Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Am Tor zur Ewigkeit
Am Tor zur Ewigkeit
Am Tor zur Ewigkeit
eBook502 Seiten6 Stunden

Am Tor zur Ewigkeit

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nora Steinfeld arbeitet in einem Seminarhotel und soll ihre Chefin für vier Wochen vertreten. Kurz nachdem sie die Herausforderung angenommen hat, erhält sie die Diagnose Hirntumor, inoperabel. Und nun? Sie beschließt vorerst niemandem davon zu erzählen. Unbeabsichtigt betritt sie einen der Seminarräume. Ein Professor der Psychologie hält gerade einen Vortrag über die Seele des Menschen. Was sie da hört, ist völlig neu, rüttelt sie auf und führt sie schließlich zu einem ungewöhnlichen Plan.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Dez. 2020
ISBN9783981157376
Am Tor zur Ewigkeit
Autor

Marita Schröder

Marita Schröder, 1955 geboren, absolvierte ein Lehrerstudium und arbeitete bis 1987 als Grundschul- und Musiklehrerin. Seit 1989 ist sie freischaffend künstlerisch tätig. In ihren Werken beschäftigt sie sich seit nunmehr dreißig Jahren mit der Entwicklung des menschlichen Potenzials. Es entstanden zwei Liederprogramme, drei Chorwerke und sieben Romane. Die Autorin ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt in Zerbst/Anhalt.

Ähnlich wie Am Tor zur Ewigkeit

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Am Tor zur Ewigkeit

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Am Tor zur Ewigkeit - Marita Schröder

    Für meine große Familie,

    in Liebe

    Die Geheimnisse, die der Mensch in dieser irdischen Welt nicht beachtet, wird er in der himmlischen Welt entdecken, und dort wird ihm das Geheimnis der Wahrheit kund. (‘Abdu’l-Bahá)

    Inhaltsverzeichnis

    VERTRAUENSSACHE

    DIE NACHRICHT

    NEUES WISSEN

    VERWIRRUNG

    PROFESSOR SAHAR

    WAS MAN ÜBER DIE SEELE WISSEN SOLLTE

    ABREISE

    NORAS VATER

    NORAS BRUDER

    DIE NEUE VERANTWORTUNG

    VORBEREITUNGEN

    DIE FAMILIE TRIFFT EIN

    DER SCHOCK

    DAS FAMILIENESSEN

    SAMSTAG

    SONNTAG

    MONTAG

    DIENSTAG

    MITTWOCH

    DONNERSTAG

    FREITAG

    SAMSTAG

    SONNTAG

    MONTAG

    DIENSTAG

    MITTWOCH

    DONNERSTAG

    FREITAG

    SAMSTAG

    SONNTAG

    DIE 2. DIAGNOSE

    EINE WOCHE SPÄTER

    NACHWORT

    ZITATE

    VERTRAUENSSACHE

    Seit einer Viertelstunde warte ich ungeduldig auf meine Chefin. Frau Steger hat mich aufgefordert, alles stehen und liegen zu lassen und ins Büro zu gehen. Sicher wird sie, wie so oft, von einem Hotelgast aufgehalten.

    Ich rutsche auf dem braunen Polsterstuhl vor dem antiken Schreibtisch hin und her und muss daran denken, wie ich vor etwa drei Jahren zum ersten Mal diesen Raum betreten habe.

    Alles fing mit einer Annonce in der Tageszeitung an, die ich bei einem Besuch meiner Freundin in Thüringen entdeckte: Ein Ausbildungsplatz zur Hotelfachfrau ist noch frei.

    Ich hatte gerade mein Wirtschaftsstudium abgebrochen und spontan beschlossen, eine Lehre zu machen. Hotelfachfrau klang gut. Die Gegend gefiel mir. Zudem hatte ich eine Vorliebe für Wanderungen entdeckt.

    Beim Vorstellungsgespräch ging Frau Steger nicht auf meine drei abgebrochenen Studiengänge ein.

    Sie stellte nur sachlich fest: „Sie haben sich wohl für einen praktischen Beruf entschieden." Ich erhielt die Lehrstelle.

    Von Anfang an machte mir die Arbeit Freude. Ich merkte, dass ich gut mit Menschen und ihren Befindlichkeiten umgehen konnte. Meine Eltern waren über die Entscheidung zur Lehre zunächst sehr ärgerlich gewesen. Sie bedauerten, dass ihre intelligente Tochter nicht mehr aus ihrem Leben machen wollte. Doch sie gaben sich zufrieden, als ich nach drei Jahren meinen Abschluss mit Auszeichnung bestand und ohne Wenn und Aber übernommen wurde.

    „Nora Steinfeld, du hast deine Berufung gefunden, sage ich halblaut. „Nun musst du noch lernen, dich in Gegenwart deiner hoch gebildeten Familie nicht als Versager zu fühlen.

    Als mir bewusst wird, dass ich Selbstgespräche führe, sehe ich mich erschrocken um und lege mir die Hand auf den Mund.

    Beim Blick durch den Raum entdecke ich seitlich zwischen den Pflanzen mein Spiegelbild. Ich sehe blass und kränklich aus. Daran kann selbst meine neue Frisur nichts ändern. Der Bob steht mir eigentlich gut, wie mir mehrere Kolleginnen bestätigt haben. Auch die hellen Strähnen in meinen dunkelblonden Haaren waren eine gute Entscheidung. Doch jetzt bin ich mit meinem Spiegelbild gar nicht zufrieden.

    Meine großen blauen Augen, um die mich meine Schwester Lena immer beneidet hat, sehen müde aus. Die weiße Bluse, die zu meiner Berufskleidung gehört, macht mich noch blasser. Wenn ich hier etwas zu sagen hätte, würde ich die schwarz-weiße Kleidung abschaffen und farbenfrohe Dirndl einführen.

