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Nächstes Jahr in Baden-Baden: oder: Die Vorkosterin
Nächstes Jahr in Baden-Baden: oder: Die Vorkosterin
Nächstes Jahr in Baden-Baden: oder: Die Vorkosterin
eBook352 Seiten4 Stunden

Nächstes Jahr in Baden-Baden: oder: Die Vorkosterin

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Über dieses E-Book

Das "Alter auf Probe" oder der "Luxus der Langsamkeit": Nach einem Unfall zur Wiederherstellung in einer sogenannten Seniorenresidenz in Baden-Baden untergeschlüpft, berichtet die Erzählerin in diesem ebenso heiteren wie nachdenklichen Roman, wie sie mit ihrer auf kurze Zeit anberaumten Eingliederung in eine Lebensgemeinschaft des betreuten Alters fertig wird. Das Alter auf Probe. Sie könnte jederzeit weg, wenn sie wollte. Aber der neue Zufluchtsort hält sie magisch fest. Und dabei wird ihr ganz langsam und unterschwellig auch bewusst, dass eines Tages kein Entrinnen mehr möglich sein wird, dass der Tod unausweichbar ist. Besser, man freundet sich mit ihm an. Dahin aber ist noch eine Weile. Und so lässt sie sich Zeit, den aparten Schauplatz und seine Bewohner zu erkunden. Das ungewohnte Milieu inspiriert die Neue, die eigentlich in ihren stressigen Beruf zurückkehren möchte, dass sie unversehens Geschmack findet am Luxus der Langsamkeit und eines kontemplativen Lebensstils - lauter Sonntage eben. Das alles kommt charmant, heiter und selbstironisch daher und ist doch voll Tiefgang und Melancholie, bedeutungsvoll selbst im Alltäglichen. Ein großes Buch über das Altern und eine bewegende Lektüre für alle Generationen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Jan. 2013
ISBN9783954570034
Nächstes Jahr in Baden-Baden: oder: Die Vorkosterin

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    Buchvorschau

    Nächstes Jahr in Baden-Baden - Loni Skulima

    Impressum

    Loni Skulima: Nächstes Jahr in Baden-Baden oder Die Vorkosterin

    Copyright by AQUENSIS Verlag Baden-Baden 2011

    Alle Rechte vorbehalten. Jede Verbreitung, auch durch Film, Funk, Fernsehen, photomechanische Wiedergabe jeder Art, elektronische Daten, im Internet, auszugsweiser Nachruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsunterlagen aller Art ist verboten.

    Auf Wunsch der Autorin wurde die Rechtschreibung in der Fassung der ersten Auflage (1998) belassen.

    Umschlagfoto: Bernd Weigel

    Satz: Schauplatz Verlag & Werbeagentur, Baden-Baden

    1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

    ISBN 9783954570034

    www.aquensis-verlag.de

    www.baden-baden-shop.de

    Loni Skulima

    Nächstes Jahr

    in Baden-Baden

    oder Die Vorkosterin

    AQUENSIS

    R o m a n

    Inhalt

    Cover

    Impressum

    Titel

    Inhalt

    Über Autorin

    Augenschein

    Die roten Knöpfe

    Hineingeschleudert

    Frühlingsfeier

    Die Stunde der Begegnung

    Lauter Sonntage

    Freiheit und Verzicht

    Neben der Zeit

    Zweitausend Jahre Alter

    Lust an der Gesundheit

    Wir waren nicht alle reich

    Kick aus Askese

    Ein ganz gewöhnlicher Tag

    Einmal die Woche

    Emanzen und Greise

    Etwas zum Liebhaben

    Unterm Damoklesschwert

    Singles

    Sommerfest

    Spagat

    Zweite Blüte

    Kontrapunkt: Der Tod

    Und zerplatzt die Kaper

    Spreu und Weizen

    Die Vorkosterin

    Das Rebland um uns

    Janus

    Sinnsuche

    Intelligente leben länger

    Umzug

    Das letzte Zimmer

    Reisende soll man nicht aufhalten

    Ein Tag, ein Jahr

    Der Chor der Tragödie

    Auf der Schwelle

    AQUENSIS Bücher

    Loni Skulima,

    geboren in der Pfalz, hat in Heidelberg und München Germanistik, Kunstgeschichte und Anglistik studiert. Sie veröffentlichte Gedichte, Landschaftsbücher und Essays. Mit Mann und Sohn lebte sie in Heidelberg, wenn sie sich nicht gerade beruflich in der Welt umsah. Nach einem Unfall ging sie zur Regeneration nach Baden-Baden und blieb.

