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Reiten nur mit Sitzhilfe: Die wissenschaftliche Grundlage einer fast vergessenen Kunst
Reiten nur mit Sitzhilfe: Die wissenschaftliche Grundlage einer fast vergessenen Kunst
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eBook481 Seiten4 Stunden

Reiten nur mit Sitzhilfe: Die wissenschaftliche Grundlage einer fast vergessenen Kunst

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Über dieses E-Book

In der heutigen Reiterei spielen Zügel- und Schenkelhilfen die zentrale Rolle. Wir sehen sie als unabdingbare Notwendigkeit, auch wenn wir mehr oder weniger deutlich wahrnehmen, dass diese Reitweise das Pferd behindert und seiner Gesundheit schadet.

Dieses Buch stellt das zentrale Dogma der heutigen Reitlehren in Frage und erklärt, wie Reiten nur mit Sitzhilfen funktioniert. Es führt ein breites Spektrum wissenschaftlicher Daten zusammen und beschreibt ein völlig neues dynamisches Bild der Pferdebewegung. Dadurch wird ein Weg eröffnet, als Reiter die Bewegungssymbiose mit dem Pferd bewusst zu erlernen und so Zugang zu einer direkten Körperkommunikation zu finden.

Die Autorin stellt dafür die Bewegungsabläufe des Pferdes ebenso detailliert dar wie die neuronalen Abläufe von Bewegungen im menschlichen Gehirn. Reiten nur am Sitz bedeutet für sie differenzierte Kommunikation mit Körperteilen, die wir normalerweise nur unbewusst steuern. Über Jahrtausende haben Reitmeister damit gerungen, diesen Vorgang in Worte zu fassen. Keiner der historischen Reitmeister liefert eine vollständige Beschreibung, lediglich Bruchstücke. Mit dem Wissen aus der modernen Naturwissenschaft um die Biomechanik der Pferdebewegung ist es möglich, durch Schulung der eigenen Körperwahrnehmung die Fähigkeit zur differenzierten Kommunikation mit dem Reitersitz zu entwickeln. Unser bewusster Verstand muss sich dabei auf das konzentrieren, was er am besten kann – auf das Verstehen von Zusammenhängen.

Dieses Buch ist keine Reitlehre im landläufigen Sinn, sondern der Schlüssel und die Grundlage zum Verstehen von Reitlehren. Es erklärt die Neurobiologie, die entscheidende Vorgänge beim Reiten in unserem Unterbewusstsein verbirgt, so dass auch die besten Reitmeister nur Fragmente der Bewegungssymbiose zwischen Reiter und Pferd beschreiben. Dieses Buch setzt die Fragmente zu einem Gesamtbild zusammen!
SpracheDeutsch
HerausgeberCadmos Verlag
Erscheinungsdatum21. Sept. 2020
ISBN9783840464799
Reiten nur mit Sitzhilfe: Die wissenschaftliche Grundlage einer fast vergessenen Kunst

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    Buchvorschau

    Reiten nur mit Sitzhilfe - Brigitte Kaluza

    Kaluza)

    1

    NEURONALE STEUERUNG

    Warum ist es sinnvoll, sich mit Neurobiologie und Gehirnfunktion zu befassen, wenn man eigentlich „nur" besser reiten will? Sehen wir uns noch einmal die Problematik an, die seit Jahrhunderten auf dem Gebiet des Reitens und der Reitlehren besteht: Kinder, die noch zu klein sind, um Erklärungen zu verstehen und bewusst zu verarbeiten, lernen Reiten automatisch, einfach durch Erfühlen auf einem kooperativen Pferd. Reitlehrer, die erklären sollen, wie Reiten funktioniert, sprechen von Schenkel- und Zügelhilfen, aber wenn sich Erwachsene beim Reitenlernen an diese Instruktionen halten, ist das Ergebnis unvollkommen. Der Weg über das bewusste Verarbeiten einer Reitinstruktion führt paradoxerweise zu einem schlechteren Resultat. Der Grund ist, dass unsere Handlungen, unsere Bewegungen und unsere Absichten nicht nur von unserem Bewusstsein gesteuert werden. Unsere Steuerzentrale ist ein Team mit mehreren Mitgliedern, von denen nur eines unser Bewusstsein (mit Sitz in der Großhirnrinde) ist. Reitlehren sprechen unseren bewussten Verstand an, aber leider funktioniert Reiten nicht primär mit denjenigen Körperteilen, die wir bewusst steuern. Daher geschieht das, was wir auch im Alltagsleben bei Teamarbeit beobachten – es kommt nichts Vernünftiges dabei heraus, wenn das Teammitglied, das am wenigsten von der Aufgabe versteht, ständig das große Wort führt.