    Frau Steger betritt den Raum. Ich spüre die Energie, die von dieser Frau ausgeht. Man sieht ihr das Alter von dreiundsechzig Jahren nicht an. Sie ist eine zeitlose Schönheit, groß und schlank und trägt ihre dunklen langen Haare immer hochgesteckt. Das gibt ihr eine gewisse Vornehmheit und Eleganz. Ihre Bewegungen sind schnell, aber nicht hektisch. Sie ist die Seele des Hauses. Manche Gäste kommen nur ihretwegen jedes Jahr wieder. Die älteren Angestellten behaupten, Frau Steger hat das Talent, den Gästen ihre Wünsche von den Augen abzulesen. Jetzt, kurz vor Mittag, wirkt sie etwas erschöpft, als sie sich in ihren Sessel hinter dem Schreibtisch niederlässt. Sie nimmt einen Schluck aus dem Wasserglas, das vor ihr steht. „Möchtest du einen Kaffee, Nora?"

    „Nein, danke."

    „Dann nimm wenigstens ein Glas Wasser."

    Ich sehe zu, wie sie ein Glas aus dem Schrank holt und Wasser hineingießt.

    Jetzt spüre ich eine gewisse Aufregung. Was hat Frau Steger mir so Dringendes mitzuteilen? Etwa eine Kündigung?

    Bei diesem Gedanken wird mir ganz mulmig.

    „Nora, ich muss mit dir etwas besprechen", beginnt sie förmlich. „Frau Sommer ist krank geworden, eine längere Sache. Sie sollte in meiner Abwesenheit das Hotel leiten.

    Du weißt ja, dass ich am Donnerstag zu meiner Tochter nach Australien fliegen werde. Sie holt tief Luft. „Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich mein Hotel vier Wochen allein lasse. Nora, ich möchte dich bitten, die Leitung des Hotels zu übernehmen.

    Meine Augen weiten sich vor Überraschung. „Das trauen Sie mir zu?"

    „Absolut. Das würde aber bedeuten, dass du den Urlaub nicht nehmen kannst, den du eingetragen hast. Du wolltest Mark in London besuchen. Das müsstest du dann verschieben."

    Ich nicke und Frau Steger setzt fort: „Ich werde dir alles noch genauer erklären. Mir ist es wichtig, dass jemand in diesen vier Wochen den Überblick behält, jemand, der immer da ist und das Hotel in meinem Sinne führt. Ich habe den November für meine Reise gewählt, weil es in dem Monat nur wenige Buchungen gibt. Erst habe ich mich geärgert, dass dieses große Seminar mit vierzig Leuten von der Konkurrenz einkassiert wurde, obwohl ich denen ein mehr als großzügiges Angebot gemacht habe. Aber wir haben eben keinen modernen Fitnessraum, keine Sauna und keinen Pool. Ich muss mir etwas überlegen. Wir brauchen Angebote für die Seminarteilnehmer, Angebote zur Entspannung, die aber für uns nicht mit hohen Investitionen verbunden sind."

    „Geführte Wanderungen", werfe ich ein.

    „Dafür haben die Semiarteilnehmer keine Zeit. Aber wir dürfen nicht abschweifen. Im Grunde bin ich jetzt froh, dass der Auftrag nicht an uns ging, denn ein ausgebuchtes Hotel hätte ich dir nicht zumuten können. Was glaubst du, wie schnell der gute Ruf dahin ist. Wenn die Leute wegen Personalmangels eine Viertelstunde länger auf das Essen warten müssen, heißt es schon: Die packen es nicht."

    Frau Steger blättert in ihrem Kalender. „Was haben wir bis jetzt? Das Seminar mit Professor Sahar geht am Freitag zu Ende. Am Sonntagabend rücken die Leute von der Modekette an, die Bezirksleiter, du weißt schon. Zwanzig Gäste.

    Sie bleiben eine Woche. Am nächsten Samstag ist eine Geburtstagsfeier mit dreißig Personen. In jeder Woche gibt es kleine Seminare und ein paar Familienfeiern. Es steht alles hier drin. Der größte Teil der Mitarbeiter nimmt Urlaub. Du hast also nur eine kleine Besetzung zur Verfügung. Und am kommenden Wochenende ist hier gar nichts los. Da kann auch dein kleines Team Überstunden abbummeln. Es ist überschaubar und trotzdem, Nora, du bist die einzige von den jungen Mitarbeitern, der ich diese Aufgabe zutraue."

    „Danke, sage ich leicht beschämt. „Ich werde mich bemühen, dass ich alles zu Ihrer Zufriedenheit ausführe.

    „Eigentlich könntest du mich endlich mal duzen. Ich bin Marks Tante und ich gehe davon aus, dass ihr zusammenbleibt und irgendwann heiraten werdet. Also, ich heiße Sonja. Sie nickt mir zu und fährt fort: „Ich habe neulich mit meiner Tochter darüber gesprochen. Mark studiert Wirtschaft, du bist vom Hotelfach. Ihr wärt meine idealen Nachfolger. Natürlich müssen beide Brüder meines Mannes zustimmen. Winfried hat drei Kinder, die ebenfalls Interesse an dem Hotel zeigen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie das Hotel in meinem Sinne und im Sinne meines verstorbenen Mannes weiterführen würden.

    Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich habe zwar mit Mark schon einmal darüber gesprochen, was aus dem Hotel werden soll, wenn Sonja in Rente geht. Aber Mark meinte damals: „Onkel Winfried steht schon im Startloch. Er ist zehn Jahre jünger als sein Bruder und die Kinder sind auch ganz scharf darauf."

    „Was sagst du, Nora?", fragt Frau Steger ungeduldig.

    Ich blinzele. „Das hört sich gut an. Ich muss das mit Mark besprechen."

