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Tödliche Fracht
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eBook346 Seiten4 Stunden

Tödliche Fracht

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Über dieses E-Book

Ein Wiener Szeneanwalt verunglückt bei einer Wanderung in den Bergen tödlich. Die Antiquitätenhändlerin Sybilla Behrens glaubt nicht an die offizielle Unfallversion und wendet sich Hilfe suchend an einen Journalisten, um das Umfeld des Toten näher zu beleuchten. Dabei stoßen die beiden auf ein Geflecht von Ungereimtheiten - aus Jägern werden Gejagte ....
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum21. Juli 2020
ISBN9783751973946
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    Buchvorschau

    Tödliche Fracht - Sonja Hauer

    Mantel.

    1

    Seit ungefähr drei Stunden saß er vor seinem Computer und versuchte, dem Artikel den letzten Schliff zu verpassen. Doch heute wollte ihm einfach nichts gelingen. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss für einen Moment die Augen.

    „Entschuldigen Sie bitte, Herr Bonelli, seine Sekretärin steckte ihren Kopf zur Tür herein, „aber ich muss Sie kurz stören.

    Er öffnete die Augen und setzte ein müdes Lächeln auf, „aber Margot, Sie stören mich doch nie. Was gibt es denn?"

    „Man hat mich gerade vom Empfang angerufen. Eine Dame steht unten in der Halle und möchte Sie sprechen."

    „Eine Dame? fragte er verblüfft, „habe ich heute noch einen Termin, von dem ich nichts weiß?

    Sie schüttelte verneinend den Kopf, „in meinem Kalender ist jedenfalls nichts eingetragen, Herr Bonelli."

    „Komisch. Hat sie gesagt, was sie will?"

    „Nein, sie hat nur gesagt, dass sie Sie persönlich sprechen möchte." Margot sah ihn abwartend an.

    Er seufzte leise, „also gut, dann werden wir uns mal anhören, was die Dame auf dem Herzen hat. Sagen Sie bitte dem Portier, dass er sie raufschicken soll." Georg Bonelli sah sich in seinem Büro um und begann hastig ein paar herumliegende Blätter einzusammeln. Er nahm den Aschenbecher und leerte ihn rasch aus. Dann stand er auf und öffnete das Fenster, damit noch etwas frische Luft hereinströmen konnte, bevor die Dame sein Zimmer betrat. Tief atmete er die warme Luft ein und warf einen Blick auf das Panorama, das sich ihm bot. In der Ferne die Dächer der Innenstadt und unter ihm die Schnellstraße, die sich in mehreren Spuren vom einen Ende Wiens bis zum anderen zog.

    Um diese Zeit war der Verkehr einigermaßen flüssig, doch am Morgen war der Stau schon zur Routine geworden. Ein Umstand, mit dem die meisten Wiener bereits zu leben gelernt hatten.

    Inzwischen war es über drei Monate her, dass er hierher gezogen war, doch dieser Ausblick faszinierte ihn jeden Tag aufs Neue.

    „Sie haben eine tolle Aussicht", drang eine rauchige Stimme an sein Ohr. Er wandte sich schnell um und sah eine große rothaarige Frau an der Türschwelle stehen.

    „Ich habe geklopft. Sie haben mich aber offensichtlich nicht gehört." Jetzt machte sie ein paar Schritte auf ihn zu und streckte ihre Hand aus. Georg ergriff sie automatisch.

    „Sie müssen entschuldigen, aber ich bin jetzt nicht sicher, ob wir uns kennen. Oder sind wir uns schon irgendwo begegnet?"

    „Nein, Sie kennen mich nicht. Mein Name ist Sybilla Behrens. Ich habe vor ein paar Tagen einen Artikel von Ihnen gelesen und war davon sehr beeindruckt. Georg lächelte, „vielen Dank, so etwas hört man gern. Möchten Sie einen Kaffee?

    „Gerne."

    Er hob den Hörer ab und wählte Margots Nummer.

    „Ja bitte?" fragte diese freundlich.

    „Seien Sie doch so nett und bringen Sie uns bitte zwei Tassen Kaffee."

