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Das Mädchen, das die Träume webt
Das Mädchen, das die Träume webt
Das Mädchen, das die Träume webt
eBook706 Seiten9 Stunden

Das Mädchen, das die Träume webt

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Über dieses E-Book

Angst. Panik. Ein Schrei dann schrecke ich aus dem Schlaf.Nacht für Nacht dasselbe und ich weiß nicht, wann es aufhören wird. Meine schlimmsten Ängste, sie werden Realität und treiben mich in den Wahnsinn und das alles seit diesem Autounfall mitten im Green Darkness. Und seitdem erinnert sich Nathan an mich, obwohl das doch sonst keiner kann. Erst recht nicht er. Sollte es dieses Mal wirklich anders sein?Sollte es wirklich meine Schuld sein diese Träume, dieses Lied?Es ist eine Gabe, hat sie gesagt.Doch für mich ist es eher ein Fluch.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Jan. 2020
ISBN9783959912693
Das Mädchen, das die Träume webt
Autor

Carolin Herrmann

Carolin Herrmann wurde 2000 geboren und lebt derzeit im ländlichen Osnabrücker Raum (um das Wort Kuhkaff nicht zu verwenden). Nach einem freiwilligen sozialen Jahr studiert sie Grundschullehramt für Deutsch und Religion… Und wenn sie sonst das Gefühl hat, sie platzt, wenn sie ihre Ideen nicht aufschreibt, bloß weil sie ein schönes Gebäude gesehen hat und schon eine ganze Geschichte voller mystischer Kreaturen durch ihren Kopf schwirrt, ist dieser jetzt wie leergefegt, wenn es darum geht, in ein paar Sätzen etwas über sich selbst zu erzählen. Kitschigerweise hat sie sich bereits als junges Mädchen gerne Geschichten ausgedacht und sie mit anderen Kindern nachgespielt. Und nach krakeligen Buntstiftzeichnungen zum Vater- und Muttertag wurden diese dann, sobald sie schreiben konnte, auf Papier oder Laptop festgehalten. Neben diesem Hobby füllt nun kochen, alles nach Farben sortieren und vor allem Unmengen an Schokolade verdrücken ihre Freizeit.

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    Buchvorschau

    Das Mädchen, das die Träume webt - Carolin Herrmann

    1

    Sie

    Es war dunkel. Das weiß ich noch.

    Dann hört es schon auf. Ich treibe in einer unendlichen Dunkel­heit, mal an der Oberfläche des schwarzen Sees, mal im tiefen, undurchdringlichen Wasser. Ich kann nichts erkennen, fühle mich schwerelos und seltsam leicht. Die Erinnerungen wirbeln in meinem Kopf durcheinander, doch ich kann sie nicht fassen, nicht greifen und ein richtiges Bild erhalten.

    Sie sind schemenhaft, verschwommen, als wäre ich unter Wasser und würde krampfhaft versuchen, die Augen aufzureißen. Es ist eigenartig, denn es fühlt sich an, als würden sie gar nicht zu mir gehören und nicht richtig in mir sein. Als taumelte ich haltlos durch die schwarzen Fluten und sie mit mir.

    Augen blitzen wie glühende Lichter vor mir auf und verschwinden wieder.

    Seine Augen.

    Sie sind das Einzige, was geblieben ist, das Einzige, was mich hält. Ich müsste mich wohl wundern, wo ich bin und vielleicht sollte ich Angst haben, dass ich in dem schrecklichen Dunkel ertrinke, aber da ist nichts. In mir drin ist kein einziges Gefühl, als wären sie alle aus mir herausgesaugt worden.

    Alles, was in mir Platz findet, ist Ruhe. Eine tiefe Ruhe, die mich ausfüllt und jegliche anderen Gedanken verdrängt. Seine Augen schauen mich an und wenngleich es nur Augen sind, geht von ihnen Wärme und Geborgenheit aus. Ich klammere mich an sie, denn außer ihnen habe ich nichts. Sie sind mein Anker, damit ich nicht untergehe und unter den Fluten begraben werde.

    Alles, was einmal war, spielt keine Rolle mehr.

    Schlafen. Ich möchte einfach nur schlafen.

    Doch ich kann nicht, seine Augen halten mich fest und ich darf sie nicht loslassen.

    Trotzdem habe ich das Gefühl, als würden sie verblassen, verschwinden. Mit einem Mal erfasst mich eine rasende Angst, ich beginne zu schreien, doch es kommt kein Ton heraus.

    Ich sinke tiefer, das Wasser zieht mich nach unten, reißt mich mit sich. Die Wellen schlagen über mir zusammen und rauben mir für einen Moment die Sicht. Ich kreische, strecke die Hände nach der Erinnerung an diese Augen aus. Es gibt keine Erklärung für das. Es ist ein flüchtiger Gedanke, ein leiser Ruf, ein Instinkt.

    Ich darf sie nicht verlieren.

    Keuchend schnappe ich nach Luft, obwohl da keine mehr ist. Das dunkle Meer nimmt mich in Besitz und ich spüre, je weiter es mich mit sich zieht, desto schlimmer wird das Gefühl. Die Panik, die eiskalte Angst.

    Seine Augen geraten in weite, unnahbare Ferne und ich verliere jegliche Kontrolle, die überwältigende Furcht ergreift mich. Schreiend schlage ich um mich, ringe nach Atem, spucke Wasser aus und huste.

    Doch das Meer ist unerbittlich. Ich ertrinke und seine Augen verschwinden wie meine Erinnerungen.

    Abrupt reiße ich die Lider auf.

    Gleißend helles Licht blendet mich und ich kneife sie mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder zusammen. Mein Kopf ist schwer und dröhnt und in meinem Ohr klingt ein nerviges Piepen. Es ist zwar nur ganz schwach zu vernehmen, so eben laut genug, um mich daran zu erinnern, dass es da ist.

    Vorsichtig blinzele ich zwischen meinen Wimpern hindurch, um meine Pupillen zu schützen. Ich kann förmlich spüren, wie sie sich nach der Dunkelheit winzig klein zusammenziehen.

    Es dauert einige Sekunden, bis aus den unerträglich hellen Strahlen Umrisse und Formen werden, die ich erkennen und zuordnen kann. Ich wage mich kaum zu rühren, solange ich nicht weiß, wo ich gelandet bin, und nur meine Blicke huschen unruhig hin und her.

    Es ist still. Verdächtig still. Ich mag Stille, aber gerade jetzt finde ich sie unheimlich, weil ich keinen Anhaltspunkt habe, wo ich gelandet sein könnte.

    Ich linse zur Seite. Graue Vorhänge vor einem riesigen Fenster, durch einen schmalen Spalt dringt dämmriges Tageslicht ins Innere. Wahrscheinlich dämmert erst der Morgen. Mein Blick gleitet über die hässlichen Stoffe weiter zu der Wand gegenüber von mir. Sie ist weiß tapeziert und leere Bilderrahmen sind daran aufgehängt worden. Ihre silbrigen Rahmen glänzen und reflektieren das milchige Licht der Lampe an der Decke.

    Hinter den Rahmen ist ein gähnend leeres weißes Papier.

    Wow. Welch ein kreatives Genie ist denn auf die außergewöhn­liche Idee gekommen?

    Von diesen … besonderen Gemälden hängen drei an der Wand. Links von mir führt eine ungewöhnlich breite Tür nach draußen. Sie ist genauso langweilig grau wie die Vorhänge und wirkt auf mich trist und öde.

    Hm. Vorhänge, leere Bilder, weiße Wand und eine Tür.

    Sagt mir nichts.

    Ich schaue an mir herab. Eine weiß-grau gestreifte Bettdecke wurde über mir ausgebreitet, sie ist dünn und hält kaum warm. Ich spüre die leichte Gänsehaut an meinen Armen. Sie ruhen auf der Decke, wobei man an meinen linken Zeigefinger eine Klemme angeschlossen hat. Ein Kabel führt davon zu einem Bildschirm, auf dem eine grüne Linie meinen Herzschlag anzeigt. Ich bin kein Arzt, aber es bilden sich stets gleiche Hügel auf dem EKG und das soll wohl was Gutes heißen.