    „Alles ganz in Ruhe. Jetzt bin ich erst einmal vier Wochen weg. Du bekommst in dieser Zeit eine Vorstellung davon, was es heißt, ein Hotel zu leiten. Danach werden wir uns an einen Tisch setzen und Zukunftspläne schmieden."

    Ich nicke nur. Die heftigen Kopfschmerzen, die ich in letzter Zeit habe, kündigen sich wieder an. Hoffentlich ist es nichts Ernstes. Die Ergebnisse der Untersuchungen, die ich auf Anraten meines Hausarztes habe machen lassen, müssten morgen vorliegen, fällt mir ein. Niemand weiß, dass ich in der Klinik in Erfurt war. Und das ist gut so.

    Erst am Abend komme ich dazu, Mark in London anzurufen. Ich mache es mir gemütlich zwischen den Kissen auf meinem Bett, wähle seine Nummer und plappere los: „Stell dir vor, Mark, ich werde in den nächsten Wochen das Hotel leiten. Deine Tante hat sogar davon gesprochen, dass du und ich das Hotel übernehmen könnten. Das Problem ist, ich muss meinen Besuch noch mal verschie…"

    „Wir sollen was?", unterbricht Mark in einem scharfen Ton.

    „Das Hotel übernehmen", wiederhole ich vorsichtig.

    „Ich weiß gar nicht, ob ich das will, wieder zurück nach Thüringen. Wenn du London erlebst, kommt dir das Leben in einer Kleinstadt öde und langweilig vor. So ein Hotel ist doch ein Klotz am Bein. Du bist immer gebunden und es ist ein finanzielles Risiko. Ich kann mir das im Moment gar nicht vorstellen."

    „Ich dachte, du freust dich. Wir haben doch schon einmal darüber gesprochen."

    „Das war doch nur so eine Idee. Außerdem bin ich davon ausgegangen, dass Onkel Winfried den Laden übernimmt.

    Ich studiere doch nicht fünf Jahre Wirtschaft, um dann ein drittklassiges Hotel am Ende der Welt zu leiten."

    Für einen Moment stockt mir der Atem. Ich habe eindeutig andere Vorstellungen von der Zukunft als Mark.

    „Was willst du dann?", frage ich und kann meine Enttäuschung nicht verbergen.

    „Eine große Firma leiten, zum Beispiel. Aber dazu muss ich erst einmal mein Studium beenden und das ist im Moment alles andere als einfach."

    „Dann passt es wohl ganz gut, dass ich meinen Besuch verschieben muss."

    Er zögert bevor er sagt: „Ich würde kaum Zeit für dich haben."

    Ich höre eine Stimme im Hintergrund. „Hast du Besuch?", frage ich nach.

    „Nein, ja. Ich muss noch einiges vorbereiten für morgen.

    Da hilft mir jemand. Ich muss jetzt auch Schluss machen, Nora."

    „Gut, dann telefonieren wir eben ein andermal", sage ich bewusst locker und beende das Gespräch.

    Ich stehe auf und laufe im Zimmer hin und her. Mark ist seit fast drei Monaten in London. Er ruft mich nur selten an, weil er angeblich keine Zeit hat. Und wenn ich ihn anrufe, störe ich nur. Das wird mir jetzt bewusst. Und diese Stimme im Hintergrund gehörte eindeutig zu einer Frau. Ist er wirklich so beschäftigt oder gibt es eine andere Frau in seinem Leben? Ich fühle mich bei dem Gedanken ganz elend.

    Mark und ich haben uns vor knapp drei Jahren hier im Hotel kennengelernt, als er seine Tante besuchte. Seine lässige Art, seine lockeren Sprüche und sein gutes Aussehen waren dafür verantwortlich, dass ich mich sofort in ihn verliebt habe. Es brauchte noch zwei weitere Besuche, bis Mark meine Gefühle erwiderte. Wir sahen uns nur an den Wochenenden, nutzten jede freie Minute, auch wenn ich arbeiten musste. „Man kann sich mit dir so gut unterhalten, Nora", hat Mark öfter gesagt.

    Doch seit London ist es damit vorbei. Ist das jetzt das Ende unserer Beziehung?, frage ich mich und setze mich auf die Bettkante. Eine Welle von Traurigkeit überrollt mich. Ohne Mark werde ich das Hotel nicht übernehmen können. Und ohne Mark werde ich mir auch vorläufig keine eigene Wohnung leisten können. Ich sehe mich im Zimmer um. Es ist ein heller, großer Raum, der praktisch eingerichtet ist.

    Ein dreitüriger Kleiderschrank teilt die Schlafecke vom Wohnbereich ab. Neben Couch, Sessel und Fernsehschrank findet sogar noch ein Schreibtisch Platz. Vom Balkon aus hat man einen herrlichen Blick ins Tal.

    Conny hat nebenan ein ähnliches Zimmer. Wir teilen uns gerne diese Zweizimmerwohnung mit der großen gemütlichen Wohnküche und dem geräumigen Bad. Die Wohnung befindet sich in einem Nebengebäude des Hotels. Die Miete ist günstig und es ist vor allem praktisch, morgens aus der Tür zu fallen und gleich im Hotel zu sein. Und in Momenten der Einsamkeit ist jemand zum Reden da.

    Ich gehe in die Küche. Conny steht am Herd und schlägt Eier in die Pfanne. Sie trägt eine Jogginghose und ein lockeres T-Shirt, ihre Lieblingskleidung, die sie sofort anzieht, wenn sie in die Wohnung kommt. Conny mag die schwarz-weiße Dienstkleidung auch nicht.

    Ich setze mich auf den Stuhl und betrachte meine Freundin, wie sie da am Herd mit Pfanne und Kochlöffel hantiert.