    „Kommt sofort", tönte es aus dem Hörer.

    Er legte wieder auf und musterte Sybilla Behrens genauer. Sie war schlank und sehr elegant gekleidet. Wie bei vielen rothaarigen Frauen waren ihre Augen grün und ihre Haut hell wie Porzellan. Er schätzte sie auf Anfang bis Mitte dreißig.

    Sie griff gerade in ihre Umhängetasche und förderte ein goldenes Zigarettenetui zutage. Sie öffnete es und nahm eine langstielige weiße Zigarette heraus. „Ich darf doch?" fragte sie höflich.

    „Aber natürlich. Ich rauche fast den ganzen Tag." Er nahm sein Feuerzeug vom Schreibtisch und bot ihr Feuer an. Sie beugte sich über seine Hand und zog langsam an der Zigarette an.

    Georg beobachtete sie fasziniert. Noch nie zuvor war ihm ein Mensch begegnet, bei dem diese alltägliche Handlung so einzigartig gewirkt hätte. So, als wäre jede einzelne Bewegung von ihr genau einstudiert.

    Langsam ließ er sich wieder in seinen Sessel sinken. „Nun gut, Frau Behrens, was kann ich für Sie tun? Denn ich darf davon ausgehen, dass Sie mich nicht deswegen aufgesucht haben, um mir Komplimente über meine journalistischen Fähigkeiten zu machen."

    Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, dann war sie sofort wieder ernst. „Sie haben Recht. Ich bin gekommen, weil ich Ihre Hilfe brauche."

    „Meine Hilfe? fragte er überrascht. „Ich fühle mich geschmeichelt, aber wobei könnte ich Ihnen schon helfen?

    „Das will ich Ihnen erklären."

    Die Türe ging auf und Margot trug ein Tablett mit zwei Tassen Kaffee herein. „Für Sie habe ich ihn wie immer mit Milch und Zucker gemacht, aber ich wusste nicht, wie ihn die Dame möchte." Sie sah Sybilla Behrens fragend an.

    „Danke, ich trinke ihn auch mit Milch und Zucker."

    Margot stellte die Tassen ab und wandte sich wieder zum Gehen. Nicht jedoch ohne vorher einen neugierigen Blick auf die Besucherin zu werfen.

    „Sie sind noch nicht lange in Wien, nicht wahr?" Es klang nicht wie eine Frage, vielmehr wie eine Feststellung.

    Georg nickte, „nicht ganz vier Monate. Ich wurde zwar hier geboren, habe aber seit meinem vierten Lebensjahr in Rom gelebt."

    „Sie sind Italiener?"

    „Halber. Meine Mutter ist Österreicherin, mein Vater stammt aus Rom. Er sah sie lächelnd an, „aber das kann Sie doch nicht wirklich interessieren, oder? Wollen Sie mir jetzt nicht endlich sagen, warum Sie hier sind?

    Sie nickte. „Haben Sie vielleicht noch die Ausgabe vom letzten Samstag im Kopf?"

    „Nicht mehr alles, warum?" fragte er.

    „Können Sie sich an den Bericht über den Tod von Doktor Wilhelm Karner erinnern?"

    „Ja, natürlich. Dieser Doktor Karner war ein bekannter Rechtsanwalt. Er ist beim Wandern verunglückt. Wirklich tragisch. Georg sah sein Gegenüber bedauernd an, „aber ich muss Sie leider enttäuschen. Dieser Artikel ist nicht von mir. Den hat der Chef persönlich geschrieben. Soviel ich weiß, war Doktor Karner sogar ein Freund von ihm.

    Sybilla Behrens schüttelte ungeduldig den Kopf. „Das ist mir bekannt."

    „Dann verstehe ich nicht ganz, was Sie zu mir führt!?"

    „Sie sind meiner Meinung nach ein ehrgeiziger Journalist, und wie ich Ihrem letzten Bericht entnehmen konnte, scheuen Sie sich nicht, schmutzige Tatsachen ans Tageslicht zu bringen."

    Georg fühlte sich wider Willen geschmeichelt. „Da mögen Sie schon Recht haben. Grundsätzlich liebe ich es, im Dreck und den tiefsten Abgründen anderer Leute zu wühlen, aber ich verstehe immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen?"