    Daher kommt das gleichmäßige Piepen.

    Außerdem trage ich einen verflixt hässlichen Fetzen Stoff, der wohl ehemals weiß gewesen sein soll, jetzt jedoch verwaschen, ausgeblichen und deswegen genauso grau wie alles andere im Raum ist.

    Ein beißender, antiseptischer Duft steigt mir in die Nase und ich verziehe angewidert das Gesicht. Der Spender neben der Tür mit diesem ekelig klinisch riechenden Desinfektionszeug gibt dann den letzten Hinweis.

    Ich muss im Krankenhaus gelandet sein.

    Stöhnend drehe ich meinen Kopf leicht und sofort rast ein brennender Schmerz von meinem kleinen Zeh hoch bis in die Stirnhöhle und ich muss die Zähne fest aufeinanderpressen, um nicht laut aufzuheulen.

    Was mache ich im Krankenhaus?!

    Ich versuche den Muskeln in meinem Körper zu befehlen, möglichst still zu halten, da jede kleine Bewegung von meinem momentan überempfindlichen Nervensystem protestierend aufgenommen wird.

    Zaghaft bewege ich den linken Ringfinger. Als kein weiterer Schmerzstoß folgt, probiere ich vorsichtig die anderen Finger und dann schaffe ich es, beide Hände zur Faust zu ballen und wieder zu lösen.

    Die Frage ist – woher stammen die Verletzungen?

    Wunderbar – jetzt wäre es gut, sich erinnern zu können, was passiert ist, aber es ist noch schlimmer als unter den dunklen Wellen. Mein Kopf ist leer und schwer und mein Gehirn will sich nicht besonders anstrengen und mir helfen. Ich schließe die Augen, um mich besser konzentrieren zu können.

    Selbst das verursacht ein schmerzhaftes Ziehen zwischen den Brauen. Ich fühle mich, als würde ein Teil von mir sich von meinem Körper loslösen. Als wäre ich ein kleiner leuchtender Punkt, der durch meinen Geist wandert und dort nach den Informationen sucht, die ich brauche. Doch da sind überall verschlossene Türen und bleierne Schwärze und der kleine Punkt vermag nicht sie zu öffnen oder aufzuheben. Ich irre umher und finde – nichts.

    Die Tür springt mit einem Ruck auf, so plötzlich, dass ich erschrocken die Lider aufreiße und mein Kopf herumfliegt. Keine gute Idee.

    Der Schmerz treibt mir förmlich die Tränen in die Augen und ich drücke die Fingernägel in die verletzliche Handfläche.

    Eine junge Frau mit Kurzhaarschnitt und einem weißen Kittel kommt herein. Ihre Haare müssen gefärbt sein, denn das Blond wirkt leicht gelblich in der Deckenbeleuchtung. Unter dem Arm trägt sie ein Klemmbrett mit Stift und an ihrer Brusttasche ist ein kleines Schild befestigt:

    Fallington.

    Aha.

    Meine Lippen sind zusammengepresst und mein Blick verschlossen, während ich ihr mit den Augen folge, wie sie den Raum durchquert.

    Ihr Lächeln ist gezwungen freundlich, als Krankenschwester muss sie vermutlich ständig so lächeln und sie trägt diese durchsichtigen Handschuhe gegen Bakterien. Außerdem stelle ich von Nahem fest, dass sie überhaupt keine Schminke aufgelegt hat. Deshalb kann man ihre dunklen Augenringe erkennen. Wahrscheinlich hat sie eine Nachtschicht gehabt und ist jetzt müde und fast fertig mit der Arbeit.

    Das ist so eine Macke von mir. Ich mache es ständig. Ich schaue mir Menschen überaus genau an und versuche alles an ihnen zu deuten, um mehr über sie zu erfahren und hinter die Fassade zu schauen. Ihr Aussehen, ihre Mimik, Gestik und Sprache.

    Miss Fallington (ich glaube nicht, dass sie bereits verheiratet ist) beugt sich zu mir herab und drückt die Mine des Kugelschreibers mit einem Klicken heraus.

    »Alles okay?«

    Ich will nicken, habe aber Angst, dass es heftig wehtun wird. Mein Hals ist trocken und ich bringe nicht mehr als ein heiseres Krächzen heraus, doch sie schreibt bereits etwas auf das Klemmbrett.

    Dann setzt sie sich auf mein Bett und ich will reflexartig zur Seite rücken. Ich mag die Nähe anderer Menschen einfach nicht gern, im Gegenteil. Ich bekomme Platzangst wie in einem zu engen Raum, fühle mich unwohl und habe das Gefühl, entweder weglaufen oder schreien zu müssen.

    Deswegen verhärtet sich mein Blick jetzt und ich starre demonstrativ in die entgegengesetzte Richtung. Entweder ist sie tatsächlich so blöd wie blond oder sie ist übermüdet und will nur nach Hause, denn sie reagiert nicht auf mein offensichtliches Unbehagen.

    »Du bist von einem Auto angefahren und danach ohnmächtig geworden. Allerdings ist dir außer einer Platzwunde nichts Ernstes zugestoßen.«

    Sie kramt eine kleine Taschenlampe hervor und ich schiele unruhig zu ihr hinüber.

    »Schau mich bitte an«, sagt sie, dann leuchtet sie mir in die Pupillen und ich muss mich zusammenreißen, um ihren Anweisungen ruhig zu folgen. Ich weiß, sie muss es machen, um zu sehen, ob ich eine Gehirnerschütterung habe.

    Kaum dass sie fertig ist, schließe ich die Augen und versuche die Krankenschwester so auszublenden.

    »Es ist alles so weit in Ordnung. Wir wollen dich zur Sicherheit heute noch hierbehalten, am Abend kannst du nach Hause.«

    Ich höre, wie sie einen Zettel vom Klemmbrett reißt.

    »Und füll dieses Formular bitte mit deinen persönlichen Daten aus, damit wir deine Eltern anrufen können.«

    Sie seufzt und sagt, mehr zu sich selbst als zu mir:

    »Und dann muss ich nur noch diesen Jungen am Empfang loswerden …«

    Junge.

    Ich kneife die Augen noch ein wenig fester zu, während tief in meinem Inneren eine Erinnerung, ein verzerrtes Bild aufleuchtet. Ich versuche mich zu entspannen und darauf zu warten, bis es schärfer wird, anstatt panisch danach zu greifen. Dabei entwischt es mir wieder.

    Das Bild treibt langsam an die Oberfläche meines Bewusstseins und dann kann ich es endlich erkennen.

    Für einen Augenblick beginnt sich alles zu drehen und mir wird so schwindelig, dass ich froh bin, schon zu liegen, sonst wäre ich mit Sicherheit auf der Stelle umgefallen.

    Mein Zimmer.

    Mein Bett.

    Ich will schlafen, wälze mich hin und her.

    Ein Traum, seltsam real, ich laufe durch den Wald, laufe vor irgendetwas davon.

    Es ist kalt. Es ist dunkel. Meine Füße sind nackt und ich zittere vor Kälte am ganzen Körper.

    Als ich aufwache, sehe ich den Sternenhimmel über mir. Bevor ich noch verstehe, erfasst mich das Licht von Scheinwerfern.

    Ich wirbele herum.

    Sehe direkt in seine Augen.

    Und sie sind alles, was bei mir hängen bleibt.

    Ich höre mich schreien.

    Dann kommt die Dunkelheit.

    Ich keuche entsetzt auf. Die Erinnerung an den merkwürdigen Traum hat mir den Atem geraubt, als hätte ich ihn noch einmal erlebt, als wäre ich vor wenigen Sekunden tatsächlich noch durch den Wald gestürmt.