    Conny hat lange braune Haare, die sie bei der Arbeit zusammengebunden trägt und in der Freizeit immer offen. So wie sie jetzt aussieht, dürfte sie nie die Rezeption betreten.

    Conny ist vierundzwanzig, vier Jahre jünger als ich und im zweiten Lehrjahr. Es ist ihre zweite Lehre. Als Chemie-Laborantin hat sie es nur ein Jahr in ihrem Beruf ausgehalten. „Ich muss Menschen um mich haben und keine Reagenzgläser", hat sie gesagt, als wir uns zum ersten Mal im Hotel begegnet sind.

    „Willst du auch Spiegeleier?", fragt Conny und angelt im Küchenschrank nach einem Teller.

    „Nein, danke, ich habe keinen Hunger."

    Conny mustert mich kurz. „Zieh dich endlich um. Das Weiß steht dir gar nicht."

    „Ich weiß, hatte noch keine Zeit."

    „Was ist los? Du siehst nicht gerade glücklich aus."

    „Habe gerade mit Mark telefoniert. Er benimmt sich eigenartig."

    Conny setzt sich zu mir, stellt den Teller ab und sieht mich fragend an. „Er hat mich wieder abgewimmelt, keine Zeit und so. Und im Hintergrund war eine Frauenstimme zu hören. Ob er vielleicht …"

    „Da wäre er schön blöd. So was wie dich bekommt er nicht noch einmal", unterbricht sie mich, bevor sie sich den ersten Bissen in den Mund schiebt.

    „Und so ein Angebot auch nicht", füge ich nachdenklich hinzu.

    „Was meinst du?"

    „Frau Steger hat angedeutet, dass sie das Hotel schon früher abgeben würde, wenn es ihr in Australien gefällt. Sie kann sich vorstellen, dass Mark und ich es übernehmen. Soll in der Familie bleiben und in ihrem Sinne weitergeführt werden."

    „Wow, dann wirst du hier die Chefin und ich werde deine rechte Hand."

    Ich lache kurz. „Aber nur als Freundin von Mark."

    „Dann musst du alles daransetzen, Mark zu halten. Du wirst ihn doch in einer Woche besuchen."

    „Nein, daraus wird nichts. Ich soll das Hotel für vier Wochen leiten, ich kann hier nicht weg."

    Conny lässt die Gabel fallen. „Und das sagst du so nebenbei. Dann sind doch die Dinge schon klar. Du hast deinen ersten Probelauf, Nora."

    Mein Magen beginnt zu rebellieren. Ich laufe zur Toilette und muss mich übergeben. Was ist das schon wieder? Ich darf jetzt nicht ausfallen, denke ich panisch. Mal sehen, was Dr. Zimmermann morgen sagt, wenn der Befund vorliegt.

    Wahrscheinlich muss ich endlich mal eine Diät halten.

    DIE NACHRICHT

    Wieder muss ich warten. Diesmal auf den Arzt. Ich sitze seit zwanzig Minuten im Behandlungsraum, nachdem ich vorher schon eine halbe Stunde im Warteraum verbracht habe. Ich bin doch nur zur Auswertung gekommen. Weshalb dauert das so lange? Am Telefon hat die Arzthelferin keine Auskunft gegeben. „Kommen Sie bitte in die Sprechstunde." Es klang dringend. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Conny muss deshalb die Rezeption übernehmen. Sie hat heute ihren freien Tag und will zum Friseur. Ich kann nicht mehr stillsitzen, stehe auf und gehe im Zimmer auf und ab. Die Aquarelle an den Wänden lenken mich ab. Die Thüringer Landschaft in Pastellfarben. Ein Künstler aus der Gegend hat sie gemalt. Im Hotel hängen auch Bilder von ihm. Wenn ich sie betrachte, bekomme ich Lust zum Wandern. Endlich geht die Tür auf und Dr. Zimmermann, ein korpulenter Mann mit Halbglatze in den Sechzigern, tritt ein. Er begrüßt mich ernst, bittet mich Platz zu nehmen und widmet sich zunächst seinem Computer. Anscheinend öffnet er meine Akte.

    Dann wendet er sich mir zu und sagt zögerlich: „Nora, ich habe leider keine guten Nachrichten für Sie."

    „Muss ich etwa sterben?", frage ich lächelnd. Es soll ein Scherz sein. Der Mann runzelt die Stirn. Ich habe ein klares Nein oder wenigstens ein Kopfschütteln erwartet. Doch da ich das nicht erhalte, wird mir der Ernst der Lage klar.

    „Ihre Kopfschmerzen, wir haben die Ursache. Er zögert wieder. „Ein Hirntumor.

    Dr. Zimmermann wartet, bis die Nachricht bei mir angekommen ist. Ich schnappe nach Luft. „Aber das kann doch gar nicht sein. Ich fühle mich doch gut, na bis auf die gelegentlichen Kopfschmerzen und die Übelkeit… Da kann man doch bestimmt etwas machen? Es haben doch viele Menschen Tumore … Krebs … oder so etwas", rede ich aufgeregt. Ich sehe den Arzt hilfesuchend an.

    Schließlich sagt er leise: „Es handelt sich um einen schnell wachsenden Hirntumor. Das Problem ist, der Tumor sitzt an einem lebenswichtigen Bereich des Gehirns, dem Atemzentrum und ist deshalb inoperabel."

    Ich fühle mich einen Moment wie versteinert, dann presse ich heraus: „Dann muss ich also wirklich ster…?"

    Der Arzt nickt ein wenig.

    „Wie lange habe ich noch?"

    Dr. Zimmermann zögert. „Ich gebe keine Prognosen ab."

    „Ungefähr. Wochen, Monate, Jahre? Der Mann druckst herum. „Na sagen Sie schon. Sind es Monate oder Wochen?, schreie ich ihn an.