    „Worauf ich hinauswill, ist die Tatsache, dass Wilhelm Karner keinen Unfall hatte, sondern ermordet wurde."

    Georg starrte die Frau einen Moment lang sprachlos an. „Wie kommen Sie denn dazu, solche Behauptungen aufzustellen? fragte er, nachdem er sich wieder gefasst hatte, „Wilhelm Karner ist in eine Schlucht gestürzt.

    „Natürlich ist er in eine Schlucht gestürzt, aber nicht von alleine. Jemand hat ihn gestürzt."

    „Woher wollen Sie das wissen?"

    „Weil er gar nicht vorgehabt hatte, eine Wanderung zu unternehmen. Sybilla Behrens stand auf und ging zum Fenster. Scheinbar ganz in Gedanken starrte sie hinaus. Doch dann drehte sie sich wieder um und sah ihm fest in die Augen, „er hatte nicht vor, sich lange in den Bergen aufzuhalten, geschweige denn, Reinhold Messner Konkurrenz zu machen. Er hatte ganz andere Pläne.

    Georg räusperte sich. „Wenn Sie so gut über seine Pläne Bescheid wissen, darf ich Sie vielleicht fragen, in welcher Beziehung Sie zu ihm gestanden sind?"

    „Ich hatte mit ihm ein Verhältnis", sagte sie schlicht.

    So etwas hatte er sich schon gedacht. „Gut, Sie beide hatten ein Verhältnis, und weiter?"

    „Wilhelm und ich wollten ein paar ungestörte Tage miteinander verbringen. Also hat er seiner Familie erklärt, dass er eine Woche in seiner Berghütte in der Nähe von Bad Ischl verbringen würde. Sie drehte sich wieder zum Fenster. „Sie wissen, wo Bad Ischl liegt?

    Er nickte. „Im allseits bekannten Salzkammergut. Hatte dort nicht der berühmte Kaiser Franz Josef eine Sommerresidenz?"

    „Genau. Karners Hütte liegt zwar etwas höher und ist sehr abgeschieden. Sie verfügt nicht einmal über einen Telefonanschluss. Also haben wir vereinbart, dass er seinen Wagen dort abstellen und ich ihn dann mit meinem Wagen abholen würde. Dann wollten wir gemeinsam mit meinem Wagen zum Salzburger Flughafen fahren."

    „Wohin wollten Sie fliegen?"

    „Nach Zürich."

    Georg fuhr sich nachdenklich durch die Haare, „bitte verstehen Sie mich jetzt um Gottes willen nicht falsch. Das klingt ja alles schön und gut. Nur für mich ist das im Moment nur eine Geschichte, die, sage ich einmal ganz brutal, jeder behaupten könnte."

    „Tatsächlich?" Sie ging zu ihrer Tasche und zog einen Umschlag heraus. Diesen legte sie vor ihn hin. Er nahm ihn und öffnete ihn rasch. Er enthielt zwei Flugtickets erster Klasse nach Zürich. Ausgestellt auf Wilhelm Karner und Sybilla Behrens für den 3. Juli. Den Tag, an dem Wilhelm Karner abgestürzt war. Georg gab ihr den Umschlag zurück.

    Langsam begann ihn die Sache doch zu interessieren. „Sie sind, wie vereinbart, zu der besagten Berghütte gefahren?"

    Sybilla Behrens nickte. „Ja, sein Wagen stand auch vor der Tür. Also stieg ich aus und ging zur Hütte, diese war jedoch abgeschlossen und von Wilhelm weit und breit keine Spur. Das ist mir komisch vorgekommen. Ich habe dann noch die nähere Umgebung abgesucht und bin nach ungefähr einer halben Stunde wieder weggefahren. Ich war ziemlich sauer, weil ich annehmen musste, dass er mich versetzt hätte."

    Georg sah sie erstaunt an. „Das ist alles? Sie haben weder ihn noch irgendeine andere Person gesehen?"

