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Vom Künstler des guten Sterbens: Roman
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eBook164 Seiten2 Stunden

Vom Künstler des guten Sterbens: Roman

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Über dieses E-Book

Ich nehme Günter Grass, Katz und Maus: den großen Mahlke und seine Durchknalle auf katholischer Grundierung, kaschubische Orte und die Erde der Insel Reichenau, die Schreibweise und das Kompositionsprinzip -; nehme es und werfe es in die Gegenwart.

"Für Joachim war die Zwingende Tat eine Intervention, dringlich geboten und todernst, mit künstlerischem Anspruch, und wir waren die Artisten in seinem Zirkus für politische Schönheit. Die Circe, die Frau fürs Grobe, der Hausmeister im Hauptquartier hießen die Chargen"
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Faust
Erscheinungsdatum15. Sept. 2020
ISBN9783945400838
Vom Künstler des guten Sterbens: Roman

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    Buchvorschau

    Vom Künstler des guten Sterbens - Bruno Szturm

    Buch

    Und einmal, bevor Ekkehard zum Kartäusernovizen wurde, lagen wir hinter den Gewächshäusern seiner Inselgärtnerei im Gras. Ich hätte rausfahren und zum dritten Mal Beute machen sollen, aber Babo Jo ließ mich nicht und Marlene kuschte. Eigentlich war längst Herbst; nur am See hat das wenig zu heißen, wo die Jahreszeiten sich selbst hinterhertrudeln, weil die Sonne im Frühjahr einen Winter voll Nebel und Selbstmorde wegbrennen muss, was seine Zeit braucht, die dann hintendran gehangen wird. Wir lümmelten uns also auf der Wiese, Babo Jo in einem alten Liegestuhl schlief oder sah so aus, und vor lauter Nixnützigkeit ließen wir für ihn eine Katze aus dem Sack. Marlene tat es, oder Laienbruder Ekki, Jarek oder ich: nahm das Playstation Headset, startete ‚Stalingrad: Die Revanche‘ vom letzten Beutezug, setzte Babo Jo die VR-Brille auf die geschlossenen Augen. Nahm die Česká, schob sie ihm in die rechte Hand, legte seinen Finger sachte an den Abzug.

    So echt war die stumm attackierende Rotarmistin und unser Gekreische dazu, so jäh der Sprung aus seinem Träumchen – jedenfalls brüllte Babo Jo um sich, spürte die Knarre in seiner Hand und ballerte auf das Trugbild los.

    Klack-klack-klack, mit leerem Magazin.

    Über der Reichenau kehrte wieder Ruhe ein. Ich aber, der ich deinen aus der Zeit gefallenen Gewissensgrundsatz, niemals selbst eine Waffe in die Hand zu nehmen und damit einen Menschen zu töten, zum Härtetest vor eine Pixelkulisse schob, muss nun wohl oder übel schreiben.

    Alter!

    Selbst wenn wir fünf erfunden wären, ich müsste es dennoch. Irgendein frommer Schriftkundiger, der uns warum auch immer erfand, zwingt mich, dir die Computerbrille wieder und wieder aufzusetzen und dich durchglühen zu lassen: weil du, Joachim Schwengel, am unentrinnbar Zwingenden in diesem harmlosen Streich – der Lektion, dass sogar du als Kriegsdienstverweigerer gegen Instinkte Reflexe Tiefenschichten nicht ankommst – knabbertest und knabberst.

    Nicht ganz so die üblichen Worte für eine Siebzehnjährige, ich weiß. Roger & over.

    Als Jachym Szwengl zeitig vor Ausrufung des Kriegsrechts im Sommer 1981 das Licht der Welt erblickte, konnte sein Vater, der als Schweißer auf der Leninwerft zu Danzig dicke Pötte zusammennähte, noch nicht ahnen, dass er zwei Jahre später von seinem deutschen Stammbaum Gebrauch machen würde. Mit der Ausreise in die BRD wurde aus Szwengl wieder Schwengel, und aus dem Altertümchen Jachym wurde Joachim.

    Joachim war damals in Konstanz, Allensbach und Radolfzell nicht der angesagteste Vorname, aber auch nicht übler als Norbert, Manfred oder Dorothee. Ich weiß, wovon ich schreibe, denn als Ekkehard war ich mit Berno und Pirmin ein anderes Kaliber. Wir drei bekamen es zu spüren, als es zum Schulwechsel von Grund- auf Weiterführend von der Insel runterging auf die Geschwister-Scholl.