    Fallington dreht sich zu mir um, die Hand bereits an der Tür. Ich habe nicht bemerkt, dass sie aufgestanden ist. Sie runzelt die Stirn.

    »Alles in Ordnung? Hast du Schmerzen?«

    Ich schüttele schwach den Kopf, selbst wenn das nicht ganz der Wahrheit entspricht. Immerhin ist es nicht mehr das brennende Rasen, sondern nur noch ein unterschwelliges Stechen hinter der Stirn.

    Nicht angenehm, aber ertragbar.

    Sie zögert einen Moment, doch anscheinend hat sie keine Lust, sich länger mit mir zu befassen. Sie öffnet die Tür, bleibt allerdings draußen auf dem Flur noch stehen.

    »Ach, und da ist ein junger Mann, der zu dir will. Da er kein Familienangehöriger ist, konnte ich ihn bisher noch nicht reinlassen. Willst du ihn sehen?«

    Abermals schüttele ich den Kopf und es ist, als würde das Stechen von einer Seite auf die andere fliegen und von innen gegen meinen Schädel hämmern.

    Wer es ist, ich will keinen Besuch. Ich muss erst einmal meine Gedanken ordnen und begreifen, was geschehen ist. Ich war gestern nämlich ziemlich sicher zu Hause in meinem Bett und jetzt bin ich zwar wieder in einem, jedoch ganz bestimmt nicht in dem, in dem ich eingeschlafen bin.

    Die Schwester ist verschwunden und ich setze mich vorsichtig auf. Das klingt leicht, aber ich bewege mich ungefähr in dem Tempo einer tausend Jahre alten Schildkröte. Während ich mir auf die Lippe beiße, stemme ich mich mit den Armen hoch, drücke den Rücken durch und hieve mich Zentimeter für Zentimeter nach oben, bis ich eine halbwegs sitzende Position eingenommen habe und völlig am Ende meiner Kräfte bin.

    Benommen streiche ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und meine Finger streifen ein dickes Heftpflaster, das auf meiner Stirn prangt.

    Im selben Moment fliegt die Tür auf und kracht sogar gegen die Wand.

    Öffnet hier niemand normal die Türen?

    Ich wende mich so schnell es eben schmerzfrei geht zur Seite und betrachte den nächsten Gast.

    Es ist ein Junge.

    Der Junge.

    Ich erinnere mich zwar nicht an seine allgemeine Gestalt, doch seine Augen blitzen wie gestern Nacht auf. Sie sind von einem interessanten Blau mit goldbraunen Sprenkeln darin. Eigentlich hätte ich das niemals auf diese Distanz erkennen können, aber ich bin mir trotzdem sicher.

    Er wirkt völlig außer Atem und seine blond-braunen Haare sind verwuschelt, sein Gesicht blass und zerknittert, als hätte er kaum geschlafen, und seine Haut ist aschfahl. Unter seinen auffallenden Augen liegen tiefe Schatten.

    Obwohl ich ihn gestern nicht erkennen konnte, ist er mir bekannt.

    Natürlich.

    Es handelt sich um Nathan Clark, Footballer, Zwölftklässler. Er geht auf die Westriver Highschool und verbringt seine Pausen entweder auf dem Hartplatz hinter der Schule, um mit seinen Kumpels zu trainieren, oder in der Mensa an einem der guten Tische, wo die ganze Mannschaft und hin und wieder die Cheerleader sitzen, die stets mit Lästereien beschäftigt sind.

    Nathan Clark, der mich früher einmal auf dem Spielplatz angetippt und eingeladen hat, mit ihm und den anderen Verstecken zu spielen, weil ich allein war. Er hat meine Hand gehalten und sich mit mir in den Büschen versteckt und niemand konnte uns finden.

    Nathan Clark, der offiziell zu der Elite an unserer Schule zählt, zu denen, die sich für etwas Besseres halten und sich unbedingt von den anderen abheben wollen. Sie haben ihre Stammplätze in der Cafeteria, auf den Schulbänken und im Klassenraum. Sie sind Klassen- und Schulsprecher, Ballkönigin und Gewinner von Wettbewerben. Sie sehen gut aus und können alles am besten.

    Ich kann solche Leute nicht ausstehen.

    »Verstehst du nicht, was Nein bedeutet?«, frage ich kühl und schaue an ihm vorbei. Schließlich habe ich der Krankenschwester gesagt, ich will ihn nicht sehen. Doch er überhört mich schlicht und fällt mir hastig ins Wort.

    »Hey, es tut mir total leid, was passiert ist, ehrlich!«

    Seine Stimme ist heiser und kratzig, als hätte er tatsächlich nicht viel geschlafen.

    »Du solltest wohl besser aufpassen.« Trotzdem meine Stimme angeschlagen und eher ein raues Flüstern ist, schaffe ich es, abweisend zu klingen.

    Er kommt auf mich zu. Mein Herz beginnt augenblicklich zu rasen.

    Ich rieche Deo und einen zarten eigenen Geruch.

    »Schon klar, ich war bei Ben, du weißt ja, die Fete, und dann war ich so fertig. Außerdem bist du wie aus dem Nichts aufgetaucht!« Er runzelt leicht die Stirn, als würde es ihm jetzt erst einfallen. »Vielleicht solltest du auch besser aufpassen.«

    Obwohl ich mir selbst nicht erklären kann, wie ich in den Wald gekommen bin, rümpfe ich die Nase.

    »Ich wusste nicht, dass um drei Uhr nachts die Möglichkeit besteht, dort von einem betrunkenen Verrückten angefahren zu werden. Niemand benutzt jemals diesen Weg.«

    Nathan Clark ist jetzt vor meinem Bett angekommen und es kommt mir vor, als wollte mein Herz meine Brust sprengen. Das Piepen des Automaten ist inzwischen zu einem hysterischen Schrillen geworden und verrät mich.

    »Deswegen bin ich hier. Ich saß die ganze Zeit da, weil ich mich entschuldigen wollte. Du hast recht, sorry.«

    Er streckt mir die Hand hin, aber ich ignoriere sie.

    »Wenn ich deine Entschuldigung annehme, verschwindest du dann?«

    Ich will mich nicht länger mit ihm unterhalten. Niemand von der Elite unterhält sich mit mir und er tut es nur, damit er kein schlechtes Gewissen hat. Bestimmt ist es ihm peinlich, sich bei jemandem wie mir zu entschuldigen.

    Ich gehöre nicht zu ihnen.

    Ich bin allein.

    Wie gesagt, ich komme mit Menschen nicht so gut klar, ich kann das einfach nicht und das ist okay. Mein Leben funktioniert auch so. Es ist zwar jeden Tag relativ gleich, aber das macht nichts.

    Und ich mag ihn nicht. Nicht mehr.

    »Na ja. Ich will es wiedergutmachen. Dir hätte echt was Schlimmeres passieren können als nur eine Platzwunde.«

    Er fährt sich durch die ohnehin verwuschelten Haare.

    »Wie heißt du eigentlich?«

    Beinahe hätte ich aufgelacht. Es ist schon lustig, wie ich alle sehe und sie sehen mich nicht. Wir haben uns gemeinsam versteckt und ich weiß so vieles über ihn, doch er kennt nicht einmal meinen Namen. Natürlich nicht.

    »Geh raus.«

    »Seltsamer Name«, witzelt er, aber ich reagiere nicht. Ich bin müde. Einfach nur schrecklich müde.

    »Geh raus, Clark.«

    »Warte mal kurz, du …«

    »Bye!«, schneide ich ihm das Wort ab und drehe mich trotz des hässlichen Stechens und unerträglichen Pochens in meinem Kopf zur Seite, um ihm den Rücken zuzuwenden. Das rasende Piepen verwandelt sich fast in einen einzigen hoch fiependen Ton und das macht mich nur noch unruhiger. Nathan Clark soll nicht wissen, wie nervös ich bin. Ich kann ihm nicht in die Augen sehen. Dann müsste ich weinen. Weil er hier ist und so tut, als würde ihm all das etwas ausmachen. Schon morgen wird er mich allerdings wieder vergessen haben. Auf den Schmerz der Enttäuschung kann ich gut verzichten, deshalb ist es besser, wenn ich keinen weiteren Gedanken an ihn verschwende.