    „Nicht mehr lange", flüstert er.

    Mir wird übel. Ich gebe einen erstickten Laut von mir und stürze aus dem Behandlungszimmer, aus dem Warteraum, aus der Praxis. Das kann alles nur ein Irrtum sein. Ich fühle mich doch gut. Die Übelkeit in letzter Zeit und die Kopfschmerzen deuten höchsten auf eine Magenverstimmung hin, aber nicht auf einen inoperablen Hirntumor. Ich laufe den Weg zum Hotel im Dauerlauf. Der Weg ist stellenweise vereist. Mehrmals rutsche ich fast aus. Doch das alles nehme ich kaum wahr. Ich klammere mich an den Gedanken: Conny muss zum Friseur und ich muss die Rezeption übernehmen. Völlig erschöpft komme ich im Hotel an und lehne mich einen Augenblick an die Hauswand, um durchzuatmen. Ich betrete das Hotel durch den Seiteneingang, um nicht an der Rezeption bei Conny vorbeizugehen. Vom breiten Flur gehen mehrere Türen ab und die Treppen nach oben und in den Keller. Ein Blick in den goldumrandeten Spiegel zeigt mir, dass ich trotz der Kälte leichenblass bin.

    Bloß jetzt nicht der Chefin begegnen. Ich muss erst in meine Wohnung und mein Gesicht herrichten, bevor ich Conny ablösen kann. Niemand darf etwas merken, niemand darf etwas erfahren, schon gar nicht Frau Steger. Sie hat seit Monaten die Reise nach Australien zu ihrer Tochter geplant. Sie will endlich ihr Enkelkind in den Armen halten.

    Ich sehe mich im Flur um, achte auf die Tür zum Büro. Ich höre Stimmen, hoffe, dass die Chefin telefoniert und ich mich vorbei schleichen kann. Gerade als ich aus meiner verborgenen Ecke hervortrete, wird die Tür geöffnet. Ich höre Frau Steger sagen: „Wo bleibt denn Nora? Sie können ruhig gehen, Conny. Ich übernehme, muss bloß noch mal kurz in die Küche."

    Vor Schreck ergreife ich die nächste Klinke und schiebe mich in den Raum.

    NEUES WISSEN

    Erst als ich drin bin, wird mir bewusst, dass ich die Tür zum großen Seminarraum geöffnet habe. Zum Glück hat es niemand von den vierzig Teilnehmern bemerkt. Ich lasse mich auf den Stuhl neben der Tür fallen. Eine gefühlte Ewigkeit sitze ich nur da. Ich weigere mich nachzudenken.

    Die Nachricht kommt mir so unwirklich vor, wie die Nachricht damals, als meine Schwester tödlich verunglückt war.

    Ich habe das Gefühl, auf dem Stuhl festzukleben. Jeder Versuch, mich zu erheben, misslingt. Ich gebe mir den Befehl: Reiß dich zusammen und geh nach oben! Ich starte einen weiteren Versuch. Doch da höre ich den Seminarleiter, Professor Sahar, sagen: „Ein Therapeut, der die Seele des Menschen nicht anerkennt, ist selbst Patient." Der Satz trifft mich wie ein Schlag in den Magen und zieht mich wieder auf den Stuhl zurück. Auf einmal bin ich hellwach.

    Habe ich richtig gehört? Ein Therapeut, der die Seele des Menschen nicht anerkennt, ist selbst Patient. Das hätten jetzt meine Eltern hören müssen. Mein Vater, ein Professor der Psychologie und meine Mutter, eine Psychotherapeutin, beide bekennende Atheisten, was hätten sie wohl darauf geantwortet?

    Ich erinnere mich an die Worte meines Vaters: „Dieses ganze Geschwätz von der Seele ist nicht zu beweisen. Wir haben es hier mit der Psyche eines Menschen zu tun, mit seinem Bewusstsein und seinem Unterbewusstsein. Der Begriff Seele ist unwissenschaftlich."

    Ich habe ihn damals gefragt: „Ist das Herz nicht mit der Seele gleichzusetzen? Mein Vater hat nachsichtig gelächelt und geantwortet: „Stell dir vor, man kann heute ein Herz durch eine Transplantation auswechseln. Bekommt der Mensch dadurch einen anderen Charakter? Wird er dadurch ein anderer Mensch? Ich habe verneint. Aber was ist die Seele?

    Als hätte Professor Sahar meine Gedanken gelesen, gibt er mir eine Antwort auf die Frage: „Die Seele ist ein Zeichen Gottes, ein Geheimnis. Die gelehrtesten Menschen können dieses Geheimnis nicht enträtseln. Die Seele ist das erste von allen erschaffenen Dingen, das die Vollkommenheit des Schöpfers verkündet, Seine Herrlichkeit anerkennt und ihn anbetet."

    Was waren das für seltsame Worte.

    „Wenn sie Gott treu ist, wird sie Sein Licht widerstrahlen und schließlich zu Ihm zurückkehren."

    Zurückkehren … Licht widerstrahlen. Die Worte hallen in mir nach. Eine Frage schießt mir in den Kopf: Wo ist denn die Seele? Und im nächsten Moment höre ich die Antwort von dem kleinen untersetzen Mann da vorn, der auch ein Professor der Psychologie ist und schon zum vierten Mal in diesem Hotel ein Seminar gibt: „Die Seele ist nicht im Körper. Man kann die Verbindung zwischen Körper und Seele vergleichen mit der Verbindung zwischen Spiegel und Sonne. Der Spiegel reflektiert die Sonne, aber die Sonne steigt nicht in den Spiegel. Wenn der Spiegel zerbricht, bleibt die Sonne unbeschädigt. So verhält es sich auch mit dem Körper und der Seele. Wenn der Körper zerfällt, bleibt die Seele unberührt. Sie lebt weiter in ewigen Welten."

