Der Messias vom Stamme Efraim
Von Moische Kulbak
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Über dieses E-Book
Erzählt wird die Geschichte vom Müller Reb Benje, der Messias werden soll. Auf seinem Weg, der manche Prüfung bereithält, begegnet er Levi Pataschnik, dem Geldverleiher, dem Waldbewohner Simche Plachte, einem fröhlichen Mann, der sich von Gemüse ernährt und ein selbstzubereitetes Kraut raucht, dem polnischen Fürsten Lubominski und dem Großgrundbesitzer Pan Wrubelski. Außerdem dem närrischen Philosophen Gimpel Sasskewitzer sowie der jungen Lilith, aber vielleicht ist die auch nur eine Erscheinung. Ganz real aber sind die Lamedwow, die 36 Gerechten, die den Fortbestand der Welt garantieren.
Obwohl sich Benje alle Mühe gibt, will es mit der Erlösung nicht so recht klappen. Mit Schlamm statt mit Duftölen gesalbt, reitet der Müller auf seiner geschundenen Kuh in die Stadt ein. Ein fast apokalyptisches Gemälde von philosophischer Tiefe und verschmitztem poetischem Charme.
Moische Kulbaks eigenwilliger Kurzroman erinnert an vieles: an verrückte, hochfliegende expressionistische Sprachbilder, an die chassidische Erlöser-erwartung und die kabbalistische Mystik – oder auch an Bobrowskis Roman "Levins Mühle".
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Buchvorschau
Der Messias vom Stamme Efraim - Moische Kulbak
Die Übersetzung folgt der 1924 im Berliner Verlag Wostok erschienenen Erstausgabe »Maschiach ben Efrajim«. Sie erschien erstmals 1996 im Verlag Volk und Welt und wurde für diese Ausgabe leicht überarbeitet.
E-Book-Ausgabe 2020
© 2018 für diese Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung: Julie August
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 978 3 8031 4299 3
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3295 6
www.wagenbach.de
Eröffnung
All jene, die ihre Seelen an das Wort JHWH gehängt haben, die Lamedwow, die sechsunddreißig Gerechten, wandeln abgeschieden und allein am Rande der Welt.
Im Dunkel verharren sie zuweilen. Sie spüren einander über die Ferne, doch keiner kann den anderen sehen. Sie schreiten am Rande der Welt, große Juden mit langen Stecken, gebeugt in die mitternächtliche Bläue des Himmels.
Und am Tage des Gerichts kommen sie, mit zerzausten Bärten, in Pelzen und Stiefeln, mit ihren Birkenstöcken in der Hand. Und sie fragen nicht: Sie kommen und setzen sich vor den Thron der Herrlichkeit.
Sie schieben ihre Ärmel ineinander und wärmen sich in der Heiligkeit des Allmächtigen.
Und sie rauchen ihre Pfeifen.
Der Allmächtige aber sitzt auf dem Thron der Herrlichkeit und lächelt. Ihm gefallen seine schlichten Zaddikim.
Der Müller
In Weißrußland lebte einmal ein Mann, er war Müller.
Sein Weib war gestorben, den Sohn zog man zu den Soldaten.
Die Mühle überwucherten Gräser und Moos.
Ihr Dach glitt, einem Schafspelz gleich, nieder zur Erde.
Das Landstück verkam.
Nur Elstern flogen umher, armselige Elstern.
Der Müller wußte nicht mehr ein noch aus.
Er ging in den Stall und sah: Nur eine Kuh war ihm verblieben von allem Besitz.
Da setzte er sich einsam auf die Schwelle seines Hauses und vergoß bittere Tränen.
Man nannte ihn Benje.
Was geschieht, wenn ein Mensch allein bleibt
In einem alten Buch las ich, daß ein Mensch sich davor hüten solle, allein zu bleiben. Anfangs glaubt er, es mache ihm nichts aus. Später aber kommen krause Gedanken, seine Stimme verändert sich und er geht herum wie im Taumel.
Hätte Benje dies gewußt, wäre er vielleicht nicht in der Mühle geblieben. Vielleicht hätte er sich aufgerafft und wäre in ein Nachbardorf gezogen, oder er hätte einfach zum zweiten Mal geheiratet.
Für einen älteren Menschen allein ist das Leben auf dem Lande zu schwer.
So aber kochte Reb Benje jeden Tag sein bescheidenes Mahl, molk die Kuh und ging hernach, die Hände auf dem Rücken verschränkt, um die Mühle spazieren. Oder er sagte Psalmen auf, wie es einsame Menschen oft tun.
Doch wie er einmal zum Brunnen ging, um sich zu waschen, sah er im Wasser, daß seine Unterlippe herabhing.
Benjes Unterlippe hatte nie zuvor herabgehangen.
Er verstand gleich: Das kam, weil er allein war. Er ging zurück ins Haus, nahm den Spiegel von der Wand, musterte sich, und in der Tat, seine Lippe hing herab. Dafür waren ihm die Brauen dichter zusammengewachsen, und er sah haarig aus, zottig und verwahrlost wie ein Iltis. Reb Benje betastete seine Lippe und spürte, daß sie trocken war wie ein Stück Lehm.
Und obgleich der Abend mild war, kroch er auf den Ofen und mummte sich in seine alten Sachen. Bald darauf schlief er ein.
Reb Benje weidet die Kuh
Hinter der Mühle erhob sich ein Tannenwald.
In Weißrußland herrschten die Nebel, und Regen durchnäßten das Land.
Im Morgengrauen führte Reb Benje die Kuh auf die Weide.
Sie gingen auf lehmigen Wegen, über faulig riechende Felder, in den alten Wald.
Reb Benje lief voraus, und die Kuh trottete ihm am Strick hinterher.