    Eine Weile bleibt er noch stehen, doch als er merkt, dass ich es ernst meine, geht er.

    Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss und es gibt wieder nur mich allein in dem grauen Zimmer.

    2

    Sie

    So bleibt es für den Rest des Tages. Abgesehen von Miss Fallington, die noch zweimal hereinschaut und mir mit ihrer Taschenlampe in die Augen leuchtet. Allerdings kann sie nichts feststellen.

    Und die Lähmung nach dem Schock lässt ebenfalls nach. Ich bin mir immer noch nicht sicher, wie ich überhaupt in den Wald gekommen bin, doch ganz gleich, wie stark ich mich zu erinnern versuche, da ist nichts. Absolut gar nichts, nur eine tiefe und undurchdringliche Dunkelheit. Als hätte jemand eines dieser riesigen Radiergummis genommen und alle Gedanken und Bilder aus meinem Kopf gelöscht.

    Nur die Schatten davon geistern noch in ihm herum, aber viel zu schwach, als dass ich irgendetwas in ihnen erkennen könnte. Es ist schrecklich frustrierend. Mir fällt beim besten Willen kein Grund ein, was ich mitten in der Nacht im Green Darkness zu suchen hätte. Den Namen trägt der Wald seit Ewigkeiten, obwohl er reichlich unkreativ ist. Das scheinen die Leute in Westworgh allgemein zu sein. Die anderen Wälder haben nicht viel bessere Namen, etwa Little Green oder The Old Forest.

    Beinahe hätte ich gelacht. Als würden die Namen unserer Wälder jetzt eine Rolle spielen.

    Ich blicke aus dem Fenster beziehungsweise in die Richtung des Fensters, denn die Vorhänge sind weiterhin zugezogen. Angestrengt starre ich auf den kleinen Spalt zwischen ihnen, als könnte ich ihn nur durch meine Willenskraft dazu bringen, größer zu werden und mir die Sicht nach draußen zu gewähren.

    Aber etwas wirklich Interessantes gibt es da wahrscheinlich ohnehin nicht zu sehen. Ich lache trocken auf. In Westworgh gibt es nie etwas Interessantes zu sehen. Zwar ist Minnesota der zweitgrößte Staat des mittleren Westens, wir leben hier jedoch in einem winzigen Kaff im absoluten Nirgendwo, umgeben von Bäumen und einem Fluss, der die Stadt – Entschuldigung, das Dorf – umgibt wie ein Burggraben das Schloss. Es liegt in einem kleinen Tal und am Stadtrand, wo der Green Darkness beginnt, erheben sich die ersten Hügel und bergartigen Höhen.

    Man könnte es als niedlich bezeichnen, weil wir nur knapp zweitausend Einwohner zählen, und das liegt bestimmt nur an den zahllosen älteren Damen und Herren, die hier ihre letzten Jahre genießen, weil es so ruhig ist. Für Teenager ist dieser Ort alles andere als ideal.

    Um etwas zum Anziehen zu bekommen, muss man mit dem Auto in eine zwanzig Kilometer entfernte Stadt fahren, weil das Zentrum nicht viel zu bieten hat. Bei uns gibt es einen Diner, das LaLuna (das einzige Lokal hier), eine Bäckerei, ein Schuhgeschäft, einen Supermarkt und eine Handvoll kleiner Krimskramsläden. Und natürlich die Buchhandlung meines Vaters.

    Das war es schon mit unserem Stadtzentrum. In der Mitte ist ein runder Platz, auf dem früher angeblich Feste stattgefunden haben, aber das muss wohl Ewigkeiten her sein.

    Wir können froh sein, dass Westworgh wenigstens eine Highschool hat, sonst müsste ich jeden Morgen mit dem Bus in den Nachbarort zur Schule fahren und der ist, wie gesagt, ein gutes Stück entfernt.

    Hinter der Schule sind dann noch eine Halfpipe zum Skaten und ein Basketballplatz. Ich glaube, das ist dann alles, was man hier zu sehen bekommen kann. Aber alle Eltern und Großeltern sind aus einem unerfindlichen Grund wahnsinnig stolz darauf, in Westworgh zu leben, weil es ja so idyllisch und erholsam ist. Und auf diesen Broschüren über die Städte für Touristen sieht man dann die riesige Westriverbridge (das einzig Moderne hier), die einen wohl an die Golden Gate Bridge erinnern soll. Eigentlich lächerlich, denn es verirren sich niemals Touristen in diese verschlafene Gegend.

    Und das, obwohl Westworgh seit ungefähr siebenhundertfünfzig Jahren schon existiert und friedlich vor sich hin vegetiert. Dank den reichen Familien, die wir oft die Siedler oder eben Elite nennen, denn ihre Vorfahren haben diese Stadt gegründet und sie seitdem nicht mehr verlassen, gibt es hier einen Haufen Geld. Manche behaupten darüber hinaus, Westworgh sei eines der reichsten Städtchen im ganzen Westen.

    Einmal im Jahr findet das Jubiläum statt. Wir feiern den Tag, an dem die ersten Siedler in dieses Tal kamen und sich niederließen. Es gibt noch viel mehr solcher Traditionen, die die Elite organisiert und die das ganze Dorf jedes Mal in helle Aufregung versetzen.

    Es ist nicht Westworgh an sich, das mir nicht gefällt, ich fühle mich um ehrlich zu sein sogar sehr wohl in der ländlichen Kleinstadt. Nein, es sind die Leute, die hier leben.

    Ein Gerücht zu verbreiten könnte hier glatt als Sportart gelten, denn nichts lieben die Bewohner hier mehr als zu tratschen und zu klatschen. Ist ja kein Wunder, denn wenn es hier schon nichts gibt, über das man reden kann, muss man sich eben etwas ausdenken. Sie treffen sich zum Kaffeekränzchen und lassen sich über Nachbarn, Verwandte und Bekannte aus und die wildesten Spekulationen werden angestellt. Sowieso kennt jeder hier jeden und weiß alles über den anderen. Manchmal habe ich das Gefühl, die Leute hier wissen mehr über einen, als man es selbst tut.

    Ich habe aufgehört, mich darüber aufzuregen oder mir darüber den Kopf zu zerbrechen, ob sie wohl auch über mich reden.

    Bestimmt tun sie es.

    Sie reden über jeden. Wenn es ihnen Spaß macht und sie teilweise vollkommen absurde Dinge über mich glauben wollen, bitte. Ich weiß es besser.

    Nur leider trifft man mit dieser Einstellung in Westworgh nicht gerade auf Freunde. Jedem ist es unheimlich wichtig, was andere von ihm denken, jeder ist unecht und verstellt sich. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es echte Freundschaften gibt. Das alles, das Leben in Westworgh, ist eine Show, eine grässliche Show, bloß um dazuzugehören. Beliebt zu sein. Koste es, was es wolle. Geheimnisse gibt es nicht, die weiß die Stadt schon, bevor irgendwer anders es erfahren könnte. Und das weiß ebenfalls jeder.

    Vorurteile gehören in Westworgh dazu wie das tägliche Quatschen über alle anderen. Ganz vorne die dämliche Hierarchie an meiner Schule. Es gibt diese Leute, die sich für etwas Besseres halten und das in ihrer Abgehobenheit den anderen gar nicht oft genug unter die Nase reiben können. Die Elite.

    Sie wurden hier geboren, genau wie ihre Eltern und Groß­eltern, und sie bleiben auch hier, denn sie sind unglaublich stolz, dass Westworgh praktisch ihre Stadt ist. Sie verdienen alle recht gut und stechen mit ihren prächtigen Villen deutlich aus der Masse der übrigen Bewohner heraus. Und ihre Kinder sind genauso.