    Sehen wir uns daher zunächst einmal das Team genauer an, das unsere Handlungen steuert. Wir glauben zwar, dass wir unsere Körperbewegungen bewusst steuern können, aber in Wirklichkeit bedient unser Bewusstsein unseren Körper in etwa so, wie wir unseren Laptop oder unser Smartphone bedienen – über eine Benutzeroberfläche, hinter der viele miteinander verschaltete Prozessoren und Programme arbeiten.

    Das Orchester – Gangmuster-Schaltzentren erzeugen die Körperbewegung

    Die Fortbewegung aller Wirbeltiere wird im Rückenmark von den Gangmuster-Schaltzentren erzeugt. Sie beherrschen die von ihnen gesteuerten Muskelgruppen wie Musiker eines Orchesters ihre Instrumente.

    Die eigentliche Bewegungssteuerung, die uns (oder einem Pferd) das Laufen ermöglicht, findet in Gruppen von Nervenzellen statt, die entlang unseres Rückenmarks und im Hirnstamm angeordnet sind. Menschen und Pferde sind Wirbeltiere. Die gemeinsamen Vorfahren aller Wirbeltiere lebten vor etwa 530 Millionen Jahren und sahen ungefähr so aus wie die heute noch existierenden Lampreten: fischähnliche Wesen, die sich im Wasser durch Schlängeln fortbewegen (Abb. unten).

    Versteinerung von Myllokunmingia: Das erste Wirbeltier lebte vor ca. 530 Millionen Jahren.

    Die heute noch lebenden Lampreten (hier ein Neunauge) ähneln im Körperbau dem Urwirbeltier.

    Das Prinzip der neuronalen Bewegungssteuerung stammt vom Ur-Wirbeltier. (Fotos: links: commons.Wikimedia/Degan Shu, Northwest University, Xi’an, China, rechts: shutterstock.com/Andrei Nekrassov)

    Das Grundmuster der Fortbewegung aller Wirbeltiere basiert immer noch auf Schlängelbewegungen, auch wenn wir uns nicht mehr im Wasser fortbewegen oder mit dem Bauch auf dem Boden wie eine Schlange kriechen, sondern inzwischen Beine haben. Vierbeinige Wirbeltiere (dazu zählen auch Menschen, auch wenn wir normalerweise nur noch auf den Hinterbeinen laufen) haben zwei Gruppen von Nervenzellen im Rückenmark, die die Fortbewegung steuern, eine im Bereich der Lendenwirbel (für die Hinterbeine) und eine im Halsbereich (für die Vorderbeine oder Arme). Diese Gruppen von Nervenzellen erzeugen das zentrale Bewegungsmuster und heißen daher in der wissenschaftlichen Literatur „Central Pattern Generator oder abgekürzt CPG, da Englisch die internationale Sprache der modernen Naturwissenschaft ist. Auf Deutsch könnte man sie als „Gangmuster-Schaltzentren bezeichnen (Abb. Seite 16).

    Wir kennen heute die genaue Verschaltung einzelner Nervenzellen in diesen Schaltzentren und wissen daher, wie das Prinzip der Fortbewegung funktioniert (Goulding, 2009). Die Nervenzellen in diesen Schaltzentren steuern Muskelgruppen, die bei der Laufbewegung des betreffenden Wirbeltieres üblicherweise zusammen und koordiniert betätigt werden. Sie stimmen sich dabei aber auch untereinander ab wie die Musiker eines Orchesters, die nicht nur ihr jeweiliges Instrument (die Muskelgruppen) virtuos beherrschen, sondern auch gemeinsam rhythmisch musizieren.

    Bei einem im Wasser schlängelnden Fisch funkt beispielsweise das Schaltzentrum rechts hinten: „Achtung, ich kontrahiere gerade die Muskeln auf meiner Seite, Schaltzentrum hinten links bitte Muskeln entspannen lassen, damit wir die Schwanzflosse nach rechts schwenken können. Bei Wirbeltieren, die mithilfe von Beinen auf dem Land laufen, ist das Hinterbein-Schaltzentrum dominant. Bei einem trabenden Pferd würden dort für einen Schritt gleichzeitig drei „Funksprüche abgesetzt, wie in der Abbildung auf Seite 16 schematisch dargestellt.