    Eben noch im apathischen Zustand, werde ich jetzt von einer unerklärlichen Neugier gepackt. Was hat der Professor gesagt? Die Seele lebt weiter in ewigen Welten? Wie kann es sein, dass ich gerade jetzt, zu einem Zeitpunkt, wo der Arzt mir mein nahes Ende verkündet hat, diese Worte höre? Gibt es etwa doch einen Gott, der mich führt, auch wenn man ihn wissenschaftlich nicht beweisen kann?

    Meine Eltern glauben nicht an Gott. Ich habe keine religiöse Erziehung gehabt. Wieder lenke ich meine Aufmerksamkeit auf die Ausführungen des Professors und höre ihn sagen:

    „Der wahre Mensch ist eben nicht Körper, sondern Seele oder anders gesagt. Der Mensch ist eine Seele, die für die Zeit auf Erden einen Körper hat."

    Und meine Zeit hier auf Erden soll zu Ende gehen? Das kann doch nur ein Irrtum sein.

    „Die materielle Welt ist die primitivste Welt im Vergleich zu den unendlichen geistigen Welten. Sie ist der Mutterleib, in dem sich die vernunftbegabte Seele eine Zeit lang entwickelt und ihre geistigen Organe für das Leben im Jenseits bildet", sagt Professor Sahar.

    Geistige Organe in der materiellen Welt ausbilden, die eine Art Mutterleib für die Seele ist, wiederhole ich für mich.

    Was waren das für seltsame Ansichten? Noch nie habe ich so etwas gehört. Es klingt unwirklich. Trotzdem bin ich von der Sicherheit des Professors beeindruckt. Und noch etwas fällt mir auf. Die Aussagen geben Trost, schwächen die Schärfe der Mitteilung ab, die ich gerade erhalten habe.

    Jemand fragt: „Wie muss ich mir die nächste Welt vorstellen?"

    Der Professor antwortet: „Vorstellen können wir uns diese Welt nicht, denn sie ist so verschieden, wie die Welt hier von der Welt des Kindes im Mutterleib. Aber einige Informationen kann ich Ihnen geben. Wir behalten unser Bewusstsein und unsere Individualität. Beides gehört zum Diesseits und zum Jenseits. Die Seele kennt sich selbst, ihre Vergangenheit und steht in engem Kontakt mit Verwandten und Freunden."

    In meinem Kopf wirbeln Fragen durcheinander. Wie soll das gehen, dass ich ohne Körper mein Bewusstsein behalte?

    Und wie erkenne ich Verwandte, die auch keinen Körper mehr haben? Ein eigenartiges Gefühl breitet sich in mir aus, das Gefühl, dass ich etwas Grundsätzliches in meinem Leben verpasst habe. Langsam dringt es in mein Bewusstsein, dass ich wohl auch kaum die Gelegenheit haben werde, es nachzuholen.

    Der nächste Gedanke trifft mich wie ein Blitz. Plötzlich wird mir bewusst, was mein Tod für meine Eltern bedeuten muss. Sie haben schließlich schon eine Tochter verloren.

    Der alte Schmerz taucht wieder auf. Lena ist vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Danach haben sich meine Eltern gegenseitig die Schuld an ihrem Tod gegeben. Die Ehe ist daran zerbrochen. Seither leben sie getrennt und sind nicht einmal in der Lage, miteinander zu reden. Das trifft ausgerechnet sie, die beide in der Psychologie zu Hause sind. Mutti ist eine gute Therapeutin, hilft den Menschen mit Trauer und Verlust fertig zu werden.

    Vati behandelt das Thema Abschied, Trauer, Verlust in seinen Seminaren. Beide können anderen helfen, nur sich selbst nicht. Vati hat den Verlust von Lena verdrängt, indem er sich eine jüngere Frau gesucht und viele Reisen unternommen hat. Mutti hat sich in die Arbeit geflüchtet.

    Sie schaffen es nicht, die Scheidung einzureichen und einen Schlussstrich zu ziehen. Und jetzt komme ich mit einem weiteren Problem. Diesmal handelt es sich nicht um ein abgebrochenes Studium, um ein überzogenes Konto, um eine Grippe, nein diesmal ist es etwas, das man nicht einfach korrigieren kann. Es ist mein Tod. Ich kann gerade noch einen Aufschrei unterdrücken.

    Der Professor verkündet eine Pause. Ich springe auf und verlasse den Raum, bevor es die Teilnehmer tun.

    VERWIRRUNG

    Draußen stoße ich mit meiner Chefin zusammen. „Wo warst du denn, Nora? Kannst du jetzt die Rezeption übernehmen? Ich muss dringend weg. Conny ist beim Friseur."

    Ich nicke nur und senke beschämt den Kopf. Sonja Steger hat mir gerade die Leitung des Hotels anvertraut. Jetzt macht es den Eindruck, als wäre ich unzuverlässig. Ich suche krampfhaft nach einer Ausrede. Doch zum Glück hat meine Chefin keine Zeit.

    „Ich muss los", ruft sie und eilt davon. Ich atme tief durch.

    Sollte ich ihr vielleicht doch sagen, was mit mir los ist?

    Nein, es ist niemand da, der das Hotel in ihrer Abwesenheit leiten kann. Frau Steger soll ihren Urlaub haben und wenn es mit mir sowieso vorbei ist, dann habe ich wenigstens noch eine gute Tat vollbracht.

    Ich eile durch die Glastür in die Rezeption. Gerade bildet sich eine Schlange vor dem Tresen. Einige Gäste wollen bezahlen, andere haben noch nicht ihr Mittagessen gewählt und sich in die Liste eingetragen. Das Telefon klingelt zwischendurch. Ich bin gefordert, spule die geübten Begrüßungsworte ab und notiere die Bestellungen.