    Augenschein

    Die roten Knöpfe

    Beim Betreten des Speisesaals versuchte ich mein Humpeln zu verbergen. Die schon an den kleinen Tischen saßen, meist Damen in hellen Kleidern und mit frisch geplusterten Frisuren, folgten mir in diskreter Neugier mit ihren Augen. Ich spürte, daß sie mir nachsahen, auch wenn sich ihre Haltung nicht änderte, während ich mit verbindlich geneigtem Kopf dem mir zugewiesenen Platz zustrebte.

    Ich kannte noch keinen, keiner kannte mich. Ich war eine Neue, eine kleine Sensation unter den obwaltenden Umständen. Ein neues Gesicht tauchte wohl selten hier auf. Nur einem Verschwinden, das meist ein Ableben war, konnte ein Zugang folgen. Denn jeder Tisch wie auch jedes Bett unter diesem Dach waren besetzt. Ich würde von Glück sagen können, wenn mich das Haus zwischen zwei Lebenslänglichen aufnahm nach dem Unfall, der mich niedergestreckt hatte. Nach ein paar Monaten Krankenhaus suchte ich eine Stätte, an der ich in Ruhe und möglichst kurzer Zeit vollends genesen und den Rückweg ins tätige Dasein finden könnte.

    Mein Einzug in den Speisesaal war mir auf eine unerklärliche Weise bedeutsam. Dies war schließlich kein Hotel, da hätte ich mich ausgekannt. Wer mochten die Nachbarn sein, und würde man auch mal bei diesem täglichen Mittagessen ein Wort miteinander wechseln? Es herrschte Schweigen. Der Oberkellner eilte mir entgegen, komplimentierte mich an meinen Tisch, rückte den Stuhl, goß den Saft ein, für den ich mich statt der Suppe entschieden hatte, wies auf das Salatbüfett. Die Kellnerin, die das Revier hatte, brachte mir das Menü, das ich angekreuzt hatte.

    Während ich die Bissen zum Mund führte, beobachtete ich meinerseits unbewegt die Eintretenden. Einige mühten sich an allerlei Gehhilfen, an Krücken oder Stöcken oder gar an einem Rollwägelchen aus blitzendem Chrom, das sie dann am Tisch möglichst unauffällig parkten. Meinem in der Rehabilitation geschärften Blick entging nicht das gewisse Täppeln bei denen, die von Krankheit oder Alter gezeichnet waren.

    Zwischen den Tischen flatterte da und dort ein Wort der Begrüßung auf oder eine Bemerkung über das Essen, das man gerade einnahm, das Wetter oder irgendeine Veranstaltung, leicht, zwitschernd. Als ich nach dem Dessert aufstand, fingerte ich erst einmal nach meinem Handtäschchen, nestelte ein bißchen daran herum, bis ich in der Hoffnung, daß mir meine Gehwerkzeuge nach dem Sitzen wieder gehorchen würden, den Abgang wagte.

    Mein Unfall lag schon Monate zurück. Die Krücken hatte ich zu Hause in die Ecke gestellt. Die Ärzte hatten mir versichert, daß das betroffene Bein, jetzt noch nicht ganz belastbar, mit der Zeit durch fleißiges Üben wieder stark würde und ich gehen könnte wie zuvor. Ich durfte mich glücklich preisen, eine so angenehme Unterkunft für die restliche Dauer meiner Wiederherstellung gefunden zu haben, und genoß mein Gastspiel heiter und unverbindlich. Natürlich bemerkte ich, daß auch ich von den ständigen Bewohnern begutachtet wurde. Sie konnten ja nicht wissen, wie bald ich wieder das Weite suchen würde.