    Sie glauben, ihr Geld würde sie zu etwas Besonderem machen und dass sie als Maß aller Dinge über jeden urteilen können. Bestimmen können, ob er oder sie beliebt oder langweilig ist.

    Das Schlimmste ist, dass alle mitspielen. Das Ganze ist ein verfluchtes Spiel, bei dem Kinder aus den Siedlerfamilien von ihren angesehenen Eltern alles bekommen und das macht sie zu den Königen und Königinnen auf dem Schachbrett und alle anderen können sie hin und her schieben. Die, die versuchen, so zu sein wie sie.

    Der ganz gewöhnliche Highschool-Mist.

    Ich schüttele mich.

    Widerlich ist so etwas.

    Gut, dass ich bereits vor langer Zeit aus dem Spiel ausgestiegen bin. Für gewöhnlich geht das nicht. Ich erinnere mich noch an ein Mädchen, Holly hieß sie, glaube ich, die lieber trug, was sie wollte. Die sich mit der größten Fashionqueen der Schule angelegt und ihre Meinung gesagt hat. Sie wurde ziemlich übel gemobbt, es gab die fiesesten Lügengeschichten über sie, bis sie schließlich weggezogen ist. Sie hat es nicht länger ausgehalten.

    So viel zum Thema, wie wahnsinnig harmonisch und ruhig es hier doch ist. Das hier nichts los ist, führt nur dazu, dass die Leute sich selbst unterhalten müssen und deswegen ist alles, was nicht so wie sie ist, ein gefundenes Fressen.

    Ich wohne seitdem ich denken kann in Westworgh und nie hat sich etwas geändert. Es wird sich auch nie etwas ändern.

    Ich denke an Nathan Clark, und daran, dass er nicht einmal meinen Namen wusste. Es ist eine absolute Seltenheit, dass irgendwer in diesem Kaff nicht jedem namentlich bekannt ist, doch ich verstehe ja selbst nicht einmal, weshalb es bei mir so ist.

    Aber ich habe Glück, denn da ich noch nie an der Elite als solche interessiert war und mich bemühe, keine Aufmerksamkeit zu erregen, beachten sie mich kaum. Und ich habe sicher nicht vor, das zu ändern.

    Ich gehe wie sie alle zur Schule, die Pausen verbringe ich jedoch allein, nachmittags treffe ich mich nicht mit irgendwem zum Nägel–lackieren, gehe nicht zum Cheerleading oder Volleyball. Ich rede nicht mit ihnen und sie sprechen mich erst recht nicht an.

    Alles in allem führt das dazu, dass ich praktisch isoliert von jeglichen potentiellen Freunden und Bekannten lebe.

    Manchmal fühle ich mich sogar selbst mehr wie ein Schatten, der lautlos und unerkannt zwischen ihnen umherstreift …

    Ich schlage die Decke zurück, sie ist ohnehin viel zu dünn, um Wärme zu spenden. In letzter Zeit ist mir ständig kalt, meine Haut ist blass, nahezu weiß.

    Irgendwer muss mir dieses schreckliche Krankenhaushemd angezogen haben, jedenfalls sind meine alten Klamotten verschwunden und ich stecke in diesem weißen Stoffding mit Ärmeln. Egal, mich sieht niemand.

    Meine Schmerzen wurden mit der Zeit zum Glück schwächer und jetzt schaffe ich es sogar, aus dem Bett zu steigen, ohne aufzuschreien.

    Auf nackten Füßen tappe ich zum Fenster und ziehe mit einem Ruck die Vorhänge beiseite. Die Sonne leuchtet nur noch schwach, die letzten Strahlen ihres goldenen Lichts spiegeln sich in den Glasscheiben des Hauses und blenden mich. Unten auf dem Parkplatz stehen vereinzelte Autos, ein Mann steigt in diesem Moment aus einem schwarz lackierten Postauto und eilt auf den Haupteingang zu.

    Seine dunklen Haare sind wirr und seine abgetragene Jacke hat er nur eilig übergeworfen. Ich lächele.

    Endlich kommt mein Vater.

    Er ist neben meiner Mutter der einzige Mensch dieser Welt, dem ich vertraue und den ich liebe. Wir haben ein sehr inniges Verhältnis (wenn man ein Verhältnis zwischen mir und einem anderen Menschen denn so beschreiben kann), was vielleicht auch daran liegt, dass ich sonst mit niemand anderem rede.

    Ich habe ihn vermisst.

    Nur wenige Minuten später öffnet sich die Tür. Ich wirbele herum. Er wirkt erschöpft und müde von der Arbeit – seitdem sein Geschäftspartner Mr. Benson eine schwere Lungenentzündung bekommen hat, muss er sich allein um die kleine Buchhandlung kümmern und das nimmt ihn ziemlich mit. In seine kurzen schwarzen Haare haben sich graue Strähnen geschlichen und an seinem Kinn und den Wangen zeigt sich ein unrasierter Dreitagebart. Sein Pullover hat einen Fleck und an seinen Händen ist Tinte von den Quittungen.

    Er breitet seine Arme, die noch stark und muskulös vom Schleppen schwerer Bücherkisten sind, aus und kommt mit langen Schritten auf mich zu.

    »Liebling!«, murmelt er und drückt mich fest an sich. Er ist so groß, dass er seinen Kopf leicht auf meinen legen kann. Ich schließe die Augen.

    »Hey, Daddy.«

    »Was machst du nur für Sachen?« Er sieht so kaputt aus, als würde er am liebsten nur schlafen wollen. Wahrscheinlich hat er früher Schluss gemacht, um mich abzuholen. Ein schlechtes Gewissen schleicht sich bei mir ein, denn ich weiß, dass wir das wenige Geld, das er verdient, dringend nötig haben und ich sollte mich nicht in den Vordergrund drängen. Trotzdem bin ich ihm dankbar. Ich brauche ihn einfach.

    Mein Vater erfährt als Einziger diese Art Zuwendung von mir, dass ich ihn überhaupt umarme, ihn anlächele und mit ihm spreche. Seit ich denken kann, bereitet mir die Nähe anderer Menschen ein unbehagliches Gefühl. Er löst sich sanft von mir und hält mich eine Armeslänge von sich weg, um mich von oben bis unten prüfend zu betrachten. Ich schlage die Augen nieder. Abgesehen von den schrecklichen Schmerzen habe ich nur einige Blutergüsse an den Armen und den Rippen von der Nacht davongetragen. Nathan scheint mich nicht sehr heftig erwischt zu haben, mein Kopf ist zwar immer noch schwer und ich spüre das dicke Pflaster, aber ich kann wieder klar denken und meinen Kopf ganz normal bewegen.

    Trotzdem sieht mein Vater reichlich geschockt aus. Er streicht mir über die Haare und schüttelt den Kopf. »Was ist denn überhaupt passiert? Als ich heute Morgen losgefahren bin, dachte ich, du wärst vielleicht vor mir aufgestanden, aber dann rief man mich in der Buchhandlung an und sagte, du wärest angefahren worden!«

    Obwohl er nicht schreit oder wütend das Gesicht verzerrt, weiß ich, wie angespannt er ist. Man merkt es an dem festen Griff, mit dem er meine Oberarme umklammert, und der Art, wie sein linker Mundwinkel zuckt, wie gewöhnlich, wenn er sich sorgt.

    Mein Vater ist ein eher … entspannter Mensch. Lange nicht so temperamentvoll wie meine Mutter, die wahnsinnig schnell ausflippt. Es ist gut, dass sie so verschieden sind, so schafft er es stets, sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.