    „Nein, aber ich bin ganz sicher, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. In dem Artikel stand, dass ihn ein paar Wanderer in einer kleinen Schlucht entdeckt hätten. Diese Schlucht muss über einen Kilometer von der Hütte entfernt liegen."

    „Na, und? meinte er achselzuckend, „was ist denn daran so ungewöhnlich? Vielleicht wollte er bis zu Ihrem Eintreffen einen Spaziergang machen.

    Sie schüttelte entschieden den Kopf, „Nein, das ist ganz unmöglich. Wilhelm hätte niemals freiwillig einen Spaziergang in den Bergen gemacht. Er war nicht schwindelfrei und konnte die Berge nicht leiden."

    „Und da kauft er sich eine Hütte mitten in den Bergen? Das ist ja geradezu pervers."

    „Er hat sie nicht gekauft, sondern letztes Jahr von einer Tante geerbt. Er wollte die Hütte ohnehin im nächsten Jahr verkaufen, aber das wusste noch keiner. Dass er Höhenangst hatte, übrigens auch nicht. Das wusste nur ich."

    Georg seufzte, „Frau Behrens ...."

    „Bitte nennen Sie mich Sybilla!" fiel sie ihm ins Wort.

    „Also gut, Sybilla. Ich weiß nicht recht, was ich von der ganzen Sache halten soll. Sie kennen mich überhaupt nicht, kommen in mein Büro und wollen, wenn ich Sie recht verstanden habe, meine Unterstützung bei der Aufklärung eines angeblichen Mordes. Aber wenn Sie mich ehrlich fragen, dann muss ich Ihnen sagen, dass mich Ihre Geschichte absolut nicht überzeugt." Er machte eine bedeutungsvolle Pause.

    „Wenn Sie allerdings von Ihrer Vermutung so überzeugt sind, warum wenden Sie sich nicht an die Polizei?"

    Ihr Gesicht hatte einen verächtlichen Ausdruck angenommen. „Ich habe keine stichhaltigen Beweise. Und solange keine Verdachtsmomente vorliegen, wird die Polizei keinen Finger rühren. Sie zündete sich eine weitere Zigarette an. Er sah sie lange an. „Was machen Sie eigentlich beruflich?

    „Ich habe ein kleines Antiquitätengeschäft in der Innenstadt. Sie beugte sich leicht nach vorne. „Gibt es noch etwas, was Sie wissen wollen? fragte sie mit leichtem Spott in der Stimme.

    Georg studierte ihr Gesicht, als würde er sich von dessen Ausdruck eine Antwort erhoffen. Wenn Wilhelm Karner tatsächlich ihr Geliebter gewesen war, dann musste sie doch traurig oder zumindest verzweifelt sein. Schließlich war er erst einige Tage tot. Doch ihr Gesicht zeigte keinerlei Anzeichen von Trauer. Entweder war sie ein Mensch, der seine Gefühle gut verbergen konnte, oder sie war eine dieser Frauen, die sich, ohne gefühlsmäßig engagiert zu sein, an einen einflussreichen Mann hängen, um sich dadurch irgendeinen Vorteil zu verschaffen. In den Kreisen, in denen seine Eltern verkehrten, hatte er genügend solcher Frauen kennen gelernt, aber irgendwie passte Sybilla Behrens überhaupt nicht in dieses Bild. Aber er wollte es wissen. „Haben Sie ihn eigentlich geliebt?" fragte er sie herausfordernd.

    Sie fuhr zurück, als hätte sie eine Schlange gebissen, und ihre Augen blitzten wild. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, sagte sie und lehnte sich wieder zurück. Sie bemühte sich offensichtlich, ihre innere Anspannung zu verbergen, doch Georg durchschaute es sofort. Er stand auf und ging um den Schreibtisch herum. Sein Gesicht war jetzt nur mehr wenige Zentimeter von ihrem entfernt. „Das war doch nur eine ganz normale Frage. Mich interessiert eben, ob Sie etwas für ihn empfunden haben. Wenn Sie mich fragen, sehen Sie gar nicht aus wie ein trauernde Witwe.