    Die Steuerung der Fortbewegung im Nervensystem (Illustrationen: links: shutterstock.com/decade3d – anatomy online, rechts: shutterstock.com/CLIPAREA l Custom media)

    Diese Funksprüche bewirken, dass das Pferd rechtes Hinterbein und linkes Vorderbein gleichzeitig hebt, die Lendenwirbelsäule nach rechts biegt (wodurch das Becken und damit das rechte Hinterbein nach vorne schwingen) und sich mit dem linken Hinterbein nach vorne schiebt. Für den nächsten Schritt geschieht genau dasselbe seitenverkehrt.

    In den Gangmuster-Schaltzentren ist also die Steuerung von Muskelgruppen zusammengefasst, die bei der Fortbewegung gemeinsam betätigt werden. Wichtig ist, dass dabei nicht nur die Beinmuskulatur, sondern auch die zugehörige Rückenmuskulatur integriert ist: Bei allen Wirbeltieren bewirken die von den Schaltzentren erzeugten rhythmischen Bewegungen der Rumpfmuskulatur das eigentliche Gangmuster. Bereits während der Embryonalentwicklung entwickeln sich die neuronalen Kontakte für die Kommunikation zwischen den Schaltzentren, die die Koordination von vorderer und hinterer, bzw. rechter und linker Körperhälfte ermöglichen.

    Die Koordination selbst muss jedoch erlernt werden. Säugetiere lernen ihre arttypischen Gangmuster nach der Geburt durch „Versuch und Irrtum: Der Körperbau gibt die jeweiligen Bewegungsmöglichkeiten vor, aber um diese tatsächlich zu realisieren, muss die Synchronisation der Schaltzentren durch Übung perfektioniert werden. Bei einem Fohlen findet die hauptsächliche Übungsphase wenige Stunden nach der Geburt statt, das Menschenkind hat erst nach mehreren Monaten ausreichend Körperkraft für den aufrechten Gang und durchlebt daher zuvor noch eine Zeit als „Vierbeiner.

    Um den Vergleich noch einmal zu strapazieren – die Musiker (die neuronalen Schaltkreise) sind bei der Geburt bereits vorhanden, aber sie müssen noch lernen, ihre Instrumente (die zugehörigen Muskelgruppen) zu beherrschen und vernünftig miteinander zu musizieren. Bereits bei der Entstehung der Wirbeltiere vor 530 Millionen Jahren stellte sich heraus, dass ein größeres Orchester am besten von einem Dirigenten zu gemeinsamer Musik trainiert wird.

    (Illustration: shutterstock.com/decade3d – anatomy online)

    Der Dirigent – das Kleinhirn

    Der Dirigent des neuronalen Orchesters der Bewegungskoordination ist das Kleinhirn (Cerebellum). Es besteht einerseits aus Nervenzellen, die ein detailliertes inneres Abbild des Körpers erzeugen und andererseits aus einem neuronalen Prozessor, der Bewegungen vorausberechnet und ständig das Ergebnis überprüft.

    Das Kleinhirn ist der Dirigent. Früher dachte man, die Aufgabe des Kleinhirns sei die Herstellung der Körperbalance, da diese völlig von dessen Funktion abhängig ist. Mit den Methoden der modernen Neurobiologie zeigte sich jedoch, dass das Kleinhirn eine viel umfassendere Rolle spielt: Es ist ein Prozessor für überwachtes Lernen (supervised learning). Der Begriff „supervised learning ist eigentlich in der Informationstechnologie für einen Typ des maschinellen Lernens gebräuchlich, bei dem ein Rechner darauf trainiert wird, richtige Assoziationen herzustellen. Was „richtig ist, wird durch einen „Lehrer in Form eines Trainingsdatensatzes definiert. Beim Erbsensortieren muss man dem Prozessor also zunächst als Trainingsdatensatz sowohl eine Handvoll „guter und eine Handvoll „schlechter Erbsen zeigen, sodass er anhand dieser Beispiele lernt, die „guten ins Töpfchen zu sortieren. Ein solcher Prozessor vergleicht das Bild jeder neuen Erbse mit seinem Datensatz für „gute und „schlechte Erbsen und ordnet die neue Erbse dann der entsprechenden Kategorie zu. Gleichzeitig wird seine Datenbank immer größer, sodass er immer besser im Erbsensortieren wird.

    Das Kleinhirn ist exakt so ein Prozessor. Im Kleinhirn befinden sich zum einen extrem zahlreiche Nervenzellen (die sogenannten „granule cells" oder Granularzellen), die in Kontakt stehen mit allen Schaltzentren der Muskelzellen und so im Kleinhirn ein detailreiches Abbild des Körpers und seiner Bewegungszustände erzeugen. Diese innere Körperwahrnehmung im Kleinhirn wird auch als Propriozeption bezeichnet.

