Rückblicke: Ein barfüßiger Gelehrter erinnert sich
Von Walter Thirring
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Buchvorschau
Rückblicke - Walter Thirring
lacht.
1
Scharlach und Diphtherie
Meine Kindheit verlief wohlbehütet, doch ich war ein ängstliches Kind. Echte Todesgefahr gab es in meiner Umgebung zwar nicht, aber da ich mit einer blühenden Fantasie ausgestattet war, erfand ich so allerlei. Ich las viel und vermischte Wirklichkeit und Märchen. Ein Buch über Kannibalen hatte mich zum Beispiel außerordentlich beeindruckt und geängstigt.
In Kitzbühel, wo wir zeitweise wohnten, geschah es einmal, dass mich meine Eltern an der Bahnstation zum Hahnenkamm vorausschickten, um die Seilbahnkabine aufzuhalten, bis sie beide kämen. Flink lief ich los, aber im nächsten Moment verließ mich angesichts der vielen fremden Menschen die Courage. Daher blieb ich plötzlich stehen und rief zur Erheiterung der Umstehenden voller Angst: »Gibt es hier Menschenfresser?«
Neben Menschenfressern faszinierte mich aber auch das weite Feld der Medizin. So hatte ich von den »Infektionskrankheiten« Scharlach und Diphterie gehört und dass man dabei fürchterliches Fieber bekäme. Die Fieberskala sei nach oben beschränkt, und sobald man die 42 erreicht habe, sei man tot.
Solche Horrorvorstellungen sind uns heute natürlich fremd, die Angst vor Infektionskrankheiten ist aus der Mode gekommen, und Scharlach, Diphterie und Konsorten rangieren nur noch knapp vor dem harmlosen Schnupfen. Damals stellten sie jedoch echte Bedrohungen dar. Durch Diphtherie hatte ich sogar einen Onkel verloren. Wie damals häufig der Fall, war auch bei meinen Großeltern eines von vier Kindern an Diphterie gestorben, und obwohl ich diesen Onkel natürlich nie gekannt hatte, lebte er in meiner Fantasie weiter. Gerade Angstvorstellungen haben mich als Kind lange verfolgt.
Sobald ich gelesen hatte, dass ein Kreuzotternbiss ein qualvolles Ende bedeutet, bildete ich mir die Symptome schon ein, wenn ich mich im Wald nur an Brombeeren geritzt hatte. Meine Hand schwoll an, und die Stichwunden brannten höllisch. Dies hörte erst auf, als ich eine echte Kreuzotter zu Gesicht bekam und feststellte, dass sie lieber wegschlängelt als angreift.
Ebenso intensiv plagte mich die Einbildung, in ein Pilzgericht, das Mama einmal servierte, wäre ein Knollenblätterpilz hineingeraten. Bei einer solchen Vergiftung treten nämlich die Symptome erst viel später auf. Die Angst davor raubte mir jedenfalls dann in der Nacht den Schlaf.
Meine Fantasie jagte mir aber nicht nur allerlei Ängste ein, sondern sie machte mich auch total verlogen. Auf die Frage, warum ich unseren Hausarzt nicht möge, sagte ich einfach, um der Wahrheit auszuweichen: »Der hat ja so einen Bart.« In Wirklichkeit waren mir aber seine umständlichen Fragen über meinen Gesundheitszustand ein Greuel.
Er machte sich bei mir auch nicht beliebter, als er mit der Diagnose daherkam, ich hätte Scharlach, und mich ins Spital einwies. Ich war damals ein Knirps von vier Jahren, und es war das erste Mal, dass ich aus meinem elterlichen Nest gestoßen wurde. Entsprechend groß war mein Jammern. Mein Vater aber sagte nur: »Vorschrift ist Vorschrift! Da kann man nichts dagegen tun.«
Nun war die Vorschrift für kleine Kinder doch etwas hart, immerhin wurden sechs Wochen Spital mit zwei Wochen Quarantäne verordnet, sodass meine Mutter Mitleid zeigte. Sie traf Vorkehrungen, dass sie bei mir im Zimmer übernachten konnte. Während der Zeit, als hohe Ansteckungsgefahr bestand, war dies allerdings nicht mehr gestattet, und sie musste wieder zurück nach Hause übersiedeln. Mir blieb dann nur mehr Schwester Martha.
Diese kam immer in ihrem geistlichen Gewand, was nicht nur aus einem züchtigen Rock bis zum Boden bestand, sondern auch aus einer ausladenden Halskrause, die weit über die Brust hinunterreichte. Da aber ein Vorbau nur aus Stoff nicht die Fasson behielt, musste derselbe mit Zelluloid gestärkt werden. Durch diese Aufmachung war ein innigerer Kontakt mit ihr gar nicht möglich, und 14 Tage nur Schwester Martha waren für mich ein Horror. Auf die Frage: »Warum magst du sie nicht?«, sagte ich nur: »Die ist ja aus Zelluloid.«
Aber auch sechs Wochen gehen vorüber, und ich kam geläutert und etwas abgehärtet gegen Schicksalsschläge wieder aus dem Spital.
Das nächste Unheil nahte jedoch bereits in Gestalt von Diphtherie. Das war allerdings erst ein Jahr später, und ich war schon etwas tapferer. Außerdem dauerte der Spitalsaufenthalt diesmal nur zwei Wochen, und statt der zelluloidenen Schwester leistete mir eine kleine Freundin Gesellschaft und las mir vor. Zusätzlich schöpfte ich Mut aus dem Gerücht, Scharlach und Diphtherie könne man nur einmal bekommen, dann sei man immun. Ich war daraufhin geradezu stolz, diese Klippen umschifft zu haben und nicht mehr daran denken zu müssen. Eine weitere Tücke des Schicksals schien damit abgewendet. Aber es sollte nicht das Gerücht recht behalten, sondern Wilhelm Busch: »Denn auch hier wie überhaupt, kommt es anders als man glaubt.«
In den nächsten zehn Jahren brauste Hitler wie