Sie stiegen durchs Unterholz zwischen den Bäumen, und nasse Zweige übersprühten sie mit Wasser, doch Benje war so in Gedanken, daß er es nicht merkte.
So kamen sie von einem Dickicht ins nächste.
Die Kuh zupfte zuweilen nasses Gras von einer Wurzel, um sich zu laben.
Die Stubben verfaulten und kauerten sich in den Farn.
Das Moos bedeckte ringsum die Erde und griff nach den Bäumen. Und in der steinernen Taubheit erklangen und verloschen die kalten Stimmen des Waldes.
Reb Benje führte die Kuh durch verregnete Weiten.
Beide schleppten sich erschöpft dahin, mit gesenkten Köpfen, die schwer waren vom Nichtdenken.
Reb Benje hatte oft Gedanken, ohne zu denken.
Es herrschte Stille. Seine nackten Füße waren rot vor Kälte und schlammbedeckt, aus dem zerschlissenen Kaftan lugte die Wolle. Reb Benje blieb stehen, schaute an sich herab und betrachtete die Kleider des Waldes.
Ach, Benje, was haben die Tannen für schöne Gewänder!
Levi, der Geldverleiher
Levi, der Geldverleiher, ein Bruder Benjes, war aus Saßkevitz nach Wilna gezogen und in der litauischen Stadt bald zu hohem Ansehen gelangt, denn er tätigte Geschäfte mit Generälen und wohlhabenden Bürgern.
Er hatte eine Tochter, ein bildhübsches Mädchen, das schönste von Wilna.
An seinem Haus hing ein Schild: »Hier wohnt Levi Pataschnik.«
Reb Levi handelte mit Bauholz und Getreide.
Wenn er nachts im Arbeitszimmer saß, ließ er sich zuweilen die Geschäftsbücher bringen.
Die schöne Tochter las ihm daraus vor:
Sein Getreide fuhr auf allen Straßen.
Sein Bauholz flößte man auf allen Strömen.
Seine Gärten trugen goldne Früchte.
Seine Hühner legten goldne Eier.
Levi Pataschnik lächelte.
»Genug«, sagte er dann zur Tochter. »Du kannst schlafen gehen!«
Und die ganze Nacht schritt er in seinem Zimmer auf weichen Teppichen umher und dachte:
»Gold ist Gold wert! Gold ist wirklich Gold!«
Die drei Besucher
Reb Benje saß auf dem Erdwall am Haus und schaute hinaus auf den Weg. Es war ein heller Abend in Weißrußland. Als er die Augen hob, sah er drei Männer nahen.
Er stand auf und ging ihnen ein Stück entgegen.
Drei in Pelze gehüllte bärtige Juden mit Rucksäcken kamen schweren Schrittes aus dem Wald.
Benje trat auf die Wanderer zu und grüßte, die Fremden erwiderten seinen Gruß mit einem Nicken, sie blickten ihn an und brummten heiser, sagten jedoch kein Wort.
(Es gibt Menschen, denen es bestimmt ist zu schweigen.)
Reb Benje geleitete die Fremden zu seinem Haus und öffnete ihnen die Tür.
Die Männer beugten sich beim Eintreten unter den Türbalken, denn sie waren breitschultrig und hochgewachsen.
Im Hause herrschte schon Nacht.
Die Besucher legten Rucksäcke und Stecken langsam zur Seite, ihre Sachen rochen nach Teer und dem Duft des Waldes.
Reb Benje betrachtete seine Gäste mit großer Neugier.
Sie ließen sich auf die breiten Bänke am Tisch nieder, ihre großen Gestalten ragten ins Dunkel wie Stümpfe alter Baumriesen.
Reb Benje fragte sie, woher sie kämen.
Der älteste Gast hob die Brauen, zog eine Tonpfeife aus der Tasche und sagte:
»Aus Weißrußland.«
Mehr hatte Benje nicht zu fragen, seine Gedanken waren ihm ins Fleisch gewachsen.
In der trüben Finsternis glommen die blauen Scheiben, und die Juden legten ihre Pelze auf die Bänke.
Reb Benje zündete einen Kienspan an. Die Gäste sahen sich im Zimmer um und warfen seltsame Schatten an die Wände. Und die Kuh im Stall ahnte wohl etwas, denn sie verließ ihr warmes Lager und steckte ihren Kopf durch das Fenster zur Stube. Sie lauschte.
Reb Benje setzte sich still zu seinen Gästen an den Tisch. Er schaute sie an und wollte über etwas nachdenken, doch es gelang ihm nicht, sosehr er sich auch mühte.
Dann wandte er sich unvermittelt an die Männer:
»Freunde, was soll ich tun?«
Die Gäste blickten ihn stumpfsinnig an, und nach einer Weile fragte der älteste von ihnen:
»Hast du zu essen?«
»Ja.«
»Tue gar nichts.«
»Wirklich? Und wo ist der Sinn?!«
»Es gibt keinen Sinn.«
»Es gibt keinen Sinn?!«
Und der älteste Gast, jener, der geantwortet hatte, kehrte ihm den Rücken, legte sich auf die harte Pritsche, bedeckte sich mit seinem Pelz und zog ihn bis über den Kopf. Die beiden anderen taten es ihm gleich. Sie wollten schlafen.
Reb Benje stand neben ihm.
Lange Zeit stand Benje neben dem ältesten Gast, dann verschränkte er die Hände auf dem Rücken und ging leise im Zimmer auf und ab. Die Kuh am Fenster schaute ihm dabei zu.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke und es durchfuhr ihn heiß. Er trat an den ältesten Gast und zog ihn am Fuß:
»Und was kommt dann? Werde ich sterben?«
Der Gast suchte