    Das war ihr scheinbar zuviel, denn sie stand auf und griff nach ihrer Tasche. „Sie sind unverschämt, sagte sie ruhig und sah ihn geringschätzig an. „Wie ich sehe, verschwende ich hier nur meine Zeit. Guten Tag! Sie öffnete die Türe und ging hinaus. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie sie laut zuschlagen würde, doch nichts dergleichen geschah.

    Ein paar Sekunden lang starrte er auf die geschlossene Tür und überlegte, ob er ihr nachgehen und um Verzeihung bitten sollte, doch dann ging er langsam zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich nieder. Der Bericht ging noch heute Abend in Druck. Wenn er ihn noch durchkorrigieren wollte, musste er sich beeilen.

    Er versuchte, sich wieder auf den Artikel zu konzentrieren, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Immer wieder tauchte das Gesicht von Sybilla Behrens vor seinem geistigen Auge auf. Wie sie vor ihm saß und so nachdrücklich behauptete, dass Wilhelm Karner nicht eines natürlichen Todes gestorben sei. Vielleicht hätte er anders reagieren sollen.

    Der Artikel wurde gerade noch rechtzeitig fertig. Er bat Margot, ihn abzuliefern, und beschloss, nach Hause zu fahren und sich einen gemütlichen Abend zu machen. Doch auf dem Weg zum Parkplatz fiel ihm ein, dass er seit einigen Tagen nicht mehr zum Einkaufen gekommen war. Also würde er im Kühlschrank nichts als ein paar vertrocknete Wurstscheiben vorfinden. Einen Augenblick lang dachte er daran, sich vom Pizzazustelldienst etwas bringen zu lassen, doch eigentlich war er heute nicht in der Stimmung, in seiner Wohnung Pizza aus einem Pappkarton zu schlemmen. Und schon gar nicht alleine.

    Seufzend stieg er in seinen alten Volkswagen und ließ den Motor an. Während er den Wagen vom Parkplatzgelände hinausmanövrierte, kurbelte er das Fenster hinunter und ließ die warme Abendluft herein. Eigentlich war es ein Verbrechen, an einem so schönen Sommerabend in einer kleinen Wohnung zu hocken und sich über die Abendnachrichten zu ärgern.

    Obwohl er schon seit Jahren als Journalist bei verschiedenen Zeitungen gearbeitet hat, jagten ihm die Berichte über die täglichen Katastrophen und Todesopfer immer noch Schauer über den Rücken.

    Bei diesen Gedanken fielen ihm Sybilla Behrens und der tote Anwalt wieder ein. Und abermals fragte er sich, ob in ihrer Geschichte nicht doch ein Quentchen Wahrheit sein könnte. Denn im Grunde genommen hatte sie einen sehr intelligenten Eindruck auf ihn gemacht, und es schien auch nicht so, als würde sie sich so etwas nur ausdenken.

    Einem plötzlichen Impuls folgend, lenkte er den Wagen nach rechts und blieb am Fahrbahnrand stehen. Dann zog er sein Handy aus der Sakkotasche und wählte die Nummer der Auskunft. Nach einigen Minuten meldete sich eine unfreundliche Dame, die nach seinen Wünschen fragte. Er buchstabierte ihr den Namen 'Sybilla Behrens’’ und hoffte, dass es in Wien nicht mehrere Damen dieses Namens geben würde.

    Dies war nicht der Fall. Es gab wirklich nur eine. Allerdings stellte sich heraus, dass ihr Privatanschluss eine Geheimnummer hatte. Lediglich die Nummer ihres Geschäftes war im Teilnehmerverzeichnis registriert. Er notierte sie und schaute auf seine Armbanduhr. Gleich halb sieben. Da war sie bestimmt nicht mehr da. Womöglich war sie nach dem Gespräch mit ihm gar nicht mehr in das Geschäft zurückgefahren.

    Er versuchte es trotzdem. Nach dem dritten Klingeln wurde der Hörer abgehoben, und eine Stimme fragte „Hallo? Diese Stimme war unverwechselbar. Er räusperte sich. „Frau Behrens?

    „Ja."

    „Hier spricht Georg Bonelli."

    „Ja, und?"