    Zu diesem Zeitpunkt meines auf ein paar Wochen der Rekreation berechneten Aufenthaltes wandte ich viel Sorgfalt darauf, den Anschein eines unbeschädigten Körpers und eines leichten Schrittes zu erwecken. Wie schon in den Wochen davor in der Klinik, als ich in Gips von Fußsohle bis Hüfte die ersten mühsamen Gehversuche unternommen hatte, war es mir eine gewisse Erleichterung zu bemerken, daß ich mich in meinem durch einen Schlag von außen verursachten und nun doch in der Erwartung von Heilung überschaubar gewordenen Elend ein wenig abhob von jenen anderen Leidenden, die ihre unsicheren, kleinen Schritte wahrscheinlich einem Schlag im Inneren zuzuschreiben hatten. Daß ich meinem Kopf noch trauen konnte, suchte ich mir mit ängstlicher Beflissenheit zu beweisen.

    Bei meinem Gastbesuch im Speisesaal konnte ich noch nicht wissen, wie wichtig der Anschein der Beweglichkeit tatsächlich in diesem Haus war; daß ich nur wegen meiner Gehfähigkeit schon in den nächsten Tagen von der einen und anderen Bewohnerin als mögliche Gefährtin ausgeguckt werden würde, als eine, die man zum Spaziergang einlud oder auch zu einer Unternehmung der freien Abendgestaltung, einer Theateraufführung oder einem Restaurantbesuch.

    Die sogenannte Residenz, in die ich einziehen wollte – auf kurze Zeit, wie es mir die Betreiber ausnahmsweise gestattet hatten –, war ein Euphemismus, wenn er auch ein recht ansehnliches Ensemble umschrieb. Sie unterschied sich von den Hotels in aller Welt, in denen ich, da reiselustig, schon gelebt hatte, auch von den Krankenhäusern, die ich kennengelernt hatte, von den Sanatorien, in denen ich recherchiert oder regeneriert hatte, und von der Rehaklinik, aus der ich geradenwegs hierher kam: Sie war der Ort einer schicksalhaften Endgültigkeit. Die hier Wohnung genommen hatten, dachten nicht mehr daran, noch einmal fortzuziehen. Sie blieben in aller Regel auf Lebenszeit, so sagte es auch der vorgedruckte Mietvertrag. Ich genoß meine Auffangstation insgeheim voll pfiffiger Freude. In der Ruhe der Genesungszeit konnte ich ganz nebenbei eine Vorleistung auf ein späteres Thema erbringen. Wenn ich einmal eine Bleibe für den eigenen Lebensabend würde suchen müssen, so hatte ich hier schon einmal Gelegenheit, den Rahmen des Altenlebens zu studieren. Zu gegebener Zeit würde ich mich daran erinnern. Das hatte noch Zeit, ein Jahr oder zehn. Noch war ich keine Greisin.

    Das Haus hatte bessere Tage gesehen. Es war einmal eines der renommierten Grandhotels des weltberühmten Kurorts Baden-Baden gewesen, damals, zu beider Zeit. Im immer noch wundervollen alten Kurpark am kleinen Fluß Oos, dem auch die immer noch weltberühmte Lichtenthaler Allee folgte, döste es nun behäbig vor sich hin, ein richtiges riesenhaftes Bijou aus der Belle Epoque. Seine exquisite Lage in seinem eigenen großen Park mit ehrwürdigen und seltenen alten Bäumen umgab den doch etwas verbleichenden Glanz des mächtigen Baukörpers aus der Jahrhundertwende mit der Noblesse eines Ambiente von kunstvoller Natürlichkeit.

    Noch prangte an einem kleinen Turm über dem Dach der Name des ehemaligen Hotels. BELLERIVE stand in großen Buchstaben über alle Seiten des viereckigen Sockels hinweg zu lesen, abends neonerleuchtet, man hatte von allen Himmelsrichtungen leicht herfinden können. Die Leuchtschrift da oben war auch jetzt hilfreich, wenn man als Neuling mit dem Wagen heranstrebte. Trotz des nahe mündenden Umgehungstunnels war das Straßengefüge der alten Stadt noch immer verwirrend.

    Nun also Bellerive. Es klang verheißungsvoll wie eine Botschaft, ein Signal; als lockte endlich ein schönes Ufer nach ungewisser Fahrt. Den Fremden, der diesen Fluchtpunkt erreichte, mochte es wohl umgetrieben haben auf den Meeren des Schicksals und der Zeit, des Kriegs und des Friedens. Hier schließlich steuerte er Rettung und Wohnsitz an.

