Schon allein deshalb wünschte sie, daß der mächtige Gönner der Familie mit seinem Gefolge auf Belville eintraf, weil dadurch wenigstens für ein paar Tage wieder etwas Leben und Abwechslung ins Schloß kam. Denn für gesellige Anlässe oder Feiern war ihr teurer Gatte nur schlecht zu gewinnen. Derlei kam auf Schloß Belville viel zu selten vor.

    Und mit einem feinen Lächeln auf ihren Lippen gedachte sie ihres vom Temperament her oft aufbrausenden Gemahls, der von heute an zumindest in einem Punkt würde umlernen müssen, wenn ihm auch noch zukünftig daran gelegen war, daß die Belvilles ihre wichtige Rolle in der Politik des Landes auch weiterhin besaßen.

    Als die Gräfin gemessenen Schrittes die Treppe hinunter in die Vorhalle gegangen und von dort kaum weniger gemächlich auf dem obersten Absatz der breiten Stufen am Haupteingang angelangt war, stieg der Herzog, der wie immer die Spitze seines Reitertrosses anführte, gerade von seinem prächtigen Hengst. Hervé hieß das herrliche Tier, das so schwarz wie die Nacht war – und der ganze Stolz seines Herrn.

    »Bei den alten fetten Druiden vom Feenstein!« meldete sich überraschend eine zarte Kinderstimme. »Was hast du da für ein schönes Pferd, Onkel Jean?«

    Es war natürlich Jeanne, die sich geschwind wie ein Wiesel einen Weg zwischen den verdutzten Soldaten hindurch bahnte, um so schnell wie möglich an den Rappen mitten auf dem Schloßhof heranzukommen. Graf Maurice de Belville verdrehte entsetzt die Augen wegen ihres ungebührlichen Benehmens und wollte schon die Stimme zu einem mächtigen Donnerwetter erheben. Aber die Gräfin zupfte ihn noch rechtzeitig am Ärmel und hielt ihn so zurück.

    »Laß sie! Jean mag sie so am liebsten, glaub mir!« raunte Genéviève ihrem Gemahl zu.

    Sie wußte, daß der Herzog das unkonventionelle Verhalten ihrer Tochter Jeanne keineswegs mißbilligte. Er mochte das Mädchen wohl vor allem deshalb so sehr, weil sie ihn ein wenig an die eigene stürmische Kindheit erinnerte und er leider Gottes selbst keinerlei Nachkommen besaß. Zwar wurde in Adelskreisen immer wieder gemunkelt, daß es illegitime Söhne des Herzogs im Lande verstreut gäbe. Zu sehen bekommen hatte allerdings noch niemand ein solches Kind und würde es wohl auch nicht.

    »Sie wird von Mal zu Mal aufgeweckter – Eure Jeanne – und scheint mir, beim heiligen Gwénolé, weder Tod noch Teufel zu fürchten.«

    Jeanne hatte in diesem Moment das stolze Pferd des Herzogs erreicht und kraulte es am Kopf.

    »Reißt nur weit genug Eure Augen auf, Ihr Belvilles da oben, und staunt über Euer Fleisch und Blut!« rief der Herzog erstaunt aus. »Hervé läßt sich sonst von keinem außer mir und meinem treuen Stallknecht Guillaume anfassen. Mit seinen Hufen hat er schon einmal einen Soldaten des Königs entmannt, als dieser ihm zu nahe kam. Aber Eure Jeanne darf den Hengst berühren und, beim Hummer von Quimper, es scheint ihm auch noch zu gefallen. Unglaublich!«

    Jean meinte den französischen König, den jeder aufrechte Bretone haßte wie Läuse im eigenen Pelz.

    Danach hob Jean lachend das Mädchen vom Boden hoch und setzte es auf seine breiten Schultern. So stieg er mit dem Kind, dessen Locken im Wind wehten, die Stufen zum Schloß seiner Eltern empor. Oben angekommen, setzte er Jeanne behutsam wieder ab, gab ihr dabei einen feuchten Kuß auf beide Wangen, begrüßte den Grafen und die Gräfin eher flüchtig und fragte sogleich nach Erfrischungen und Krügen guten Weins. Im übrigen wolle er sich ein wenig ausruhen, weil die Anreise beschwerlicher als erwartet gewesen sei.

    »Ihr solltet wirklich Eure Wege mehr in Ordnung halten, Maurice. Zweimal sind meine Wagen im Schlamm steckengeblieben. Das war wenig erfreulich! Es hielt mich viel zu lange auf! Der letzte Regen hat den Boden aufgeweicht wie Butter. Wir haben Stunden über Stunden verloren, sie wieder herauszuziehen.«

    Der Getadelte wich seinem Blick aus und brummte etwas wie: »Wer mich besuchen will, wird mich schon zu finden wissen«, oder so ähnlich –, aber der Herzog war schon weitergeeilt, um diese Bemerkung noch zu hören. Jeder im Schloß und im Umkreis wußte, daß Graf Maurice de Belville einfach viel zu geizig war, um seine Zufahrtswege in Ordnung zu halten. Lieber steckte er sein ganzes Geld in die Jagd, als daß es ihm eingefallen wäre, sein Land, alle Wege und Straßen darin in Ordnung zu halten. Seine Frau ließ keine Gelegenheit aus, ihren knausrigen Gemahl immer wieder daran zu erinnern, weil sie sich für seinen Geiz so sehr schämte. Sogar am Schloß selbst verwandte der Graf sein Geld nur für das Nötigste.