    Die Granularzellen sind die zahlreichsten Zellen im Gehirn, um das innere Körperbild der Propriozeption detailreich zu gestalten – ebenso wie eine gute Digitalkamera Bilder mit möglichst vielen Pixeln erzeugt. Daneben gibt es im Kleinhirn die sogenannten „Purkinje"-Zellen (nach ihrem Entdecker), von denen jede mit einer unterschiedlichen kleinen Gruppe von Granularzellen verschaltet ist. Die Purkinje-Zellen sind der eigentliche Prozessor für überwachtes Lernen. Wenn wir als Mensch einen Schritt mit dem rechten Bein nach vorne machen, aktivieren wir über unsere Gangmuster-Schaltzentren unsere Rumpf- und Beinmuskulatur, um das Bein nach vorne zu schwingen, bis es wieder Bodenkontakt hat, worauf dann das Körpergewicht auf dieses Bein verlagert wird. Bevor wir jedoch mit dieser Bewegung überhaupt beginnen, wird im Kleinhirn ein Modell davon berechnet. Nachdem wir die Bewegung vollendet haben, überprüft das Kleinhirn das Resultat. Dies lässt sich nachweisen, da die zugehörigen Purkinje-Zellen sowohl 400 Millisekunden vor als auch 100 Millisekunden nach der Bewegung aktiv werden (Popa, Hewitt, & Ebner, 2014). Bevor wir irgendeine Bewegung ausführen, hat also unser Kleinhirn bereits ein inneres Bild von dieser Bewegung, das anschließend mit der Wirklichkeit abgeglichen wird. Wir können im täglichen Leben das Kleinhirn ganz einfach bei der Arbeit beobachten – wenn wir bei unserem Schritt nach vorne übersehen haben, dass es dabei eine Stufe nach unten geht. Dann ist die 400 Millisekunden zuvor vorausberechnete Hypothese des Kleinhirns nämlich falsch, dass unser rechtes Bein an einer bestimmten Position wieder festen Bodenkontakt finden wird, wir stolpern und müssen uns notfallmäßig neu ausbalancieren.

    Das Kleinhirn ist also ein Prozessor, der lernen kann, indem er Hypothesen überprüft. Das gilt ganz allgemein, nicht nur für die eigene Körperbewegung, sondern für jegliches Lernen (Wagner, Kim, Savall, Schnitzer, & Luo, 2017). Für das Reiten ist es wichtig zu wissen, dass unser Kleinhirn auch mit Bewegungshypothesen arbeiten kann, die über unseren eigenen menschlichen Körper hinausgehen. Auch dies kennen Sie bereits aus dem Alltag: Sie können zusammen mit ihrem Fahrrad die Balance halten, Sie können mit ihrem gewohnten Kraftfahrzeug problemlos eine Engstelle zwischen geparkten Autos und dem Gegenverkehr passieren, Sie können mit einer Handbewegung einen Pfeil auf einem Bildschirm steuern – es gibt unzählige Beispiele dieser Art. Wenn wir unserem Kleinhirn eine passende Hypothese anbieten, wie sich ein Pferd bewegt und wie wir als reitender Mensch von diesem Pferd bewegt werden, so kann es die gemeinsame Bewegung von Mensch und Pferd berechnen.

    Das Kleinhirn bekommt seine Hypothesen aus zwei Quellen. Eine Quelle ist der Erfahrungsschatz aus dem motorischen und sensorischen Feedback des Körpers beim Ausprobieren von Bewegungen, die durch „Versuch und Irrtum" erlernt wurden. So lernen Kinder neue Bewegungen. Das Kleinhirn eines Kindes ist noch ein relativ unbeschriebenes Blatt, was Hypothesen zum perfekten Bewegungsablauf anbelangt.

    Wenn das Kleinkind laufen lernt, arbeiten die Schaltzentren im Rückenmark anfangs „irgendwie" zusammen und das Kleinhirn registriert zunächst nur Erfolge und Misserfolge (autsch!, hingefallen). Die zweite Quelle für die Hypothesen des Kleinhirns ist unsere Großhirnrinde, der Sitz unseres Bewusstseins. Wenn das Kleinhirn unser innerer Dirigent ist, der alle Musiker in unserem Körper zu einer gemeinsamen Handlung dirigieren kann, der jeden Missklang bemerkt und mit jeder Wiederholung das Stück in perfekterer Harmonie ertönen lässt, so ist unsere Großhirnrinde unser innerer Komponist.