    Es klang nicht gerade ermutigend, aber er ließ sich nicht beirren. „Ich möchte mich für heute Nachmittag entschuldigen und Sie fragen, ob Sie vielleicht Lust hätten, sich noch einmal mit mir zu treffen?"

    Einen Moment lang war es am anderen Ende der Leitung still. „Und wozu soll das noch gut sein?"

    „Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mir Ihre Geschichte gerne noch einmal in Ruhe anhören."

    „Heißt das, Sie haben Ihre Meinung geändert und glauben mir auf einmal?" Georg überlegte. Einerseits wollte er ihr keine falschen Hoffnungen machen, andererseits war er davon überzeugt, dass sie niemals einem weiteren Treffen zustimmen würde, wenn er ihr nicht seine Hilfe in Aussicht stellen würde.

    „Nun, sagen wir mal so. Ich möchte mit Ihnen alle Details durchgehen, und dann werden wir gemeinsam entscheiden, ob wir die Sache weiterverfolgen oder nicht." Er freute sich, dass seine Antwort so diplomatisch ausgefallen war, und wartete gespannt auf ihre Antwort.

    „Also gut. Wann und wo?"

    „Wenn es Ihnen nicht zu kurzfristig ist, dann würde ich heute Abend vorschlagen."

    „Sie meinen, jetzt gleich?"

    „Ja, warum nicht? Oder haben Sie diesen Abend schon etwas vor?"

    „Nein, wie sollte ich? Wenn alles nach Plan verlaufen wäre, würde ich jetzt gerade am Zürcher See spazieren gehen. Sie lachte freudlos auf. „Gut, dann treffen wir uns gleich. Sie nannte ihm den Namen eines Heurigen in Grinzing, den er zufällig kannte, und legte auf.

    Als er eine halbe Stunde später den Gastgarten betrat, sah er sie bereits an einem der Tische sitzen. Sie musste hergeflogen sein, denn sie hatte offensichtlich auch noch die Zeit gefunden, sich umzuziehen. Aber in dem schwarzen Hosenanzug wirkte sie für seinen Geschmack schon fast zu dünn.

    Sie studierte die Weinkarte und hatte ihn noch gar nicht bemerkt. Erst als er an ihren Tisch trat, blickte sie auf.

    „Guten Abend", sagte er freundlich und lächelte sie an, doch sie erwiderte sein Lächeln nicht.

    „Hallo, ich hoffe, Sie haben das Lokal leicht gefunden. Mir ist erst im Nachhinein eingefallen, dass Sie ja noch nicht lange in Wien sind."

    Georg lachte leise, „nein, nein, es war überhaupt kein Problem für mich, es zu finden. Ein wenig kenne ich mich in Wien schon aus. Er setzte sich ihr gegenüber nieder. „Haben Sie schon bestellt?

    Sie schüttelte verneinend den Kopf.

    „Was möchten Sie?"

    „Ein Achtel Rotwein, bitte."

    „Und zu essen?"

    „Nichts, danke."

    Georg winkte dem Kellner und bestellte zwei Gläser Rotwein. Dann wandte er sich wieder Sybilla zu. Er wusste nicht recht, wie er beginnen sollte, ohne sie gleich wieder zu verärgern. Doch sie kam ihm zuvor. „Aufgrund Ihres Anrufes gehe ich davon aus, dass Sie nun bereit sind, sich alles anzuhören."

    Er nickte. „Ich wäre Ihnen allerdings dankbar, wenn Sie mir alles so objektiv wie möglich erzählen würden, ohne Ihre bereits vorgefasste Meinung einfließen zu lassen."

    „Ich werde es versuchen. Sie wartete, bis der Kellner die Gläser abgestellt hatte, und zündete sich eine Zigarette an. „Wie Sie bereits wissen, habe ich ein kleines Antiquitätengeschäft in der Innenstadt. Vor genau drei Jahren ist Wilhelm Karner in mein Geschäft gekommen, um sich nur ein wenig umzusehen. Er erkärte mir, er werde in ein paar Tagen vierundvierzig und wolle sich zur Abwechslung einmal selbst beschenken. Er war mir von Anfang an sympathisch und kannte sich sehr gut mit Antiquitäten aus. Vor allem mit Jugendstilmöbeln. Also haben wir uns lange unterhalten. Am nächsten Tag kam er wieder. Mit einem Strauß gelber Rosen. Er lud mich zum Essen ein, und ich sagte zu.