    An einer der Säulen der Parkeinfahrt war ein dezentes Schild angebracht, das von der Umwidmung des Hauses Kenntnis gab. Wer von den Vorübergehenden hätte nicht spornstreichs eintreten wollen, sich hier einer Bleibe für den Bedarfsfall zu versichern. Die Unterweisung setzte sich im Inneren fort beim Anblick des Foyers und der weitläufigen Gesellschaftsräume, von denen ich schon einige kennengelernt hatte. Man hatte mir auch schon berichtet, daß der einstige Besitzer des Hotels, alt geworden, aus Unlust, die notwendigen Modernisierungen ausführen zu lassen, sein Haus an eine Immobiliengesellschaft verkauft hatte, die es für etliche Millionen nach dem Bauherrenmodell in kleine Eigentumswohnungen umwandelte. Davon konnte man sich eine kaufen oder mieten, um darin ein auf kleinen Raum reduziertes, aber von Hilfskräften betreutes Leben zu führen.

    Nach meinem kurzen Hineinschnuppern glaubte ich schon feststellen zu dürfen, daß aus dem veralteten Hotel ein modernes Servicehaus geworden war, und das im noblen Gewand eines Baudenkmals. Das Wohnen in den eigenen vier Wänden war schmackhaft gemacht durch ein stets abrufbereites, normalerweise unsichtbares Heer dienstbarer Geister. Die hielten sich bereit auf der Etage, arbeiteten in der Küche und in der Wäscherei, erschienen zum Putzen in der Wohnung, warteten auf im Speisesaal und im Café, das an den Nachmittagen für die Allgemeinheit geöffnet war. Das menschliche Instrumentarium wird wohl ein reibungsloses Zusammenleben so vieler vorwiegend alter Menschen garantieren.

    Der halbrund in den Park vorspringende Speisesaal, der mir bei meinem ersten Besuch so großen Eindruck gemacht hatte, übte seinen Zauber aus, sooft ich ihn betrat. Es lag auch an den kleinen quadratischen Einzeltischen, an denen stets nur ein Speisender saß. Man durfte auch bei Tisch mit sich allein bleiben, konnte seinen Gedanken und Beobachtungen nachhängen, die Speisen ohne Geplapper genießen. Kein Zwangskontakt zu fremden Menschen, die man sich nicht ausgesucht hatte. Die miteinander befreundet schienen, hatten doch ihre getrennten Tische beibehalten. Auch wer schrullig daherkam, wurde respektiert. Das gefiel mir. Konversation konnte man nach Tisch bei einer Tasse Kaffee in dem nebenanliegenden Kaminzimmer machen, wenn man es wollte.

    Die Rezeption war besetzt wie bei einem richtigen Hotel. Die Angestellten spritzten auf, sobald die Türe ging, um den Eintretenden mit einem Lächeln und mit seinem Namen zu begrüßen, sie sprangen hilfsbereit herzu, wenn es eine Tasche abzunehmen gab, holten den Fahrstuhl herab. Wenn Post einging, so wurde sie hier in die Fächer verteilt. Man konnte sich um Auskünfte hierher wenden und man durfte hoffen, sobald man nach dem Einzug den Rezeptionisten bekannt sein würde, auf Wunsch wohl auch einmal abgeschirmt zu werden. In der eigenen Wohnung würde man die Vorzüge eines Hotels genießen.

    Der Fahrstuhl übrigens war eine kleine Köstlichkeit, die mir sogleich gefiel. Seine warme Nußbaumtäfelung war mit weich geschnitzten Girlanden geschmückt, unter dem lebensgroßen Spiegel stand eine samtbezogene Sitzbank, alles in allem eine schatullenhaft ausgezierte Kabine aus der Entstehungszeit des Hauses, die gemächlich die Stockwerke überwand. Ohne den Fahrstuhl hätte ich mit meinem beschädigten Bein nicht hierher gekonnt. Mittlerweile hatte man mir ein freigewordenes Gästezimmer im vierten Stock angeboten, wie es zur sogenannten Kurzzeitpflege zur Verfügung stand.