    »Ein echter Bretone verschwendet sein Geld nicht für Luxus, wie es die Franzosen tun. Er gibt es sinnvoll aus, entweder für Kriege oder für die Jagd«, lautete seine Devise. Damit war das Thema für ihn beendet.

    Am frühen Abend war die Tafel im großen Saal des Schlosses festlich gedeckt. Im Kamin brannte ein großes Feuer. Fackeln an den Wänden erhellten den Saal. Die Stimmung der Gäste war gut. Genéviève de Belville hatte noch Freunde und Verwandte eingeladen. Sie sollten ja schließlich nicht im ungewissen darüber bleiben, wie gut es der Herzog mit den Belvilles meinte.

    Speisen und Getränke wurden reichlich aufgetischt. Es gab Fasan und anderes Wildbret, dazu frische Waldpilze, Bohnen und Rüben, süße Kuchen, kleine Crêpes mit Früchten, Wasser und vor allem viel, viel Wein. Wein war teuer und mußte aus Südfrankreich in Fässern bezogen werden, aber Wein war neben der Jagd das einzige, was sich der Graf reichlich gönnte. Eine Delikatesse, die er sich im Gegensatz zu anderen Adeligen im Lande versagte, war Zucker, der noch um vieles teurer und kostbarer war als Wein. Zweimal erst in ihrer Ehe hatte er Genéviève mit dieser sogenannten ›maurischen‹ Delikatesse überrascht: bei der eigenen Hochzeit und am Tage nach der Geburt ihrer Tochter Jeanne. Um so mehr freute sich die Gräfin, als ihr der Herzog bei Tisch überraschend ein solch süßes Stückchen als Gastgeschenk überreichte. Ein Raunen ging durch die Anwesenden, weil Jean III. dadurch nicht nur die Frau des Hauses im besonderen ehrte, sondern auch allen im Lande den Stellenwert verriet, den die Belvilles bei ihm innehatten. Genéviève schoß auch augenblicklich die Röte ins ansonsten makellos reine Gesicht, wobei es auch nicht wenige Spötter unter den anwesenden Adeligen gab, die behaupteten, daß die Gräfin dies ohnehin auf Kommando könne. Der Herzog jedenfalls zeigte sich von ihrem Charme tief beeindruckt und brachte einen Toast auf die »bezaubernde und ewig junge« Genéviève de Belville an.

    Bei Tisch ging es recht laut und lebhaft zu. Man aß mit den Händen, zerbrach die Knochen des Geflügels, schmatzte lustvoll, wischte sich die fettigen Finger am eigenen Gewand ab und schob sich kurz darauf das Gemüse oder die Crêpes mit Früchten in den triefenden Mund. Der Wein floß in Strömen; es wurden immer wieder gefüllte Krüge mit dem kostbaren Rebensaft auf den langen Tisch gestellt. Dann, nachdem der erste Hunger gestillt war, kam der Barde und sang, begleitet von einer Laute, vom faulen, aber gierigen König der Franzosen, dessen Bauch bald aus allen Nähten zu platzen drohte. Den Anwesenden gefiel es, und sie lobten den Barden, der sich mit Zugaben bei ihnen bedankte. Die Gespräche bei Tische drehten sich unter anderem auch um jüngste Geschäftsbeziehungen mit Italien, wo in Florenz die mächtige Calimala, die traditionsreiche Zunft von Tuchhändlern, ihre Fühler bereits bis ins Innere der Bretagne ausgestreckt hatte. Hier und da wurde auch heftig über Politik geredet. Vor allem über französische. Graf Bernard de Guincamp brachte das Gespräch unter anderem auf die Templer, deren Orden von den Franzosen in den letzten Jahren verfolgt und systematisch vernichtet worden war.

    Philipp der Schöne, einstmals König von Frankreich, hatte vor einigen Jahren die Inhaftierung der Templer befohlen, weil er sich an ihren sagenhaften Schätzen bereichern wollte. Die großangelegte Verhaftungswelle hatte die klugen Ordensbrüder völlig überrascht, so daß sie sich gegen die königliche Willkür kaum zur Wehr gesetzt hatten. Allein am ersten Tag waren 15 000 von den Männern mit den weißen Mänteln und dem roten Tatzenkreuz darauf in Ketten gelegt worden. Philipp und vor allem der Papst hatten den Templern Blasphemie und Paktieren mit dem Teufel zur Last gelegt. Von angeblich schlimmen Greueln war gar die Rede gewesen. Der Großmeister des Ordens, Jacques de Molay, ein Mann, den jeder aufrechte Bretone geschätzt hatte, war im Jahre 1314 auf der Pariser Seine-Insel bei einer Nacht-und-Nebel-Aktion verbrannt worden. Auf diese feige Tat bezog sich Graf Bernard de Guincamp, als er ganz erregt ausrief:

    »Den armen Molay haben sie ohne jeglichen Prozeß ermordet. Wie ein Stück Vieh wurde er in Paris verbrannt. Diese Franzosen sind schlimmer als seinerzeit die Mauren,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1