    Der Komponist – die Großhirnrinde

    Das Großhirn (Cortex) ist der Sitz des Bewusstseins. Es steuert Bewegung indirekt, indem es „die Ziele setzt" oder die Komposition schreibt, die der Dirigent Kleinhirn mit dem Bewegungsorchester spielt. Außerdem kann es einzelne Körperteile, vor allem Hände und Füße, direkt und bewusst steuern, allerdings nicht die für das Reiten wichtige Rumpfmuskulatur.

    Die Großhirnrinde (Cortex) ist das Organ unseres Bewusstseins. Wir nehmen unseren Körper bewusst wahr und können ihn bewusst steuern, wobei die bewusste Steuerung zwei Ebenen betrifft: Einerseits haben unsere Bewegungen in aller Regel ein bewusstes Ziel („da will ich hin"), andererseits können wir einzelne Körperteile bewusst und sehr geschickt steuern (beispielsweise unsere rechte Hand beim Greifen oder unseren Kehlkopf beim Sprechen). Diese beiden Funktionsebenen der bewussten Bewegungssteuerung haben unterschiedliche Mechanismen.

    Die automatische Zielansteuerung

    Fangen wir mit dem bewussten Ansteuern von Zielen an. Wir sehen ein Ziel (das kalte Buffet beim Stehempfang, ein Sonderangebot im Schlussverkauf …) und steuern darauf los, wobei das Fixieren des Zieles mit den Augen der wesentliche bewusste Vorgang dabei ist – die eigentliche Fortbewegung dorthin bleibt weitgehend unbewusst. Die hierfür verantwortlichen Schaltkreise waren bereits bei den Urahnen aller Wirbeltiere vor 530 Millionen Jahren angelegt (Ocana, et al., 2015): Die heute noch existierenden Lampreten, die dem Bauplan des Ur-Wirbeltieres entsprechen, haben eine „Pallium" genannte Gruppe von Nervenzellen, die das Auge mit den motorischen Schaltzentren verbindet. Durch diese direkte Verbindung kann das Tier eine zielgerichtete Bewegung initiieren, sobald das Auge etwas sieht. Eine Lamprete, die ein attraktives Objekt (z. B. Futter) sieht, wendet den Kopf auf das Objekt zu und richtet ihre Schlängelbewegung neu aus, sodass sie auf das Objekt zuschwimmt. Ein gefährlich wirkendes Objekt löst umgekehrt Abwenden in eine Fluchtbewegung aus. Das Pallium der primitivsten Wirbeltiere dient also der Ausrichtung der Körperbewegung in die beabsichtigte Richtung. Aus dem Pallium hat sich im Laufe der Jahrmillionen die Großhirnrinde (Cortex) der Säugetiere entwickelt. Die grundlegende Funktion der Bewegungsausrichtung ist dabei erhalten geblieben – wir können auf ein Ziel zu oder vor etwas davonlaufen, ohne uns um die Neuausrichtung der Laufbewegung bewusst kümmern zu müssen.

    Unser Bewusstsein hat einen Bewegungsauftrag erteilt, der von Kleinhirn und Rückenmark umgesetzt wird. Dieser Informationstransfer ist jedoch keine Einbahnstraße. Nur wenn bei der Umsetzung keine Schwierigkeiten auftreten, bleibt uns die Laufbewegung selbst unbewusst, aber wenn irgendetwas die gleichmäßige Abfolge unserer Schritte stört, erhalten wir sofort Rückmeldung ins Bewusstsein (stellen Sie sich vor, Sie gehen und treten plötzlich auf eine rutschige Stelle).

    Drücken wir es so aus: Unsere Fortbewegung läuft auf einem fest installierten Programm im Unterbewusstsein. Wir können Änderungsbefehle eingeben und dann die Ausführung im Hintergrund laufen lassen, so lange bis wir eventuell eine Fehlermeldung erhalten. Beim Menschen ist im Kleinhirn das Betriebssystem „Laufen Mensch" installiert, welches die unseren Gangmustern entsprechenden Rumpf- und Beinbewegungen steuert. Sitzen wir auf einem Pferd, wird unser Rumpf durch die Laufbewegung des Pferdes bewegt.