    Ein Haus aus der guten alten Zeit. Das Klischee stieg auf, als ob die Zeit, die alte, gut nur deshalb gewesen wäre, weil sie vergangen ist. Ist sie nur in unserer Erinnerung, die sie verklärt, gut? Auch dies denkmalwürdige Haus, das wie ein Sinnbild der Vergangenheit dasteht, hat zwei Kriege erlebt und eine schmachvolle Zeit der Diktatur, die wir nur zu gern vergessen möchten. Auch für braune Bonzen ist hier einmal der rote Teppich ausgerollt worden. Jetzt ist unsere Zeit. Wir haben eine gute neue Zeit, schon lange Frieden in Europa. Wenn wir es nicht zu einem Krieg kommen lassen, werden unsere Nachfahren diese unsere Zeit vielleicht einmal als eine gute alte preisen. Behagen steigt aus dem alten Bauwerk auf. Ich danke dem Zufall, der mich hierhergeführt hat.

    Mit dem Stolz des Entdeckers hat mir Martin die Annehmlichkeiten des Altenheims gezeigt, das sich ein wenig großspurig Residenz nennt.

    „Das schönste Haus, das weit und breit zu finden ist, hat er gesagt, „ganz Dein Stil.

    Er hatte Erkundigungen eingezogen, hatte Freunde befragt, die ebenfalls Mütter hatten unterbringen müssen. Der Lebensraum der Familien ist heute so knapp zugeschnitten, so rationell durchgeplant, daß eine zusätzliche Einquartierung auf längere Zeit nicht zumutbar wäre. Nicht in einer Stadtwohnung und schon gar nicht bei Weltstädtern und Globetrottern, die ihr Beruf umtreibt über Land und Meer in andere Mittelpunkte des Geschehens und der Branchen, wo sie Zweitwohnsitze haben.

    Auf Wochen und Monate war der Sohn fern, nur durch einen Anruf gelegentlich herzklopfentreibend mit seiner Stimme bei mir. Wollte da eine Mutter Unterschlupf finden bei Kindern, die meist abwesend waren? Wollte sich einund unterordnen in fremden Gewohnheiten gerade dann, wenn sie, verwitwet und jetzt durch einen Unfall aus der Berufsbahn geworfen, zum ersten Mal Zeit vor sich sah, die ihr selbst gehören würde? Zwar war es eine unfreiwillig freie Zeit, durch einen Schicksalsschlag aufgenötigt und mit der Auflage belastet, das Weiterleben zu erlernen. Aber sie hatte die Chance einer neuen Selbständigkeit in ihrem Schoß. Die Genesende hatte sogar wieder an Reisen gedacht. Ja, wenn die Kinder Kinder gehabt hätten. Dann hätten die Haushalte größeren Zuschnitt, dann wäre vielleicht alles anders gekommen.

    „Rana ..." Martin hob bedeutsam die Stimme. Ich hob die Augen.

    „...sub mensa?" Die Mutter antwortete sofort, ohne Überlegung; Martin wollte sich ausschütten vor Lachen, daß sie nach Jahrzehnten die Worte eines Spiels aus seiner Kindheit parat hatte. Er hatte ein Päckchen unterm Tisch deponiert, das aufzuspüren einem Ritus von damals folgte.

    Als der kindliche Lateiner ein paar Tage nicht zur Schule hatte gehen können, hatte ihm seine Mutter einmal auf den Zahn fühlen wollen. Sein Wortschatz war noch beschränkt gewesen. Aus den schon durchgenommenen Vokabeln hatte sie einen Satz gebastelt: „Rana sub mensa habitat", was halt heißt: „Der Frosch wohnt unter dem Tisch."

    „Aber, Mama, das tut doch kein Frosch." Mein Wunderkind war schon beizeiten ein selbständiger Denker gewesen und gewohnt, Zweifel, so er sie hatte, freimütig zu äußern.

    „Sieh nach!"

    Ein kleiner Marzipanfrosch hatte als Übungstier unter dem Tisch Platz genommen. Der Zehnjährige hatte ihn staunend hochgehoben, berochen und verspeist. Verwöhnt war er ja nicht gewesen, ein Nachkriegskind. Das Haus in Heidelberg war für amerikanische Offiziere von der Besatzungsmacht beschlagnahmt gewesen wie alle Häuser, die über Zentralheizungen und Bäder verfügten. Wir waren kläglich untergekommen in „bewirtschaftetem Wohnraum" bei Leuten, die unseretwegen noch enger hatten zusammenrücken müssen. Der Konditor hatte eben erst begonnen, aus Surrogaten friedensmäßig aussehende Süßigkeiten herzustellen. Bunte Frösche aus Ersatzmasse, reihenweise. Der Rana-Spaß war gelegentlich wiederholt worden.