    Als ‚Fenchelfresser‘ hatten sie uns dort zwischen. ‚Feld-, Kraut- und Bohnensalat‘ nannten sie uns, weil Bernos Mutter bei meinen Eltern in der Gärtnerei aushalf und der Vater vom langen Pirmin einen Pritschenwagen besaß, mit dem er Obst, Gemüse und Schnittblumen auf die Wochenmärkte in Petershausen und am Sankt-Stephans-Platz kutschierte und auf klapprigen Tapeziertischen verkaufte. ‚Die grüne Dreifaltigkeit‘, sagte Relilehrer Pastor Hahn und meinte es gar nicht so. ‚Spinatjesus‘, kriegten wir es einzeln ab, bis Hahn vertretungsweise auch Latein übernahm und De bello gallico gegen die Visio Wettini eintauschte, weil er meinte, zwei Spatzen aus der Luft zu klopfen, wenn er uns am Zipfel der Regionalgeschichte packte und den Reichenauer Abt Walahfrid Strabo seine Jenseitsvorstellung ausrollen ließ. Außer Klassenprimus Norbert von Bresen konnte in Latein auf einmal keiner mehr mit uns mithalten, Heimvorteil war Heimvorteil, selbst Berno, als Halbwaise mit einer Glucke von Mutter geschlagen, schwamm dieses Mal nicht nur mit, sondern paukte inbrünstig Vokabeln und Grammatik und zog Einsen.

    Latein bei Hahn brachte uns neue Kosenamen ein: bösartigere als der kuschelige ‚Strebergarten‘, den Marlene bei einer Exkursion auf unsere Insel fallen ließ. ‚Lauch‘ (jawohl: Lauch) war einer davon, versetzt mit Klassenkeile oder einem Spießrutenlauf über den Schulhof durch ein Spalier mit fauligen Porreestangen als Prügel. Dass nicht der komplette Ausschuss auf uns niederregnete, hatten wir Joachim zu verdanken, der schweigend mit uns in die Gasse ging und dafür scheel angesehen, aber verschont wurde. Wir schoben uns an ihn, und er ließ es zu.

    Was wir Insulaner uns da nicht zum ersten Mal fragten: Konnte man mit der Reichenau nirgends punkten, überhaupt nicht und niemals? Waren wir an der Geschwister-Scholl abonniert auf die Gemobbten?

    In der Sieben steckte irgendwer Pirmin Schirrner den Tipp mit dem Fußballplatz hinter dem Strandbad. Einfach rein durch den rostigen Zaun, dem Platzwart einen Wink geben, der früher selber auf unserer Schule gewesen war, abgebrochen zwar, aber unser Elend nachvollziehen konnte. Und dann die Pille aufgepumpt und los. Auf dem Festland hatte es entweder Rasenanlagen mit hohen Zauntoren davor und dicken Schlössern dran, oder Aschenplätze. Zwischen Mittelzell und Niederzell dagegen gab es weiches Gras, kurz getrimmt und ordentlich drainiert, auf dem man sich beim Hinfallen nicht gleich rote Rösti schrammte.

    Noch war zart Frühjahr und trotzdem schon Mai, als wir das erste Mal auf Rasen gegeneinander antraten. Insel gegen Festland. Wir wurden herausgefordert und stampften eine Mannschaft aus dem Boden: wir drei, ergänzt durch Messdiener und Hauptschüler, alte Grundschulkumpels, keiner älter als vierzehn, das war Bedingung.

    Das Festland kam mit allem, was sie hatten. Anderthalb Dutzend Kicker mit weißen Leibchen über dunklen kurzen Hosen und ein Trupp Gören, unsere Mitschülerinnen, die uns anmachen, auslachen, niederbrüllen sollten. Die Sonne schien den diesigen Himmel langsam blank, und uns auf die schweißzerfurchten Stirnen. Rund um den Rasenplatz war eine Absperrung aus halbverrosteten, vor Jahrzehnten das letzte Mal blau lackierten Sechseinhalbzoll-Eisenrohren gezogen, die alle zehn Meter auf weißen Pfosten von gleichem Material und Durchmesser saßen. Dahinter Büsche, ein paar Bäume, ein Streifen Natur, im Norden dahinter das Strandbad, Schilf, wieder Natur, Vogelgezwitscher, Insektengebrumm, von Ferne tuckerte ein Dieselmotor und ein Handrasenmäher säbelte, die Gärtnereien brachten ihre Freilandflächen in Schuss und Bernos Mutter hob bei uns die blinden Dachfenster der Gewächshäuser an, weil das erste Kondenswasser des Jahres die Scheiben herunterlief.