    Sofern wir auf die richtige Art auf dem Pferd sitzen (mehr zu den biomechanischen Voraussetzungen in den nächsten Kapiteln), ähnelt die durch die Pferdebewegung induzierte passive Bewegung unseres Rumpfes so sehr derjenigen unserer eigenen Laufbewegung, dass sie durch das menschliche Kleinhirn interpretiert werden kann. Das Programm „Laufen Pferd (oder eher „Laufen mit Pferd) läuft sozusagen auf dem Betriebssystem des menschlichen Kleinhirns. Dasselbe gilt umgekehrt auch für das Pferd, denn auch Pferde sind Säugetiere mit einem hoch entwickelten Gehirn. Ein Pferd kann die Körperausrichtung seines Reiters spüren, sofern dieser eine geeignete Haltung einnimmt und einen geeigneten Sattel verwendet. Natürlich hat das Pferd eine fünf- bis zehnfach größere Körpermasse, aber dennoch kann es deutlich fühlen, ob sein Reiter die Schlängelbewegung des Pferderumpfes „umarmend" begleitet oder ob der menschliche Körper diese Bewegung bremst, blockiert oder umzuleiten versucht. Das Pferd kann also fühlen, wenn der Reiter ein Ziel mit dem Auge fixiert und seine Körperachse neu danach ausrichtet. Ein kooperatives Pferd wird dem folgen. Stellen Sie sich den Vorgang so vor – wenn Sie ein Kleinkind auf ihren Schultern tragen und so über den Jahrmarkt gehen, werden Sie auch sofort bemerken, dass das Kind zu dem Stand mit den Luftballons will.

    Die meisten Reiter reiten allerdings jahrelang, ohne dass sie jemals diese Kopplung mit der Pferdebewegung gespürt haben. Wenn ein Kind reiten lernt, wird das Programm „Laufen mit Pferd" problemlos installiert, aber Erwachsene werden durch etwas daran gehindert.

    Die bewusste Steuerung einzelner Körperteile

    Die Ursache liegt in der zweiten Aufgabe der Großhirnrinde, der isolierten Steuerung einzelner Körperteile. Die Fähigkeit hierzu ist bei landlebenden Wirbeltieren entstanden, denn es ist von offensichtlichem Vorteil, wenn man seine vier Beine nicht nur zusammen in einem Standard-Gangmuster zur Fortbewegung nutzen, sondern auch mal ein einzelnes Bein gezielt und separat bewegen kann, um etwa einem Loch auszuweichen oder nach etwas Essbarem zu greifen.

    Um diese Funktion zu erfüllen, haben sich im Laufe der Evolution direkte Nervenbahnen von der Großhirnrinde vor allem zu den Extremitäten, zum Kehlkopf und zur Zunge entwickelt. Diese Nervenbahnen laufen nicht über die Gangmuster-Schaltzentren, sondern daran vorbei, denn sie sind dazu geschaffen, dem Bewusstsein einen direkten motorischen (steuernden) und sensorischen (fühlenden) Zugang zu all denjenigen Körperteilen zu verschaffen, die wir häufig bewusst, isoliert und mit großer Geschicklichkeit bewegen oder an denen wir detailreiche Information erfühlen wollen. Die Regionen der Großhirnrinde, von denen diese Nervenbahnen ihren Ausgang nehmen, heißen in ihrer Gesamtheit „Motorcortex. Wir haben im Motorcortex eine bewusste Wahrnehmung unseres Körpers, aber diese ist stark verzerrt. Würde man den menschlichen Körper in denjenigen Proportionen darstellen, in denen seine Teile im Motorcortex repräsentiert sind, kämen zwei recht erheiternde Abbildungen heraus (Penfield & Boldrey, 1937), von denen die eine den „motorischen Homunculus (in den Proportionen der Steuerbarkeit) und die andere den „sensorischen" Homunculus (in den Proportionen der Gefühlswahrnehmung) darstellt (Abb. oben). Völlig analog gilt dies im Übrigen auch für das Pferd – die Darstellungen eines motorischen und sensorischen „Hippunculus" hätten Ähnlichkeit mit Jolly Jumper (dem Pferd des Cartoon-Helden Lucky Luke), also riesige Hufe und ein gigantisches Maul mit gewaltiger Zunge.

    Die Skulptur des sensorischen Homunculus stellt den menschlichen Körper in denjenigen Proportionen dar, mit denen er in der Großhirnrinde wahrgenommen wird.