    Leider gab es mit Enkeln solche Spiele nicht. Es gab keine Enkel. Die Mutter durfte ein Präsent aus derselben Heidelberger Konditorei unter dem Tisch hervorziehen, die damals die Frösche gemacht hatte.

    Martin machte mir ein Kompliment zu meinem Gedächtnis. Wenn die Umgebung über ihre Erinnerungsfähigkeit staunt, merkt eine alte Mutter, daß man nicht mehr viel von ihr erwartet.

    Der Sohn hat seinen Weg gemacht. Nun wollte er seiner Mutter, die verunglückt war, die angenehmste Wiederherstellung ermöglichen, die er für Geld kaufen konnte. Einen Vater gab es nicht mehr.

    „Philemon und Baucis" hatten seinen Vater und mich unsere Freunde genannt, und wir hatten uns nicht vorstellen können, ohne einander zu leben. Auf beinahe fünfzig Jahre Ehe hatten wir es gebracht, die beiden Jahre davor nicht gerechnet. Ovids Metamorphose in Bäume hatte uns gefallen. Ineinander rauschen dereinst, wenn es mit der menschlichen Gestalt vorbei war, ist eine akzeptable Vorstellung gewesen. Mit der Gleichzeitigkeit des Todes, wie sie sich Ovids Alte als Göttergeschenk erbeten hatten, war es ja nun nichts. Philemon war vorausgegangen. Die Statistik gab mir noch ein paar Jahre. Wir hatten keinen Adressaten mit Wünschen für den letzten Dienst belästigt. Die Bestattung zur Erde fanden wir in Ordnung. Ein Boden für Bäume, nichts natürlicher als das.

    Sollte ich mich nun gekränkt fühlen wegen der vorübergehenden Umsetzung in ein Heim, da ich für ein paar Wochen auf ein wenig Entlastung angewiesen war? Sollte ich womöglich abgeschoben werden auf meine alten Jahre? Ein Anflug von Abenteuerlust überkam mich. Aus Residenzen kann man fliehen. Der Entscheidung zum Bleiben gaben dann die roten Knöpfe den letzten Stups. Wo ich mich umsah, im Zimmer, im Bad, am Bett: Unter den Lichtschaltern waren unauffällige rote Klingelknöpfe angebracht.

    „Wenn Sie drücken, kommt eine Krankenschwester, um nach Ihnen zu sehen", sagte die rothaarige Schönheit, die mich führte. Sie entpuppte sich später als die allmächtige Geschäftsführerin, die an der Seite eines auf seine Weise ebenso allmächtigen männlichen Amtswalters das Etablissement so vortrefflich am Laufen hielt, daß es von Angehörigen, die sich vorher gründlich umgeschaut hatten, zum Genesungsort, wenn nicht zum letzten Aufenthalt ihrer Lieben erkoren wurde.

    Man hat Geschichten gehört von alleinlebenden Menschen, die gestürzt oder von irgendeinem Anfall heimgesucht worden waren und deshalb in ihrer Wohnung elendiglich verkamen, weil ja keiner draußen wissen konnte, daß hier Hilfe gebraucht worden wäre. Die roten Knöpfe gaben den Ausschlag. Sie sollten mir helfen, ohne eine neue Katastrophe den Weg in die Beweglichkeit zurückzufinden. Diese Schwelle mußte nicht die letzte sein.

    Hineingeschleudert

    Auf meinen Erkundungsgängen kam ich eines Nachmittags an der Bar vorbei. Sie liegt am Hauptgang gegenüber dem Speisesaal. Ich hatte bisher nur gelegentlich einen Espresso darin genommen. Jetzt wollte ich hineinschauen, prallte aber zurück, als ich sah, daß eine einzige, sichtlich zusammengehörende und angeregt plaudernde Gesellschaft eine Seite der Bar besetzt hatte. Einer der Herren sprang auf, nahm mir die Peinlichkeit des Starrens.

    „Sind Sie eine Neue? „Ach, nur eine Besichtigerin, sagte ich. „Dann werden Sie sicher bald bei uns sein", riefen einige durcheinander. Klang es schadenfroh? So als sprächen sie von einem Verhängnis, und ich wüßte es nur noch nicht? Ich war jedenfalls präsentiert. Ein Stuhl wurde mir untergeschoben, schon saß ich in der Runde, als gehörte ich dazu.