    Auf den Eisenrohren hockten, an ihnen turnten herum, auf ihnen fläzten sich die Mädchen, sahen uns beim Spiel zu und langweilten sich eigentlich, denn die zweimal Elf auf dem Spielfeld hatten keinen Blick für sie übrig, so ernst nahmen wir Insel gegen Festland. Auch die Auswechselspieler der Festländer, die auf der anderen Längsseite des Platzes hinausrotiert waren, hatten nur Augen für den Kick, brüllten rum und rein und warteten sprattelnd darauf, wieder aufs Gras zu rotieren.

    Team Reichenau hatte keine Chance. Sogar Joachim, eigentlich nicht der Schnellste und vor allem ohne Bums in den dünnen Beinchen, schenkte Pirmin einen ein, der mit Pflanzhandschuhen bei uns im Kasten stand. Wir waren zu ministrantenbrav, nur die Hauptschüler wehrten sich, auch weil sie auf dem Platz und von außen Sprüche kriegten.

    Darum soll es aber gar nicht gehen, sondern um Rönz.

    Denn Pascal Rönz wird noch eine Rolle spielen, sogar dreimal. Er und Joachim hatten sich ab jenem Nachmittag schwer auf dem Kieker.

    Rönz gehörte im Mai 1994 zu denen mit Pubertätsvorsprung. Legte nach und nach die Stimme tiefer, wo wir von der Insel alle noch rumkieksten. Hatte einen Flaum unter den Achseln und Haare an den Eiern, wo wir noch glatt wie die Delphine waren, hatte schlechte Manieren und außer in Sport schlechte Noten. Dass er nicht sonderlich ausgeglichen war, kam dazu, störte aber Marlene nicht, die ihre Beine von der Eisenstange baumeln ließ und immer dann nicht mehr gelangweilt vor sich hin stierte, wenn Pascal Rönz die Stutzen hochzog und sich einwechselte. Es hieß, Rönz und sie hätten Doktor gespielt miteinander, denn auch Marlene hatte längst ordentlich Futter vorne unterm Schlüsselbein. Die zwei sollen gefummelt haben: ein Gerücht, das unsereinem wenn, dann wie durch einen feinen Schleier wehtat, weil wir ihr Mundwerk mochten und sie wegen des strohblonden Pferdeschwanzes liebten, aber noch nicht zu begehren wussten.

    Und dann rammt einer unserer Inselhauptschüler Rönz ab. Keilerei, während der Gehackte sich auf dem Platz krümmt. Irgendwann geht es weiter, ohne Rönz, der mit einer Schweinewut im Bauch und einer klaffenden Risswunde im Oberschenkel auf der Mädchenseite den Platz entlanghumpelt. Mit Marlene im Kielwasser, flucht er vor sich hin. Im selben Augenblick riskiert ein Amseljunges ein verhängnisvolles Tschilpen. Am Ende des Rohres, auf Höhe der Eckfahne hockt es in einem Nest, hat Hunger, macht aber den Falschen auf sich aufmerksam mit seinem Gezwitscher.

    Rönz muss sich das Junge aus dem Rohr gegriffen haben, mit derselben kalten Wut in den Augen, mit der er uns beim Porreespalier gemustert hatte. Nehme ich jedenfalls an, denn gesehen habe ich es nicht, sondern war achtzig Meter weiter weg mit der nächsten Notbremse gegen einen durchgebrochenen Festländer beschäftigt.