    (Foto: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Front_of_Sensory_Homunculus.gif#metadata)

    Wir Menschen können demzufolge bewusst und direkt vor allem Mund und Kehlkopf (zum Sprechen und für die selektive Nahrungsaufnahme), die Hände (zum Greifen, Schreiben, Handwerken) und die Füße bedienen, nicht jedoch den Rumpf, denn das „Schlängeln und die Grundmuster der Fortbewegung werden von den Gangmuster-Schaltzentren im Rückenmark kontrolliert und vom Kleinhirn dirigiert – hier steuert das Bewusstsein nur indirekt als „Auftraggeber. Wir haben also eigentlich zwei Systeme zur Steuerung unserer Hände und Füße – die bewusste, direkte Einzelsteuerung über den Motorcortex und die unbewusste, indirekte Steuerung bei koordinierten Laufbewegungen über Kleinhirn und Gangmuster-Schaltzentren. Wenn der Motorcortex einen Befehl zur Einzelsteuerung an eine Hand oder einen Fuß sendet, berechnet das Kleinhirn sofort, wie sich die Körperbalance während der Ausführung mit den übrigen Gliedmaßen halten lässt. Während der bewussten Bewegung einer Extremität wird daher die unbewusste Schlängelbewegung des Rumpfes fixiert. Sie können das leicht beobachten, indem Sie beispielsweise beim Joggen mit der Hand das Telefon bedienen oder den Reißverschluss der Jacke einfädeln – die bewusste Einzelsteuerung ihrer Hände blockiert die Schlängelbewegung des Rumpfes und die Laufbewegung wird dabei sofort steifer und anstrengender.

    Das Beispiel illustriert auch, dass unsere bewusste Bewegungssteuerung im Motorcortex in Wirklichkeit nicht ausreicht, um unsere Bewegungen tatsächlich zu steuern. Es funktioniert nur, wenn die Übrigen im Team mitarbeiten – wenn der Komponist in der Großhirnrinde ein Stück für Solisten und Orchester schreibt, muss das Kleinhirn dieses Stück dirigieren, sodass die Schaltzentren der Muskelgruppen als Musiker im Orchester wissen, wer gerade als Solist und wer die Begleitung spielen soll.

    Diese Art der Verkabelung unserer bewussten Körperwahrnehmung ist auch der Grund dafür, weshalb die Reitliteratur voll von Zügel- und Schenkelhilfen ist: Die Verfasser dieser Reitliteratur waren selbst meist begnadete Reiter (in deren Kleinhirn das Programm „Laufen mit Pferd installiert war), aber sie hatten naturgemäß kaum bewusste Wahrnehmung von ihren dabei stattfindenden Rumpfbewegungen und von der Art, wie sie durch Neuausrichtung ihrer Körperachse auf die Pferdebewegung Einfluss nahmen. Daher beobachteten und beschrieben sie stattdessen, wo sich ihre Hände und Füße bei den einzelnen Lektionen befanden und wie sich Hände und Füße dabei bewegten, obwohl diese Bewegungen eigentlich unwesentlich sind. So lange ihre Reitschüler jung genug durch Üben auf gut ausgebildeten, kooperativen Pferden ebenfalls bereits das Programm „Laufen mit Pferd installiert hatten, war dies kein Problem. Das Dilemma beginnt dort, wo ein Mensch ohne diese Programminstallation Reiten lernen will, indem er versucht, die Instruktionen bewusst umzusetzen – sein Motorcortex steuert die Bewegung eines Schenkels oder einer Hand für die entsprechende Hilfe, während sein Kleinhirn dabei die Schlängelbewegung des Rumpfes fixiert. Allein die bewusste Konzentration auf unsere Hände oder Beine bewirkt, dass der Motorcortex die Kontrolle übernimmt, denn das Betriebssystem in unserem Kleinhirn ist so programmiert, dass die bewusste Steuerung immer Priorität hat (Artoni, et al., 2017). Ein solcher Reiter kann daher das Pferd nicht mehr fühlen, geschweige denn mit seiner Rumpfbewegung gezielt beeinflussen. Die Befolgung der Instruktionen für Hände und Füße verhindert, dass das Programm „Laufen mit Pferd" jemals in seinem Kleinhirn installiert wird.