    Ich beiße mir auf die Lippe. Was auch immer in dieser Nacht geschehen ist – ich kann ihm unmöglich die Wahrheit sagen. Zum einen, weil ich mir selbst noch nicht sicher bin, was passiert ist, zum anderen, weil er bestimmt trotz seines ruhigen Gemüts nervös werden würde. Und er hat schon genug Sorgen …

    Ich weiche seinem besorgten Blick aus und presse die Lippen aufeinander, um nichts sagen zu müssen. Er deutet daraus, dass ich wohl noch schwach bin und schiebt mich behutsam zum Bett, um mich auf die weiche Matratze zu setzen. Dann nimmt er neben mir Platz und legt vorsichtig den Arm um mich. Ich zucke fast unmerklich zusammen.

    »Wie konnte das passieren? Ich war so überrascht, als sie sagten, es wäre in der Nacht passiert. Ich dachte, du würdest friedlich schlafen.«

    Ich nestele an dem Ärmel des Krankenhaushemdes herum und ziehe ihn über meine Hände, bis sie darin verschwinden. Immer diese Frage, die ich mir selbst ständig stelle. Aber was soll ich ihm sagen? Ich weiß es doch selbst nicht. Außerdem sind meine Eltern seit jeher recht besorgt gewesen. Manchmal behüten sie mich fast zu sehr, holen mich von überall mit dem Auto ab, sehen nach mir und lassen mich selten allein irgendwohin gehen. Allerdings – wohin gehe ich schon.

    Bevor ich noch weiter darüber nachdenken könnte, sprudelt es aus mir heraus: »Ich habe auch geschlafen.«

    Das ist die Wahrheit.

    »Aber dann war ich draußen.«

    Immer noch die Wahrheit.

    Mein Vater sieht mich verwirrt an. Mom wäre wahrscheinlich bestürzt aufgesprungen, doch er zieht nur eine Augenbraue hoch, während sich der um meine Schultern gelegte Arm anspannt.

    »Was machst du denn mitten in der Nacht draußen?«

    Ich schlucke. Ich kann ihn nicht ansehen. Es ist besser, wenn er sich keine Sorgen machen muss. Seitdem Mom … nicht mehr … arbeitet, hat er nur wenig Zeit und wir müssen jede Münze für Essen sparen. Er hat so viel, um das er sich Gedanken machen muss …

    Betreten starre ich auf den Ärmel und balle die Hand zu einer Faust. Meine Fingernägel graben sich in die dünne Handinnenfläche, wie gewöhnlich, wenn ich nervös bin. »Ich wollte zu der Party.«

    Lüge. Eindeutig.

    Normalerweise lüge ich nicht. Ich denke, es ist besser, die Wahrheit zu kennen, selbst wenn sie wehtut. Allerdings habe ich das Gefühl, als wäre es jetzt klüger, ihm zu verheimlichen, dass ich aufgewacht bin und trotzdem alles noch genauso aussah wie in meinem Traum, nur dass es auf einmal die Realität war und ich mich nicht erinnern konnte, wie ich an diesen Ort gekommen bin.

    Er wirkt nicht gerade überzeugt und nimmt den Arm von mir, um sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht zu streichen und seine Hände dann zu verschränken. Misstrauisch sieht er mich von der Seite an.

    »Was denn für eine Party?«

    »Die von Ben Tyler. Er … geht auf meine Schule«, murmele ich. Ich weiß, dass er gestern eine geschmissen hat. Jeder hat darüber geredet. Auch Nathan heute Morgen. Nur war die zu besuchen ganz bestimmt das Letzte, was ich gemacht habe.

    »Du gehst nie auf Partys«, erwidert mein Vater dementsprechend ungläubig und überrascht. Er sieht eher so aus, als hätte ich ihm gerade eröffnet, ich wäre zur Präsidentin gewählt worden. Aber selbst, wenn ich an Partys interessiert wäre, würde ich ja doch auf keine eingeladen werden, denn wer will schon mich dabeihaben?

    Anders als gewöhnliche Teenager in meinem Alter muss ich mir nicht ständig Gedanken darüber machen, welches Outfit ich wohl auf der nächsten Fete tragen werde und welche Jungs ich damit beeindrucken will. Und immerhin hatte ich noch nie einen Absturz und musste den ganzen Tag mit einem Kater im Bett bleiben. Der einzige Filmriss, den ich bislang hatte, war gestern Nacht.

    Allerdings denke ich manchmal, dass Mom und Dad sogar mit einem übermäßigen Alkoholkonsum an einem Abend klar­kommen würden, weil es heißen würde, dass ich mich wie alle anderen benehme.

    Ich zucke mit den Schultern und befreie meine Hände wieder aus den Ärmeln, um unruhig mit den Fingern zu spielen und verschlungene Muster auf die Bettdecke zu malen. »Ich weiß. Ich bin ja auch nicht da gewesen. Ich wollte hingehen, aber ich dachte, vielleicht erlaubst du mir das nicht, und ich war mir nicht sicher, ob ich das tatsächlich machen würde.«

    »Das hättest du doch einfach sagen können! So etwas … hast du noch nie gewollt, ich dachte, es würde dich nicht … interessieren. Aber wenn doch, dann könnten wir ja darüber reden, wer noch kommt und wie lange …«

    »Richtig, es interessiert mich nicht«, unterbreche ich ihn. Immerhin ein wenig von der Wahrheit kann ich erhalten. Es fällt mir nicht leicht, ihm direkt ins Gesicht zu lügen, und ich erschrecke mich selbst darüber, wie unheimlich leicht mir die Worte über die Lippen gehen. Es ist, als würde mein Mund sich von selbst öffnen und schließen. Dabei würde mir das, was ich da erzähle, nicht einmal im Traum einfallen.

    »Wie? Du hast doch gerade …«

    Ich schüttele den Kopf und blicke entschlossen zu ihm auf. Dabei hefte ich meinen Blick auf den Punkt zwischen seinen Augen, damit es für ihn so aussieht, als würde ich ihn ansehen, obwohl ich es nicht kann.

    »Ich habe darüber nachgedacht. Erst wollte ich es einmal ausprobieren, dann ist mir eingefallen, dass ich niemanden da kenne und sie mich ja auch nicht eingeladen haben.«

    Ich hole tief Luft und schaue auf meine Finger. Ich bin mir nicht schlüssig, wie er reagieren würde, würde ich anfangen, mich zu verändern und mich meinen Mitmenschen öffnen. Meine Eltern haben mir stets versichert, es wäre in Ordnung, dass ich nicht gut mit Sozialkontakten umgehen kann, und sie wären für mich da. Dennoch habe ich keine Ahnung, ob sie sich insgeheim nicht doch eine andere, gewöhnlichere Tochter wünschten.

    »Letztendlich hatte ich keine Lust mehr. Ich habe kurz überlegt, aber mich dann doch umentschieden. Ich wollte zurück und dann hat mich jemand mit dem Auto erwischt.«

    Ich sollte die Geschichte schnell beenden. Meine Eltern sind stets für mich da gewesen und so gut es geht mit meinem eigenartigen Tick klargekommen. Es muss schwer für sie sein, wenn ich alle abblocke. Dabei wollen sie nur das Beste für mich.

    »Es war bestimmt keine Absicht und mir ist ja nichts Schlimmes passiert. Tut mir leid, Daddy.«

    Das tut es mir wirklich. Dass er früher aufhören musste, dass er sich Sorgen macht und dass ich ihn anlüge.

    Es tut mir leid.

    Er bemüht sich, sein Lächeln so freundlich wie gewohnt aussehen zu lassen, trotz der Schatten, die sich darüberlegen. Ich kann sie genau sehen. Behutsam streichelt er über meine Hand.

    »Natürlich. Du kannst froh sein, dass deine Mutter nicht hier ist, sie würde denjenigen, der das getan hat, suchen und ihn zur Schnecke machen.«

    Ich lache für einen winzigen Moment auf. Da hat er recht. Mom würde völlig durchdrehen und mir sagen, was für eine Angst sie hatte. Dann würde sie schimpfen, dass ich in der Nacht draußen war, und dann würde sie die Krankenschwestern zu Nathan befragen und ihm eine Standpauke halten. Komisch, auch wenn mich das immer genervt hat, vermisse ich sie jetzt schrecklich.