    „Wer hier neu bleibt, ist selber schuld, meinte einer der Herren übermütig, als wolle er meine Zugehörigkeit bekräftigen. Die Damen saßen entlang der Wand auf den schmalen, hohen Sofas, die so günstig für die Haltung sind, ihnen gegenüber zwei oder drei Herren in viel mehr Luft auf leichten Sesseln, alle zusammen etwa ein Dutzend Personen. Es war deutlich, daß die Herren schon kraft ihrer Seltenheit etwas Besonderes waren. Ich hatte en passant eine stehende Einrichtung kennengelernt, die mir als Umschlagplatz jeweils neuester Nachrichten und Gerüchte noch vertraut werden sollte. „Wir sind die Geselligen, rief der Herr, der den Ton angab, und ich hörte sehr wohl die Gänsefüßchen. Von einer Geselligen Runde hatte ich an der Pinwand gelesen. Das war sie also. „Jede Woche einmal, und zwar am Donnerstagnachmittag, schärfte man mir ein. „In der Bar sind wir unter uns.

    Eine Neue ist man längere oder kürzere Zeit. Sobald wieder ein Zugang kommt, meist weiblichen Geschlechts, ist dieser die Neue. Dann gehört die vorhergehende Neue zu den Eingesessenen, mit oder ohne Initiation. Ich vermerke mit Dankbarkeit, daß die Eingesessenen die Neue, die ich war, aufmerksam an die Hand nahmen.

    Eine der Damen, Bekanntschaft meiner ersten Stunden, kümmerte sich besonders um mich. Sie wurde nicht müde, mir Örtlichkeiten zu zeigen und Einrichtungen zu erklären: Frau Rosenrot, eine Erscheinung von schwerfälliger Imposanz, um die Achtzig, aber jugendlich getrimmt. Sie war Mitglied des fünfköpfigen Bewohnerbeirats, der sich um Mißstände kümmern sollte, aber so etwas gab es ja offenbar nicht. Es war schwer, von ihr loszukommen, nachdem sie einmal ihre wohltätige Hand auf mich gelegt hatte.

    Vorerst widmete ich mich der Aufgabe, das neue Ambiente zu erforschen. Über einen offensichtlich durch Umbauten entstandenen, mehrfach geknickten Korridor im Erdgeschoß geriet ich ins Schwimmbad, eine rechteckige, aber dennoch hübsche Anlage von stattlichen Ausmaßen.

    Voller Entzücken schaute ich durch die tadellos geputzte, in Türen gegliederte Glaswand auf den hinteren Teil des Parks. Ein alter, ein wenig bemooster Brunnen mit einer Knabengestalt auf der Säule begeisterte mich. Ich konnte von drinnen nicht sehen, ob der Kleine nach der Mythologie gebildet war, ein Apoll oder Amor vielleicht. Der von grünen Ranken umwimpelte Brunnen in diesem nicht gerade überpflegten abgelegenen Teil des Parks, den man von außen nicht einsehen konnte, schien mir der romantisch-schönste im ganzen Badeort, obwohl es den durch das Fernsehen berühmt gewordenen Drei-Schalen-Brunnen im Garten des Badischen Hofs gab, des trotz vielfacher Anbauten immer noch ein wenig kenntlichen Weinbrennerbaus, der einmal ein Kloster war. Unser Brunnen verströmte seine Anmut nur für uns.

    Das Wasser war angenehm temperiert, die Schwimmhalle leer. Ich holte meinen Badeanzug, um einzutauchen. Dies ging nicht ohne eine Erfahrung ab, die sich für Wochen danach als Trauma erweisen sollte. In der Euphorie ob der mir zu Gebote stehenden großen Wasserfläche sprang ich hinein, meine Unfallfolgen vergessend. Beim ersten Schwimmstoß fiel ich, von einem Schmerz im Knie durchzuckt wie von einem elektrischen Schlag, zu Boden. Natürlich raffte ich mich wieder auf. In dem nur brusthohen Wasser über den blauen Fliesen konnte man ja nicht untergehen. Aber von nun an machte ich einen Bogen um die Stätte meiner Demütigung, was mir der Umstand erleichterte, daß ich nach der Besichtigung des Etablissements wieder nach Hause zurückkehren würde.