    „Sie wussten, dass er verheiratet war?"

    „Von Anfang an. Er hat es mir sofort erzählt, aber ohne das übliche Gesülze, dass seine Frau ihn nicht verstehe und sich seine Ehe sowieso schon in Auflösung befinde. Nein, er sagte, er wäre verheiratet, und das war einfach eine Tatsache, die ich akzeptiert habe."

    „Und wo haben Sie einander immer getroffen?" fragte Georg neugierig und hatte fast schon Angst, die Grenze der Indiskretion überschritten zu haben, doch er bekam eine Antwort.

    „Er ist immer zu mir gekommen. Seine Frau und seine Familie leben in einer Villa in Baden. Es war nichts Ungewöhnliches, dass er ab und zu eine Nacht in seinem Büro verbrachte. Er war ein vielbeschäftigter und ausgezeichneter Anwalt."

    „Das ist mir bekannt. Er hatte eine eigene Kanzlei, nicht wahr?"

    „Er hatte eine Gemeinschaftskanzlei mit zwei anderen Rechtsanwälten. Meines Wissens gingen die Geschäfte mehr als gut. Sie haben sich ausschließlich mit Wirtschaftsagenden beschäftigt. Sybilla machte eine kurze Pause und trank einen Schluck Wein. Dunkle Ringe hatten sich unter ihren Augen breitgemacht, und sie wirkte müde. „Von unserem Verhältnis, hob sie wieder an, „wusste keiner. Wilhelm war sehr darauf bedacht, dass seine Frau nichts davon erfuhr. Doch vor zwei Wochen erklärte er mir aus heiterem Himmel, dass er die Absicht habe, sich von ihr scheiden zu lassen. Darüber war ich sehr verwundert, denn davon war vorher nie die Rede gewesen. Ich habe ihn auch nie dazu gedrängt. Schließlich hatte er drei Kinder, und ich wollte nie zu der Sorte Frau gehören, die eine Familie vorsätzlich zerstört."

    Georg wusste nicht, warum, aber er glaubte ihr aufs Wort. „Hat er Ihnen gesagt, warum er sich scheiden lassen wollte?"

    „Nein."

    „Gut, und was passierte weiter?"

    „An demselben Abend, an dem er mir seine Scheidungsabsichten mitteilte, fragte er mich, ob ich mit ihm ein paar Tage nach Zürich fliegen wolle. Ich war etwas verwundert, denn ansonsten war er ein Mensch, der alles monatelang im Vorhinein plante. Eine solche Spontaneität passte einfach nicht zu ihm."

    „Warum wollte er ausgerechnet nach Zürich?"

    „Keine Ahnung. Er sagte, er wolle ein paar Tage mit mir allein sein. Und damit seine Frau und seine Kollegen keinen Verdacht schöpften, würde er ihnen erklären, dass er eine Woche zum Entspannen in die Berghütte seiner Tante fahre."

    „Und dort wollten Sie sich auch treffen."

    „Genau. Wir wollten dort seinen Wagen stehen lassen und mit meinem weiterfahren."

    „Aber, was wäre denn gewesen, wenn sich irgendjemand entschlossen hätte, ihn dort überraschenderweise zu besuchen?" fragte Georg interessiert.

    „Das war so gut wie ausgeschlossen, denn sein ganzes Umfeld, einschließlich seiner Frau, wusste nicht, wo die Hütte genau lag."

    „Mit anderen Worten, der mutmaßliche Mörder muss ihm schon von Wien aus gefolgt sein. Ganz schön mühsam. Je länger Georg darüber nachdachte, um so absurder schien ihm die ganze Geschichte. „Dass niemand den genauen Platz der Hütte kannte - das behaupten Sie. Vielleicht hat er es doch noch jemandem erzählt, dann hätte dieser Jemand schon auf ihn warten können.