    Das Gute ist, auch wenn Dad mir meine Ausrede nicht so ganz abkauft, ich bekomme keinen Ärger. Er schimpft fast nie mit mir und wenn er doch mal wütend wird, dann ist die Wut nach wenigen Minuten wieder verraucht.

    Er streckt sich und steht dann auf.

    »Ich habe mit den Ärzten gesprochen. Sie sagen, es ist in Ordnung, ich kann dich mit nach Hause nehmen, du sollst dich nur ein wenig schonen.« Er zwinkert mir zu. »Außerdem ist morgen Schule.«

    Ich bin bloß dankbar, dass er auf einem Thema nicht lange herumreitet. Und auch wenn ich auf Schule nun absolut keine Lust habe (wer hat das schon?), will ich einfach nur nach Hause und den Anblick der weißen Wände loswerden.

    Ich will in mein Bett, unter meine Decke, und ich will Schokolade.

    »Wo sind meine Sachen?«

    »Oh, warte kurz«, er verschwindet und kommt kurz darauf mit einer schlichten Jeans und einem weiten Pulli zurück. Erleichtert atme ich auf. Ich hatte bereits befürchtet, das blöde Nachthemd gar nicht mehr loszuwerden. Gut, dass er daran gedacht hat, etwas von zu Hause mitzubringen.

    »Deine Kleidung von gestern haben sie mir gegeben.«

    »Danke. Ich ziehe mich eben um.« Fest presse ich die Sachen an mich. Sie riechen genau so, wie sie riechen sollten, nicht so schrecklich antiseptisch und klinisch rein.

    »Sicher, ich warte unten am Empfang und kümmere mich um den Papierkram«, erwidert er und als die Tür hinter ihm zugefallen ist, schlüpfe ich rasch in meine Sachen. Bloß schnell weg von hier!

    3

    Sie

    Die dunklen Bäume an der schmalen Straße sind wie ein Begrüßungskomitee, als mein Vater von dem ewig geradeaus führenden Weg abbiegt. Es dämmert, der Sommer ist längst zur Neige gegangen und der Herbst hält Einzug. Blätter wirbeln über die Windschutzscheibe des Autos und tanzen durch die Luft, als wären sie anmutige Ballerinen.

    Ich habe den Kopf an die kühle Fensterscheibe gelegt und starre nach draußen. Die mächtigen Stämme versperren mir größtenteils die Sicht, aber hin und wieder glaube ich, Augen aufblitzen zu sehen oder eine flüchtige Bewegung wahrzunehmen. Das Licht unserer Scheinwerfer bricht durch die dichte Dunkelheit.

    Es hat ganz schwach zu regnen begonnen, wie so oft in letzter Zeit. Die Tropfen fallen sacht auf unser Dach, ein leises Klopfen und Pochen.

    Ich bin müde. Genauso wie mein Vater neben mir, der das Steuer nur mit einer Hand hält und sich mit der anderen die Haare rauft. Diese Geste ist mir in der vergangenen Woche sehr vertraut geworden. Sie bedeutet, dass er schrecklich erschöpft und ausgelaugt ist. Im schwachen Licht treten seine Wangenknochen und die dunklen Schatten unter seinen Augen hervor.

    Er arbeitet viel zu viel und ich wünschte, ich könnte ihm helfen. Ich besuche ihn nach der Schule im Laden und bemühe mich, ihm die Arbeit zu erleichtern, ich koche ihm Essen und kümmere mich um das Haus, damit er nicht noch mehr machen muss. Mom kann schlecht für ihn da sein …

    Vor uns taucht ein Gebäude auf, das wie ein lauerndes Tier daliegt, bereit, aufzuspringen und anzugreifen. Zumindest habe ich mir unser Haus früher so vorgestellt, unheimlich, wie es mit seinem schwarzen Anstrich und den Erkern, die wie seltsame Ausbeulungen, und den Dachpfannen, die wie geschuppte Haut wirken, ist. In keinem der großen Fenster brennt Licht, sie erinnern an blinde Augen, die in die Nacht blinzeln.

    Die kleinen Türmchen und Zinnen spießen Löcher in den Nachthimmel und der Schornstein ähnelt einem erhobenen Zeigefinger.

    Bedrohlich ragt es vor uns auf und wird größer, während wir uns nähern.

    Efeuranken klettern an der Fassade empor und krallen sich in den Ritzen fest. Sie klammern sich an die Fenstersimse, scheinen das Haus verschlingen und mit sich in den Erdboden ziehen zu wollen.

    Jedes Jahr muss Dad sie schneiden, damit sie das viktorianische Gebäude nicht vollends überwuchern. Auf meinem Balkon hingegen schlingen sie sich um die Streben des verschnörkelten Geländers und verflechten sich mit ihnen zu einem geheimnisvollen Muster. Überhaupt stehen auf dem Balkon nur seltene Topfpflanzen und sogar ein kleiner Baum. Ich mag es, den Pflanzen zuzusehen, wie sie wachsen und gedeihen, und kümmere mich gern um sie.

    Dad parkt neben dem Haus und stellt den Motor ab. Er sieht zu mir herüber.

    »Wie geht es dir?«, fragt er, sein Gesichtsausdruck ist kaum zu erkennen, weil nichts von irgendwo Licht spendet.

    »Alles gut.«

    Es stimmt zwar nicht ganz, denn mein Kopf pocht noch leicht und außerdem habe ich einen seltsamen Druck auf den Ohren, aber ansonsten ist alles okay.

    Er schaut mich jedoch einen Moment länger an, bevor er aus dem Auto steigt und die Tür zuschlägt. Ich folge ihm nach draußen, ein frischer Wind weht mir die Haare ins Gesicht und fährt mit seinen Fingern durch sie hindurch.

    Ich atme tief ein. Es riecht nach Regen, die feinen Tropfen fallen auf mich nieder, doch man spürt sie kaum. Fieseln, würde Mom dazu sagen.

    Plötzlich meine ich, eine leise Stimme zu vernehmen. Erschrocken fahre ich herum. Der Regen tropft auf das trockene Laub am Boden, der Wind bringt es zum Rascheln. Das schaurige Rufen einer Eule durchbricht die nächtliche Stille und doch – ich habe das Gefühl etwas gehört zu haben.

    Angestrengt lausche ich, aber außer den gewöhnlichen Geräuschen ist nichts zu hören. Ich wende mich ab.

    Mein Vater hat bereits die Stufen zur Veranda erklommen und sucht in seinen Taschen nach dem Haustürschlüssel. Für gewöhnlich ist es eher Moms Aufgabe gewesen, alles zu verschusseln. Sie ist ein wenig vergesslich und verpeilt.

    Ich zucke zusammen.

    Schon wieder!

    Diesmal bin ich mir absolut sicher, dass da eine Stimme war.

    Ich wirbele so rasch herum, dass die Blätter auf dem Boden auseinanderstieben. Meine feuchten Haare beginnen bereits strähnig zu werden und kleben mir im Gesicht. Nervös sehe ich mich um, aber ich kann weder etwas erkennen noch die Geräusche klar ausmachen.

    Nur ganz schwach kann ich Laute über dem stärker werdenden Regen hören.

    Es klickt. Die Tür ist offen, dennoch gehe ich nicht rein.

    Konzentriert kneife ich die Augen zusammen, als würde das mein Gehör ebenfalls schärfen.

    »Kommst du?«

    Ich starre in die Dunkelheit und schüttele den Kopf. Endlich werden die seltsamen Laute zu Worten und eine eigenartige Melodie, verzerrt durch den Regen, dringt an meine Ohren.

    Ich mache beinahe ungewollt und wie von dem Gesang angezogen einen Schritt nach vorne, als wollte ich auf die Stimme zugehen.