    Als Erwachsene sind wir, zumindest in unserem heutigen Kulturkreis, weitestgehend Verstandesmenschen. Wir können nicht mehr mit der Unbefangenheit eines Kleinkindes Reiten lernen, zumal wir als Erwachsene ein geschärftes Risikobewusstsein haben und daher von Anfang an auch die Kontrolle behalten wollen. Unser bewusster Verstand in der Großhirnrinde ist der Komponist, der im wahrsten Sinne des Wortes den Ton angibt, das Teammitglied, welches gerne das große Wort führt. Das Kleinhirn, unser innerer Dirigent, wird versuchen, jegliche Komposition mit dem Orchester einzustudieren. Wenn wir es daher versäumt haben, das Reiten als Kinder zu erlernen, müssen wir mit unserem bewussten Verstand eine Komposition erschaffen, die nicht nur von unserem Kleinhirn in die Bewegung eines reitenden Menschen umgesetzt werden kann, sondern auch vom Kleinhirn unseres Pferdes verstanden werden kann. Auch beim Pferd funktioniert das neuronale Steuerungsteam in völlig analoger Weise wie beim Menschen. Ein isolierter Druck einer Schenkel- oder Zügelhilfe auf einen Punkt des Pferdekörpers läuft als sensorische Meldung in der Großhirnrinde des Pferdes ein, wird dort verstanden (oder auch nicht) und in eine Komposition für den Pferdekörper umgesetzt. Selbst wenn das Pferd gelernt hat, was das Klopfen und Zupfen bedeuten soll – es ist in derselben Situation wie der Jogger, der beim Laufen sein Mobiltelefon bedienen muss: Das Verstehen, Verarbeiten und Umsetzen eines Einzelsteuerbefehles blockiert die rhythmische Schlängelbewegung der Gangmuster-Schaltzentren. Daher wirkt das Reiten mit Schenkel- und Zügelhilfen immer hölzern und grobmotorisch. Eine synchrone Bewegung mit dem Pferd ist nur dann möglich, wenn die beiden Dirigenten direkt über die unterbewusste Propriozeption zusammenarbeiten, wenn also Mensch und Pferd ihre Rumpfbewegungen koppeln.

    Die Synchronisation mit der Pferdebewegung verbessert sich daher, wenn der Reiter lernt, die Dominanz seiner Großhirnrinde bei der Bewegungssteuerung bewusst zu unterdrücken. Eine Methode, dies zu erreichen, hängt mit der Fokussierung des Blickes zusammen: Seit der Zeit der Urwirbeltiere reißt unser Großhirn sofort die Kontrolle an sich, sobald wir etwas mit dem Blick fixieren. Umgekehrt hält es sich zurück, wenn wir unseren Blick nicht auf ein bestimmtes Objekt fokussieren, sondern bewusst unser gesamtes, auch peripheres Blickfeld wahrnehmen. In einigen Reitlehren, beispielsweise dem „Reiten aus der Körpermitte von Sally Swift spielt daher der „weiche Blick eine wichtige Rolle (Swift, 1989).

    Der Intendant – das limbische System

    Das limbische System erzeugt die Empfindungen und ist daher für die Lernfähigkeit entscheidend, da es allem Erlebten einen Sinn verleiht. Schenkel- und Zügelhilfen werden vom Pferd durch Konditionierung erlernt und bewusst über die Großhirnrinde verarbeitet. Daneben existiert die Kommunikation über Körperwahrnehmung, die auch und mitunter vollständig unbewusst erfolgen kann.

    In der Philharmonie der neuronalen Steuerung gibt es den Komponisten (die Großhirnrinde), den Dirigenten (das Kleinhirn) und das Orchester, in dem die Musiker (die Gangmuster-Schaltzentren) virtuos ihre Instrumente (die einzelnen Muskelgruppen) bedienen – und es gibt einen Intendanten, der den Spielplan macht. Dieser Intendant ist das sogenannte limbische System, ein Gehirnteil, der ebenfalls bereits bei den primitivsten Wirbeltieren angelegt ist. Hier (und nicht mit unserem Verstand) entscheiden wir und alle anderen Wirbeltiere, was wir als gut oder schlecht empfinden und welche Ereignisse in unserem Gedächtnis abgespeichert werden. Zwei Strukturen im limbischen System sind hierfür zuständig: Die als Amygdala („Mandelkern nach der anatomischen Form) bezeichnete Gehirnregion ist der Sitz von Emotionen und Motivation, hier wird jedes im Gehirn als „neu oder „wichtig registrierte Ereignis dahingehend bewertet, ob es angenehm oder unangenehm ist. Auffällige Ereignisse werden zusammen mit dieser Bewertung von der Amygdala an eine Gehirnstruktur weitergeleitet, die als Hippocampus bezeichnet wird (der Name leitet sich ab von „Seepferdchen, da diese Gehirnstruktur eine ähnliche Form aufweist). Der Hippocampus hat die Funktion eines Archivars: Hier wird entschieden, welche Inhalte im Gedächtnis gespeichert werden, wo diese Inhalte abgelegt werden und wie sie wieder abgerufen werden können. Das Gedächtnis funktioniert im Prinzip wie ein Puzzle – alle Eindrücke, Bilder,

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