    „Ja, das ist möglich, gab sie zu. „Aber dann muss er vor der Hütte gewartet haben, denn es gab nur einen Schlüssel, und den hatte Wilhelm. Das weiß ich genau.

    „Aber wenn ich mich recht erinnere, sagten Sie mir doch, dass die Hütte verschlossen gewesen sei, als Sie ankamen."

    „Das war sie auch. Und eben das verstehe ich nicht. Er hat mich noch von seinem Handy aus angerufen, um mir mitzuteilen, dass er sich mittlerweile am Traunsee befinde und ich jetzt von Wien aus starten solle."

    Georg strich sich die Haare aus der Stirn. „Wie lange braucht man von Wien nach Bad Ischl?"

    „Das kommt darauf an, wie schnell man fährt. Ich habe jedenfalls vier Stunden gebraucht."

    „Also hatte er jede Menge Zeit, in der Gegend herumzuwandern, sagte Georg und sah sie fragend an, doch Sybilla schüttelte heftig den Kopf. „Niemals. Er hatte schreckliche Höhenangst. Das habe ich Ihnen doch schon erzählt. Am Telefon hat er mir noch gesagt, dass er sich einige Akten mitgenommen hätte, die er noch bearbeiten wollte. Und das wollte er bei einer Tasse Kaffee in der Hütte machen. Ihre Stimme wurde drängend, „so glauben Sie mir doch, er ist nicht freiwillig spazieren gegangen."

    „Also, ich weiß nicht ... Georg sah sie zweifelnd an, „bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber das alles hat mich noch immer nicht überzeugt. Jeder Mensch kann doch seine Meinung ändern. Vielleicht ist er bei der Arbeit nicht weitergekommen und wollte ein bisschen frische Luft schnappen.

    „Und dabei entfernt er sich, trotz seiner wahnsinnigen Höhenangst, einen Kilometer von seiner Hütte und wagt sich soweit vor, dass er dabei abstürzt?"

    „Ja, es könnte doch sein, dass er in Panik geraten ist und nicht weiter wusste. Und in den Bergen kann ein Fehltritt tödlich sein. Für Georg schien diese Erklärung durchaus plausibel, doch Sybilla schien davon ganz und gar nicht überzeugt. Sie beugte sich nach vorne und stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch. Dabei sah sie ihn eindringlich an. „So war es nicht. Da bin ich sicher. Sie trank ihr Glas leer und deutete dem Kellner, ihr noch eines zu bringen. Irgendwie wurde Georg das Gefühl nicht los, dass sie ihm nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte. Sie wusste noch etwas, von dem sie scheinbar wollte, dass er es nicht erfahre. Zweifelsohne würde sie es jetzt abstreiten, wenn er sie darauf anspräche. Also blieben ihm nur zwei Möglichkeiten. Er bekundete Interesse und versuchte, es im Laufe der Recherche herauszubekommen, oder er ließ die ganze Angelegenheit auf sich beruhen und würde es nie erfahren. Er überlegte nur kurz. Was hatte er schon zu verlieren? Es wäre nicht seine erste Story, die vielversprechend angefangen und sich nach kurzer Zeit in Luft aufgelöst hätte.

    Er winkte dem Kellner und bestellte sich ebenfalls ein zweites Glas. „Nehmen wir also an, ich stimme mit Ihren Vermutungen überein. Was sollen wir dann Ihrer Meinung nach tun? Wen haben Sie in Verdacht?"

    Sie sah ihn überrascht an, „soll das etwa heißen, Sie werden mir helfen?"

    „Aber nur unter einer Bedingung."

    „Und die wäre?"

    „Dass, sobald jegliche Verdachtsmomente für mich entkräftet sind, ich aufhören darf herumzuschnüffeln. Egal, ob Sie der gleichen Ansicht sind oder nicht. Abgemacht?"

    „Abgemacht." Zum ersten Mal an diesem Abend flog ein Lächeln über ihr Gesicht. Langsam begann Georg den verstorbenen Dr. Karner zu verstehen. Wenn sie lächelte, war Sybilla Behrens eine außergewöhnlich attraktive Frau.

    Obwohl es ein anstrengender Tag gewesen

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