    Sie klingt irgendwie … traurig, klagend und hoch. Und doch meine ich, tiefere Töne zu vernehmen, dunkle Stimmen, kann jedoch nicht verstehen, was sie sagen.

    Ich stolpere noch einen Schritt vor. Sie werden lauter. Eine helle, glasklare Stimme hebt sich von den anderen ab und allein vom Zuhören breitet sich ein eigenartiges Gefühl in mir aus. Ein Schmerz, so heftig und plötzlich, dass ich mich verkrampfe.

    Ich weiß nicht, woher es kommt, es fühlt sich an, als wäre der Gesang weit weg und doch fast wie in meinem Kopf. Das Lied kommt mir auf eine Weise bekannt vor, obwohl ich mir gleichzeitig sicher bin, es nie zuvor gehört zu haben.


    So the night begins, for you and him

    Dark shadows come in your sleep

    But there will be

    Him.


    Just like every night, here comes a dream

    Close your eyes and fall asleep

    And you will see

    Him.


    Noch bevor ich das letzte Wort gehört habe, schaudere ich am ganzen Körper, drehe mich um und renne auf das Haus zu. Mein Vater steht noch in der Tür und setzt gerade zu einem erneuten Ruf an, aber ich laufe an ihm vorbei, auf den Armen Gänsehaut und die Melodie noch immer in meinem Kopf.

    Auch als ich die Treppe erreiche und mir die Hände auf die Ohren presse, höre ich sie noch. Höre die zarten Töne, so klar und so schmerzvoll.

    Ich schließe die Augen, auf der Innenseite meiner Lider rauschen Schemen vorbei. Erst als Dad mir die Hand auf die Schulter legt und mich zu sich umdreht, löse ich mich aus meiner Schockstarre.

    »Hey!« Er sieht mich unruhig an, seine Pupillen sind geweitet, weil nur das Licht vor dem Eingang brennt und es hier drinnen noch dunkel ist. Ich lausche, doch der Gesang ist verschwunden. Zögernd löse ich die Hände von meinen Ohren.

    »Was hast du?«

    »Nichts«, ich bemühe mich um ein beruhigendes Lächeln. »Nichts, schon gut.« Offensichtlich gelingt es mir nicht annähernd erfolgreich, denn als ich mich losmachen will, hält mein Vater mich zurück.

    »Bist du dir sicher?«

    Ich nicke eilig. Meine Gelenke sind so schwer und ich will mich nur noch hinlegen und alles hinter mir lassen. Sowohl das Lied als auch die Nacht.

    »Ja. Bestimmt nur eine Nachwirkung des Unfalls.«

    Er nickt langsam und lässt mich dann los. Sofort weiche ich einige Zentimeter zurück.

    »In Ordnung … willst du noch etwas essen? Das, was man dir heute vorgesetzt hat, war bestimmt nicht allzu schmackhaft.«

    Er grinst und schaltet das Licht ein. Es flackert mehrfach, bis es schließlich leuchtet. Man kann von hier unten bis nach ganz oben in den dritten Stock sehen, da wir eine offene Galerie haben. Eine geschwungene Treppe aus Holz führt ein Stockwerk höher und eine weitere darüber nach ganz oben.

    Rechts von der Treppe führt eine Doppelflügeltür in die Küche und deren Türklinke hält mein Vater jetzt in der Hand. Ich würde kichern, wenn das nicht so untypisch für mich wäre.

    »Du kannst doch nicht kochen, Dad, und ich habe sowieso keinen Hunger. Ehrlich gesagt bin ich einfach wahnsinnig müde – vermutlich gehe ich direkt schlafen.«

    Ich beuge mich vor, umarme ihn kurz und werfe ihm eine kleine Kusshand zu, wie jeden Abend. Er lächelt und drückt mich fest.

    »In Ordnung, dann schlaf gut.« Mit einem Zwinkern fügt er noch hinzu: »Und diesmal keine nächtlichen Ausflüge bitte.«

    Ich habe schon den Fuß auf der Treppe und die Hand auf dem Geländer, und auch wenn ich weiß, dass es nur ein Spaß von ihm ist, spannt sich mein gesamter Körper an und ich verkrampfe. Als ich gestern Abend nach oben gegangen bin, habe ich ganz bestimmt nicht geplant, noch rauszugehen. Was wird heute passieren?

    Werde ich morgen vielleicht in einem See aufwachen, halb am Ertrinken? Auf den Schienen der U-Bahn in Brooks? Oder sonst irgendwo, ohne zu wissen, wo ich mich befinde? Auf dem Polizeirevier?

    Ich will es gar nicht wissen. Außerdem sollte man sich solche Gedanken für gewöhnlich nicht machen müssen!

    »Natürlich«, murmele ich noch über die Schulter, dann gehe ich, zwei Stufen auf einmal nehmend, in mein Zimmer und werfe mich lang auf mein Bett. Ich schaffe es nicht einmal mehr, meine Klamotten auszuziehen, sondern versinke vollständig bekleidet in den weichen Kissen.

    Meine Lider sind so schwer und die Augen fallen mir von allein zu. Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich noch an das unheimliche Lied und seinen Text, dann überrollt mich eine Woge des Schlafes und zieht mich mit sich in das Land der Träume.

    – Nathan –

    Obwohl ich einen schrecklichen Kater habe und mich nur aufs Ohr hauen will, kann ich den ganzen Tag keine Entspannung finden. Ruhelos streife ich durch unser Haus; jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, taucht das Mädchen vor meinem inneren Auge auf.

    Seine langen schwarzen Haare umrahmen sein Gesicht, das auf den ersten Blick unscheinbar und gewöhnlich wirkt. Als ich sie jedoch heute im Krankenhaus gesehen habe, bemerkte ich die auffällige Farbe ihrer Augen. Sie waren so dunkel, fast schon schwarz, als würden die Iriden mit der Pupille verschmelzen. Etwas Eigenartiges umgibt sie, etwas, was ich nicht genau beschreiben kann.

    Na ja, es ist andererseits offensichtlich, dass sie auf mich anders wirkt, schließlich ist sie wie aus dem Nichts vor meinem Auto aufgetaucht, noch dazu in diesem schwarzen Kleid … Niemand, den ich kenne, trägt solche Kleider!

    Und dann war da noch was … ein Gefühl, als ich sie auf der Straße liegen sah. Nicht bloß die nackte Angst und Panik darüber, was ich getan habe. Nicht bloß die Sorge, sie könnte tot sein und ich wäre daran schuld. Es war auch nicht nur Verzweiflung, was ich tun und wie ich das alles erklären sollte, schließlich bin ich verbotenerweise sturzbesoffen Auto gefahren.

    Nein, es war etwas anderes, eine eiskalte Furcht, die nach mir griff, als wäre sie jemand gewesen, der mir viel bedeutet und den ich schwer verletzt habe. Ich weiß noch, wie ich ausstieg und zu ihr rannte und wie mich ebenjenes Gefühl überwältigte. Sie kam mir auf eine Weise unheimlich bekannt vor, gleichzeitig könnte ich schwören, sie noch nie gesehen zu haben.

    Es ist mehr als merkwürdig.

    Und auch wenn die Ärzte meinten, ich müsste nicht bleiben, konnte ich sie einfach nicht allein lassen. Das Adrenalin verschaffte mir kurzzeitig einen freien Kopf und ich sah alles dermaßen gestochen scharf und fühlte so intensiv, dass mich die Schuld wie eine eiserne Faust ergriff.

    Ich hatte das dringende Bedürfnis, bei ihr zu sein, für sie da zu sein und das, wenngleich ich doch gar nichts mit ihr zu tun habe.

    Ich lege mich zum tausendsten Mal heute auf mein Bett und starre an die weiße Decke über mir. Auf dem Nachttisch liegt der Football, den ich hoch in die Luft werfe, um ihn dann wieder

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