    Nicht mehr ganz so selbstsicher erkundete ich nun das Bellerive. Ich sah mir immer wieder die Gemeinschaftsräume an, die Kaminhalle, das Musikzimmer, die meist leere Bar, den Vortragsraum, in den auch die örtliche Volkshochschule, wie ich hörte, bisweilen einen Vortragsredner mit seinen Dias schickte. Aber nichts ereignete sich, nichts veränderte sich, solange ich da umherging, natürlich nichts. Eine etwas abgestandene, fade Sonntaghaftigkeit durchwaltete die pompösen Räume, die ein wenig schlecht gelüftet rochen. Die auf der Rückseite an das Hauptgebäude angebaute Pflegestation zu betreten, wo wohl mehr Leben hätte herrschen müssen, brachte ich nicht den Mut auf, falls ich überhaupt eingelassen worden wäre.

    Eine schmale alte Dame mit schütterem, eisfarbenem Haar sprach mich ein paarmal an, wenn sie sich aus der sogenannten Pflege ins Entree geschlichen hatte. Da saß sie gern auf einem der vergoldeten Empiresessel und bat mit einem zarten „Hallo" jeden, der vorübereilte, um die Uhrzeit, wahrscheinlich aus Bedürfnis nach Kommunikation, jeden, auch den nächsten ein paar Sekunden später. Diese hier ungehörig auffällige Person, die von den Angestellten nicht schnell genug hinwegkomplimentiert werden konnte, gab mir einen zu diesem Zeitpunkt keineswegs erwünschten Hinweis auf den Verfall, wie er in diesem Hause in der rückwärts versteckten Abteilung ebenfalls Unterschlupf suchte und wie er dereinst einmal auch auf mich zukommen könnte.

    Ich bemühte mich, mir die angenehmeren Seiten der Wohnanlage zu Gemüt zu führen, hielt mich mehrmals lang in dem von wohlgepflegten Kieswegen durchzogenen Park auf, in dem ich aber niemals Menschen traf. Nur eine streng aussehende Dame mit einem kleinen Dutt am Hinterkopf, die meinen Gruß nicht erwiderte, beschäftigte sich damit, an der prächtigen Schneeheide in den Pflanzschalen der Einfahrt Köpfchen abzuzupfen, die sie wohl für welk hielt. Sie ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Ich erfuhr später, daß sie wegen dieser nicht gern gesehenen Tätigkeit „Pflückerin" genannt würde. Ich bewunderte die Komposition der Bäume, die in der Abwechslung von Laub und Nadel selbst jetzt, im Winter, einen bezaubernden Zusammenklang abgaben, die aber auch durch klug geplante freie Stellen Durchblicke von großer Schönheit rahmten.

    Ich setzte mich in den langgestreckten steinernen Pavillon griechischer Bauart, in dem alljährlich, wie ich hörte, ein Sommerfest stattfand, und in die nach hinten gelegene luftige Rotunde, die, wie ich später erfuhr, eigens für die Pflegestation errichtet worden war, damit die „gesunden Alten nicht mit den „kranken Alten in Berührung kommen sollten. Aber auch hier sah ich niemals jemanden sitzen. Ich betrachtete die Mädchen- Skulpturen am Springbrunnen vor dem Haupteingang, der in der Mitte eines Rondells aus Rasen und Blumenbosketten saß, und schielte dabei nach den weniger ranken Gestalten, die an Stöcken und anderen Gehhilfen eben dieses Brunnenrondell im Schneckentempo umrundeten. Sie absolvierten wohl ein Mindestpensum an Bewegung, immer um den Brunnen herum. Ich schaute in den dunkel strömenden kleinen Fluß, der den Park gegen den öffentlichen Kurpark abgrenzte.

    Dieses stets schnell vorübereilende Wasser verstärkte eine Empfindung, die mich schon vorher beschlichen hatte: das Gefühl, auf einer Insel zu sein, auf einer gepflegten, fast luxuriösen, aber trotz der Ansammlung von Menschen ähnlicher Erwartungen einsamen Insel; einem Ghetto. Da drüben, jenseits des über seine Staustufen schnellenden Wassers, wandelte das alltägliche, das junge Leben vorbei: Einheimische mit Kinderwagen und sie umrundenden Trabanten, distinguierte Kurgäste, die in den Thermen Heil suchten. Hier aber, diesseits des Flusses, in der exklusiven

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