    Sonja kommt noch einmal zurück und ruft mir zu: „Ach, Dr. Zimmermann hat angerufen. Du hast dein Rezept vergessen, sollst noch mal vorbeikommen."

    Ich nicke und werde zum Glück wieder durch das Klingeln des Telefons abgelenkt. Die nächste Stunde bin ich sehr beschäftigt, komme nicht mehr zum Nachdenken. Die Routine hilft mir, zur Ruhe zu kommen.

    Während die Gäste zu Mittag essen, gehe ich noch einmal zur Arztpraxis. Die kühle Luft tut mir gut. Der Weg ist nicht mehr vereist. Aber ich gehe trotzdem bewusst langsam. Seltsam, wie sich das Leben von einem Moment auf den nächsten ändern kann. Einige Aussagen des Professors gehen mir durch den Kopf. Ein Therapeut, der die Seele nicht anerkennt, ist selbst Patient. Wie würde mein Vater auf diese Worte reagieren? Wahrscheinlich wäre er hochgegangen wie eine Rakete. Religion ist ein rotes Tuch für ihn. Seine Oma hat da wohl viel Schaden angerichtet.

    Wieder kommt mir eine Aussage aus dem Seminar in den Sinn: In der nächsten Welt werden meine Individualität und mein Bewusstsein vorhanden sein und ich werde Verwandte und Freunde, die schon verstorben sind, wiedersehen. Wie mache ich das ohne Körper? Auch bei dieser Aussage würde Vati protestieren. Und trotzdem. Professor Sahar hat hier schon vier Seminare gegeben. Sie waren immer ausgebucht.

    Die Seminarteilnehmer sind höfliche, freundliche Menschen. Soweit ich mich erinnere, hat sich nie jemand beschwert. Die Leute geben doch kein Geld für Unsinn aus.

    Plötzlich stehe ich vor der Tür der Praxis und wundere mich, dass ich schon da bin. Ich klingele. Kurz darauf öffnet die Arzthelferin die Tür und sagt einfühlsam: „Der Doktor hat auf Sie gewartet. Kommen Sie, Frau Steinfeld." Sie begleitet mich in den Behandlungsraum.

    Der Arzt sitzt immer noch oder schon wieder hinter seinem Schreibtisch. „Setzen Sie sich, Nora. Auch seine Stimme klingt besonders sanft. Er wartet bis ich Platz genommen habe. „Ich weiß, dass die Nachricht ein harter Schlag ist. Es gibt auch keine Worte, die diese Botschaft leichter oder erträglicher machen. Sie sind noch so jung. Da denkt man noch nicht ans Sterben. Sie müssen wissen, dass es Behandlungsmöglichkeiten gibt. Ich möchte Sie zu einem Onkologen überweisen.

    „Was kann der machen?"

    „Man könnte es mit einer Kombitherapie versuchen, Strahlen- und Chemotherapie in der Kombination."

    „Habe ich damit eine Heilungschance?"

    „Es wäre eine lebensverlängernde Maßnahme."

    „Nein, ich lasse mir keine Chemo verpassen, wenn es sowieso vorbei ist", sage ich trotzig.

    „Nora, Sie müssen die Nachricht erst verdauen. Denken Sie in Ruhe darüber nach, aber warten Sie nicht zu lange. Ich habe Ihnen etwas gegen die Kopfschmerzen aufgeschrieben und empfehle Ihnen, Selen und Vitamindrinks zu nehmen, um das Immunsystem zu stärken. Und hier ist der Krankenschein."

    Ich schüttele heftig den Kopf und spüre sofort einen stechenden Schmerz. „Auf den Tod warten, nein. Ich wohne, lebe und arbeite im Hotel. Meine Chefin freut sich seit Wochen auf ihre Reise nach Australien. Ich soll das Hotel in dieser Zeit leiten. Eigentlich soll ich ihre Nachfolgerin … Ich schlage die Hände vors Gesicht. „Oh nein, das wird ja alles nichts mehr. Kann ich denn wenigstens …?

    Dr. Zimmermann legt seine Hand auf meinen Arm. „Wie lange bleibt denn Ihre Chefin weg?"

    „Vier Wochen."

    „Das könnte gehen. Aber Sie dürfen sich nicht übernehmen.

    Ich bin da, wenn Sie mich brauchen."

    „Bitte erzählen Sie niemandem … „Ich bin der ärztlichen Schweigepflicht unterworfen, unterbricht er mich.

    „Was macht man zuerst, wenn man erfährt, dass man in ein paar Wochen sterben wird? Mir fehlt die Erfahrung mit dieser Situation." Mein hysterisches Lachen geht in ein Schluchzen über.

    „Ich habe auch keine persönlichen Erfahrungen damit, sagt er leise. „Sie können Dinge erledigen, die Ihnen wichtig sind. Was würden Sie denn gerne in Ihrem Leben noch tun?

    Ohne zu überlegen sage ich: „Frieden in meiner Familie stiften. Meine Eltern leben seit dem Tod meiner Schwester getrennt. Sie sprechen nicht einmal miteinander. Sie geben sich nämlich gegenseitig die Schuld an ihrem Tod. Und mein Stiefbruder spricht nicht mit seinem Vater, weil er ihn für den Selbstmord seiner Mutter verantwortlich macht.

    Und meine Oma spricht auch nicht mit meinem Vater, weil er meine Mutter im Stich gelassen hat."

    „Da ist ja ganz schön was los in Ihrer Familie. Woran ist denn Ihre Schwester verstorben?"

    „Ein Autounfall vor knapp drei Jahren."

    „Ihre Eltern müssen sich professionelle Hilfe holen."