    Zuerst hörten wir Marlenes Kreischen, selbst ich am anderen Ende des Fußballplatzes bekam es mit. Dann sahen wir, wie sie mit beiden Fäusten auf Rönz eindrosch, der ihr den Rücken zukehrte und dem Amseljungen seelenruhig die winzigen Flügel auffaltete, die weichen Knochen vom Brustbein nach hinten überdehnte und die zwei Flügel erst rechts, dann links vom kleinen Körper weg anriss. Mit der Gleichgültigkeit eines Imbissbudenkunden ging er vor, meinte Norbert von Bresen später, der als erster von uns dazu stieß. Mit der bestecklosen Gelassenheit eines Essers, der ein Brathähnchen ausbeint. Nur dass er dabei raste und knurrte.

    „Rönz, du Wichser!"

    Marlene war die einzige, die was über die Lippen brachte. Nicht Pascal-lass-das, meinte Manfred Stresow später zu mir (ich hatte es immer noch nicht ganz über den Platz geschafft). Sondern Rönz-du-Wichser.

    Die anderen standen stumm um Pascal Rönz herum, trauten sich nicht einzugreifen oder griffen nicht ein. Das kleine Federknäuel gellte sich die Seele aus dem Leib. Sein Peiniger war im Tunnel und kriegte nicht mit, wie wir ihn umzingelten und doch nichts taten. Die Flügel ganz abzureißen, nur das ging ihm durch den Kopf.

    Wieder war es Marlene, die den Bann brach. Ihre Schelle hatte es in sich, die Rönz zwar nicht zur Besinnung brachte, aber auf die Bretter schickte, die winzige Amsel in der Hand. Wir näherten uns, zogen den Kreis kleiner, sehr vorsichtig, obwohl er nach dem Foul und der Backpfeife komplett außer Gefecht war. Es dauerte, bis ein halbes Dutzend Quartaner auf seinen ausgetreckten Armen hockten, auf seinem heilen und dem wunden Bein, und Marlene auf dem Brustkasten. Die Inselmessdiener und Hauptschüler waren später baff, warum so zögerlich.

    An ein Weiterspielen war nicht zu denken, wir brachen die Partie ab.

    Joachim muss sich das Gerangel teilnahmslos angeschaut haben. So würde ich meinen, der ihn damals nicht im Blick hatte, aber sonst begann ihn mit neuen, genauen Augen zu sehen. Dann, meine ich, hat er sich hingehockt und das Vogeljunge aufgelesen, das Rönz aus der Hand gekullert war und nach den Eltern oder Erlösung brüllte, aber mit seinem wilden Piepsen nichts ausrichten konnte gegen das Durcheinandergeschrei der bösen jungen Menschen.

    Nur Marlene, vom Feldherrenhügel auf Rönz‘ Brustkorb herab, wird es aus dem Augenwinkel mitbekommen haben. Jedenfalls reime ich es mir so zusammen. Joachim bat mich, ihm und der kleinen Amsel zu helfen.

    Wir machten uns auf zu mir nach Hause, wo er mit Streichhölzern und abgeknickten Wattestäbchen versuchte, die gebrochenen Flügel zu schienen, das Junge zu füttern und zu tränken. Er fragte nach einer Schmerztablette, bröselte sie klein, löste sie in Wasser auf, zog die Lösung auf eine Spritze aus meinem Spielzeug-Arztkoffer und träufelte sie in den kleinen Schnabel. Er baute ein Nest aus Holzspänen und Watte, ich hatte eine Rotlichtlampe aufzutreiben, wir stellten das Nest auf die Fensterbank in meinem Zimmer. Er saß davor, wortlos, und ich setzte mich wortlos daneben. Dann schloss das Tier die Lider. Das Pulsen in der kleinen Brust wurde kräftiger, schien mir, wenn Joachim nachfütterte und die Spitze der Spritze vorsichtig in den Schnabel schob. Ein Fehlschluss. Es war die Anstrengung, die es das Tier kostete, den Kopf zu recken und zu schlucken. Sein müdes Herz pumpte aus Verzweiflung und, vielleicht, dem kleinen letzten Willen, in Joachim und mir Verbündete zu sehen im Kampf um sein Leben.

    Bis um halb zwei nachts hat es durchgehalten, Joachim auch, während ich irgendwann eingeschlafen bin. Als ich aufwachte, hatte Joachim es im Karottenfeld hinter dem Kühlcontainer begraben.

    Aber was sind die richtigen Worte für eine Siebzehnjährige, die am Boden angefüttert worden war und ein

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