    Ich lache kurz auf. „Das ist nicht so einfach. Mein Vater ist Psychologe und meine Mutter Psychotherapeutin. Sie sind nur in der Lage anderen zu helfen. Die Bemerkung klingt bitter. „Sie dürfen auf keinen Fall etwas von meiner … Sache … Krankheit erfahren. Ich habe schon so viel Mist gebaut in meinem Leben, aber … Plötzlich wird mir bewusst, was ich da für einen Unsinn rede. Als ob man den Tod verheimlichen könnte.

    „Nora, Sie müssen mit Ihren Eltern reden, je früher desto besser. Es ist wichtig, dass sie Abschied nehmen können.

    Das plötzliche, unerwartete Ableben ist härter für die Hinterbliebenen. Das ist jedenfalls meine Erfahrung."

    Ich starre ihn an. Was er sagt, klingt vernünftig und doch scheint es so, als hätte es nichts mit mir zu tun. „Ich weiß nicht, wie ich es ihnen sagen soll: Hallo ihr beiden, habe schlechte Nachrichten. Wollte euch eigentlich keine Probleme mehr bereiten. Aber nun, ich werde demnächst sterben. Das klingt doch wie ein schlechter Witz."

    Wir reden noch eine Weile. Dr. Zimmermann versucht, mich noch einmal von der Kombitherapie zu überzeugen und überreicht mir den Umschlag mit dem Befund. Dann begleitet er mich zur Tür.

    Ich gehe in einem langsamen Tempo zurück. Diesmal sehe ich mir Straßen und Häuser genau an, so als würde ich sie zum letzten Mal betrachten.

    Ich möchte jetzt niemandem begegnen, hoffe, dass die Mitarbeiter inzwischen gegessen haben. Ich habe absolut keinen Hunger und will lästigen Fragen aus dem Weg gehen.

    Bewusst nehme ich den Hintereingang. Links befindet sich die Tür zur Küche, rechts ein Eingang ins Restaurant. Ich gehe davon aus, dass die Gäste ebenfalls mit dem Mittagessen fertig sind und der Raum leer ist. Zögerlich ergreife ich die Türklinke. Da kommt Hannes Becker, unser neuer Koch, aus der Küche und sagt: „Nora, dein Essen steht in der Mikrowelle. Ich mache es dir warm."

    „Danke", sage ich mit einem gequälten Lächeln. Essen ist das Letzte, was ich jetzt will. Für die Angestellten ist es üblich, im kleinen Speiseraum zu essen. Ich hänge meine Jacke an die Garderobe und gehe mir die Hände waschen.

    Als ich zurückkomme, stellt Hannes gerade den Teller auf den Tisch. Er hat seine Kochmütze abgesetzt. Genauso aufmerksam, wie ich die Häuser und Straßen auf dem Rückweg vom Arzt betrachtet habe, sehe ich mir jetzt Hannes an. Seine Haare sind länger als sonst, kräuseln sich am Hals. Er hat braune Haare, ich habe immer gedacht, sie wären dunkelblond. Hannes ist groß, breitschultrig und schlank, fast zu schlank für einen Koch. Ich kenne ansonsten nur Köche mit Übergewicht. Als ich merke, dass auch er mich mit seinen braungrünen Augen mustert, drehe ich mich um und blicke in den großen Speiseraum. Dort ist doch noch jemand. Einige Gäste sitzen in der hinteren Ecke und unterhalten sich mit dem Professor.

    Hannes leistet mir Gesellschaft. Das überrascht mich. Er geht normalerweise gleich nach dem Essen nach Hause und kommt erst um sechzehn Uhr wieder. Ich suche nach Worten. Es fällt mir absolut nichts ein, worüber ich mit ihm reden könnte. Hannes ist im Allgemeinen sehr still, aber wenn er etwas sagt, bringt er die Dinge auf den Punkt. Das ist mir manchmal unheimlich und gibt mir das Gefühl, er würde in mich hineinsehen können. Was weiß ich eigentlich von ihm? Er stammt aus der Gegend, hat seine Lehre in Erfurt in einem Sterne-Restaurant gemacht und hat ein paar Jahre auf einem Kreuzfahrtschiff als Koch gearbeitet. Er ist vier Jahre älter als ich. Hannes ist nach Hause zurückgekehrt wegen seiner Mutter, die einen Schlaganfall erlitten hat.

    Als ich den ersten Bissen im Mund habe, fragt Hannes, wie es mir schmeckt. Ich fühle mich beobachtet. „Es schmeckt gut. Rosenkohl, Schweinebraten und Kartoffelbrei esse ich eigentlich gern, habe nur leider keinen großen Hunger."

    Sein Blick wandert an mir herunter und wieder hinauf. „Du musst aber essen. Du hast abgenommen und siehst blass aus."

    Seine Besorgnis ist echt und das macht mich noch nervöser.

    „Es geht dir nicht gut. Was hast du denn?"

    Ich schlucke das Essen herunter und gleichzeitig die aufsteigenden Tränen. Ich ringe um Fassung und sage steif:

    „Ich habe heute Nacht schlecht geschlafen." Wenigstens das stimmt.

    Sonja Steger kommt von der anderen Seite in den Raum gewirbelt. „Nora, warst du beim Arzt? Ich meine, hast du das Rezept abgeholt, ansonsten kann ich es nachher mitbringen."

    „Ja, ja, ich hab es schon."

    „Magenschleimhautentzündung, stimmt’s? Du hast zu viele Süßigkeiten gegessen." Sie lächelt mich an.

    „Genau", sage ich und drehe den Kopf zur Seite, damit Sonja nicht merkt, dass ich rot werde.

    „Du musst auf deine Ernährung achten. Hannes, Nora bekommt nur Diätkost."

    „Warum sagst du mir das nicht? In dem Fall sind Rosenkohl und Schweinebraten keine gute Idee. Dann iss nur den Kartoffelbrei. Ich kann dir noch

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1